Zeitstrahl: Vergessene Geschichten
Die Frage der Restitution von Objekten aus kolonialen Kontexten ist heute eine der zentralen Fragen für Museen und darüber hinaus. Doch bereits 1976 setzte sich mit Herbert Ganslmayr ein deutscher Museumsdirektor für die Restitution von Raubkunst ein, ohne zu wissen, welche Wellen sein Engagement im Kulturbetrieb schlagen sollte.
1978 stand Peter Radtke, bis heute einer der sicherlich bekanntesten behinderten Schauspieler im deutschsprachigen Raum, das erste Mal auf der Bühne … doch dann mussten 25 bis 30 Jahre vergehen, bis ihm weitere Schauspieler*innen mit Körperbehinderung nachfolgen konnten.
Ende der 70er, Anfang der 80er wurde der Grundstein einer „Kultur für alle“ gelegt, auf die heutige Teilhabeforderungen häufig aufbauen, auch wenn sie aus diskriminierungskritischer Perspektive zum Teil Schwächen aufweist und Migration kaum berücksichtigt. Dabei gab es zu dieser Zeit bereits selbstorganisierte migrantische Kulturvereine und Ausstellungen wie „Mehmet Berlin’de. Mehmet kam aus Anatolien“ zeigten Werke türkeistämmiger Künstler.
1982 wiederum setzte das Festival Stern.Zeichen einen glamourösen Schlusspunkt für die Entwicklung einer genuin bundesdeutschen schwulen Theaterkultur und markierte zugleich einen Auftakt für die Entstehung dessen, was wir heute als Freie Szene begreifen.
Diesen und anderen vergessenen Geschichten widmet sich der Zeitstrahl.
Der mehrheitsgesellschaftliche Anspruch, wie divers künstlerische Praktiken und Künstler*innen sein sollen, die wir erinnern und auf die wir Bezug nehmen wollen, ist in den letzten Jahren zum Glück deutlich gestiegen. Dennoch findet durch Medien, Bildungs- und Kulturinstitutionen eine Auswahl statt, die gesellschaftliche Ausschlüsse wiederholt und Machtdynamiken fortschreibt.
In unserer Arbeit erleben wir immer wieder, dass es gerade in marginalisierten Communitys generationelle Wissenslücken bzw. große Leerstellen in der Tradierung von Geschichte, Kunst und Kultur gibt. Das hat viele verschiedene Ursachen. Manche Wissensbestände wurden durch Völkermord und Vertreibung vernichtet, andere waren unerwünscht, wurden tabuisiert oder schlicht ignoriert und nicht in öffentlich-finanzierten Archiven gesammelt.
Gleichzeitig ist der Diskurs im Kulturbetrieb von Wiederholungen geprägt, werden bestimmte Fragen wie z. B. die Rückgabe von Raubkunst oder Teilhabeforderungen bzw. Gleichstellungsforderungen schon lange und dabei scheinbar immer wieder von Null an diskutiert.
Deshalb haben wir uns mit unserem Zeitstrahl auf Spurensuche begeben: Wir haben uns von unserer eigenen Neugier und der unserer Autor*innen leiten lassen. Dabei war uns von Anfang an klar, dass wir keinen Anspruch auf eine bestimmte Systematik oder Vollständigkeit erheben. Stattdessen wollten wir Momente des Einschreibens und des Widerstands hervorheben, wollten unterschiedliche künstlerische Praxen beleuchten, kulturpolitische Debatten und Entwicklungen nachzeichnen und die Bewegungsgeschichte marginalisierter Communitys im Kulturbereich inklusive ihrer (Dis)Kontinuitäten sichtbar machen.
Dabei sind wir uns natürlich der Ironie unseres Vorhabens bewusst: Auch wir treffen eine Auswahl und sind angewiesen auf das, was bereits gesammelt wurde und noch erinnert wird. So gibt es beispielsweise einige Geschichten in unserem Zeitstrahl, die nur dank der Bestände des Archivs des Friedrichshain-Kreuzberg Museums erzählt werden konnten. Außerdem war es wesentlich schwieriger, die Geschichten von Künstler*innen zu recherchieren, die mehrfach marginalisiert sind. Oder anders gesagt: Es ist auffällig, dass z.B. die Geschichten von Künstlern mit Behinderung und von Künstlern of Color besser dokumentiert sind als die von Künstlerinnen, die von cis-Künstlerinnen und Künstlern besser als die von trans*, inter oder nicht-binären Künstler*innen usw.
Unser Zeitstrahl wird deswegen weiter wachsen: Er soll nicht nur umfassender werden, was die Anzahl der gesammelten Geschichten betrifft, sondern auch in tiefer liegende Schichten vorstoßen und nach und nach Perspektiven abbilden, die zum jetzigen Zeitpunkt verborgen bleiben. Wir hoffen, damit den Diskurs zu erweitern und schlaglichtartig Einblick in Geschichten, Themen und künstlerische Praxen marginalisierter Künstler*innen zu geben.
Redaktion: Bahareh Sharifi und Cordula Kehr
„Mehmet Berlin’de. Mehmet kam aus Anatolien“
Mit dem Anwerbestopp 1973 verändert sich die Thematisierungsweise des Migrationsdiskurses: Sie verschiebt sich vom „Gastarbeiter*innenproblem“ zum „Integrationsproblem“. Gleich mehrere Ausstellungen wollen sich dieser „Integrationsproblematik“ annehmen. Hierbei nimmt die Ausstellung „Mehmet Berlin’de. Mehmet kam aus Anatolien“ eine Sonderstellung ein. Sie stellt Überlegungen zu der ökonomischen, politischen und kulturellen Lage der Türkei an, zusammen mit türkischen Künstlern, Musikern und Autoren.
Ganslmayr und die moralische Verpflichtung zur Restitution
Mit Herbert Ganslmayr setzte sich 1976 der erste deutsche Museumsdirektor offen für die Rückgabe von Objekten aus kolonialen Kontexten ein. Bereits in den Jahren zuvor waren deutsche Museumsdirektoren immer wieder mit Rückgabeforderungen in Berührung gekommen, doch hatten die Völkerkundemuseen solche Anfragen bislang äußerst diskret behandelt und klar abgelehnt. In der deutschen Museumsethnologie wurde das Engagement des Bremer Kollegen als Alleingang wahrgenommen und erzeugte heftigen Gegenwind.
Kunstdiebstahl für türkische Einwanderer*innen in West-Berlin?
Ulays "Da ist eine kriminelle Berührung in der Kunst" stellte die Autorität der deutschen Kulturinstitutionen in Frage, indem sie auf deren Verwicklung in die gesellschaftliche Ausgrenzung von Einwanderer*innen aufmerksam machte. Achtunddreißig Jahre nach Ulays Kunstraub formulierte der Künstler Aykan Safoğlu eine künstlerische Intervention als Reaktion auf die Aktion.
Künstlerinnen international 1877-1977
Künstlerinnen international 1877-1977 ist die erste größere Ausstellung in Deutschland, die nur Kunst von Frauen zeigte. Diese Künstlerinnenausstellung war eine Intervention in die Ausstellungspraxis ihrer Zeit, in der Künstlerinnen in den Ausstellungen deutscher Museen aber auch weltweit massiv unterrepräsentiert waren. Mittlerweile liegt die Ausstellung über 45 Jahre zurück, dennoch hat sie Fragen aufgeworfen, die heute noch relevant sind und von den Rändern des Kulturbetriebs gestellt werden.
Peter Radtke – Einbruch der Realität ins Theater
1978 stand Peter Radtke, einer der bis heute sicherlich bekanntesten behinderten Schauspieler aus dem deutschsprachigen Raum, das erste Mal auf der Bühne. Er durchbrach damit eine Art Schallmauer für Schauspieler*innen mit Behinderung. Dennoch folgte ihm lange kein Mensch mit Behinderung auf die großen deutschen Bühnen nach. Es mussten nochmal ca. 25 bis 30 Jahre vergehen, bis vereinzelte Schauspieler*innen mit (Körper)Behinderung auf städtischen deutschen Bühnen zu sehen waren. Warum?
Im Hinterhof der Neuen Kulturpolitik
Die Stärkung von Teilhabe aller gesellschaftlichen Gruppen als Publikum öffentlich geförderter kultureller Angebote ist seit Jahrzehnten Kernaufgabe von Kulturpolitik und Kulturvermittlung – unabhängig von Einkommen und Freizeitbudget, von Herkunft und vermeintlichen Voraussetzungen wie Vorwissen und formaler Bildung. Dieser Text versucht, die etablierten und in der Mehrheitsgesellschaft akzeptierten Bezugspunkte für eine demokratische und teilhabeorientierte Kulturpolitik zu skizzieren. Denn auch heutige Versuche der Diversifizierung beziehen sich auf die Losung „Kultur für alle“.
Das Türkische Ensemble. Versuche eines migrantischen Theaters
1980 wurde „Giden Tez Geri Dönmez“ („Reisende kehren nicht wieder zurück“) in Berlin uraufgeführt. Die Produktion war ein Meilenstein und begründete ein neues Projekt innerhalb des Theaters: das Türkische Ensemble. Zu einer Zeit, in der die türkische Kulturproduktion in Westdeutschland langsam an Sichtbarkeit gewann, war das Projekt ein einzigartiger Versuch, ein großes türkischsprachiges Theater in Berlin zu entwickeln. Ein Blick auf die Geschichte des Projekts gibt uns einen Einblick in die Erwartungen, die damals an die kulturelle Produktion von Migrant*innen gestellt wurden, und die Schwierigkeiten, mit denen diejenigen konfrontiert waren, die sich dafür einsetzten, ihr in Deutschland Raum zu verschaffen.
„Ich klage an“ – Der Filmemacher Sohrab Shahid Saless
1981 schreibt der Drehbuchautor und Regisseur Sohrab Shahid Saless den Text „J‘accuse. Notizen im Exil“ und klagt die Ausschlussmechanismen der deutschen Filmindustrie an. Saless gilt als Impulsgeber des modernen iranischen Kinos. Obwohl seine Filme in Deutschland mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet werden, bekommen sie weniger Aufmerksamkeit als die Werke deutscher Regisseure mit gleichem Themenbezug. Wer war dieser Filmemacher, der entgegen aller Widerstände seine Kritik an der deutschen Gesellschaft und Filmbranche so klar äußerte?
„Lachen aus dem Ghetto“ – der Polynationale Literatur- und Kunstverein
Der 1981 gegründete Polynationale Literatur- und Kunstverein versammelte Autor*innen und Künstler*innen mit Migrationserfahrung, deren Texte, Grafiken und Illustrationen die Veränderungen in den Ausländergesetzen, der Gesellschaft und den literarischen Produktionsbedingungen thematisierten.
Für die Schriftsteller*innen ist es zu dieser Zeit nur in absoluten Einzelfällen möglich in deutschen Zeitschriften und Anthologien zu veröffentlichen. Übersetzungen sind zu kostspielig und werden nicht von Förderungen abgedeckt – ohnehin wird das Schreiben als unangemessene Tätigkeit für „Ausländer“ betrachtet.
Stern.Zeichen – Schwule Theaterszene auf der großen Bühne
Anfang der 1980er Jahre traf sich in Frankfurt die schwulenbewegte Theaterszene der BRD. Jeweils zwischen Weihnachten und Neujahr 1982 und 1983 fand dort das Festival „Stern.Zeichen“ statt, das im Untertitel „Homosexualität im Theater“ hieß. Diese beiden Festivals bildeten den glamourösen Schlusspunkt einer genuin bundesdeutschen schwulen Theaterkultur, die aus der westdeutschen Schwulenbewegung der 1970er Jahre heraus entstanden war, und die sowohl anklagend, aufklärend als auch lustvoll war.
Theaterskandal in Bad Hersfeld – die Proteste des Regisseurs Imo Moszkowicz
1983 sollte der jüdische Regisseur und Schoahüberlebende Imo Moszkowicz bei den Bad Hersfelder Theaterfestspielen inszenieren - während zeitgleich mit seinen Proben das Treffen einer ehemaligen SS-Gruppe in Bad Hersfeld geplant war. Trotz des Zuspruchs, den Moszkowicz erfuhr, bedeutete der Hersfeld-Skandal für ihn eine tiefe Krise und erschütterte offenkundig sein Selbstverständnis als Jude in Deutschland.
Kleine Schritte in die Einwanderungsgesellschaft
In den 1970er Jahren entstanden in der Bundesrepublik selbstorganisierte Vereine zugewanderter Menschen, die auch Kulturveranstaltungen organisierten. Sie wurden aber weder in der Mehrheitsgesellschaft wahrgenommen noch wurden kulturpolitische Förderstrukturen geschaffen, dieses Engagement zu unterstützen. Dieser Artikel geht auf eine Spurensuche nach den Anfängen kulturpolitischer Kooperationen zur Gestaltung der Realität (West-)Deutschlands als Einwanderungsland.
Zwischen Ausländerkultur und Kulturpolitik
Das 750jährige Stadtjubiläum Berlins sollte 1987 pompös gefeiert werden. Inmitten der Planungen zur 750-Jahrfeier regte die Akademie der Künste an, auch einen Beitrag mit in Berlin ansässigen türkeistämmigen Künstler*innen und Kulturtätigen ins Programm aufzunehmen. Ausgestattet mit umfangreichen Mitteln durch den Berliner Senat begann ein dreijähriger Prozess der gemeinsamen Ausstellungs- und Festivalkuration zwischen der Akademie der Künste unter Beteiligung türkeistämmiger Künstler*innen und Kulturtätiger West-Berlins — und endete 1986 im Scheitern dieses Kooperationsversuchs.
Die Sirene — ein Gespräch über das literarische Archiv der Migration
Von 1988 bis 1999 erschien „Die Sirene – Zeitschrift für Literatur“, die – ungewöhnlich für ihre Zeit –, das Ziel verfolgte, nationale Debatten zu transzendieren und Literatur global zu denken. Die Zeitschrift legte einen Fokus aufs Übersetzen und druckte einige große literarische Stimmen, bevor sie bekannt waren. Deniz Utlu spricht mit Deniz Göktürk darüber, wie sie die Zeit erlebt hat, in der die Sirene erschien, und was ihre Beobachtungen waren.
Fasia Jansen: Musik als Protest
Mit ihrem musikalischen Schaffen setzte die Schwarze Liedermacherin und Aktivistin Fasia Jansen sich vor allem für die Arbeiter*innenbewegungen im Ruhrgebiet ein. So beispielsweise für die Hoesch-Fraueninitiative in den ‘80-ern. Viele ihrer Liedtexte und Notenblätter geben Aufschluss über ihre politische Position. Jansen spricht sich in ihren Texten gegen jegliche Form der Unterdrückung aus, singt von ihrem Wunsch einer Zukunft ohne Gewalt und Krieg und fordert Menschen zum Protest auf.
Umkämpfte Erinnerung. Cemal Kemal Altuns Gedenkstein in der Hardenbergstraße
Die (Un)Sichtbarkeit von Migrationsphänomenen im öffentlichen Raum macht deutlich, wie eng öffentliche Erinnerungsprozesse mit nationalen Identitätspolitiken verknüpft sind. Was von wem und für wen öffentlich erinnert wird, gilt als Ausdruck von staatsbürgerlicher beziehungsweise kultureller Zugehörigkeit. Die Errichtung des Gedenksteins für Cemal Kemal Altun ist vor diesem Hintergrund eine Errungenschaft. Denn Altuns Geschichte trifft mitten in den Kern des Ringens um eine neue deutsche Identität in den 1980er und 1990er Jahren.
Karneval der Kulturen – Joaquín La Habana im Gespräch mit Eike Wittrock
Vor über 40 Jahren zog Joaquín La Habana für ein Engagement mit dem Travestie-Ensemble „Chez Nous” nach Berlin und ist seitdem eine feste Größe in der queeren Szene dieser Stadt (und darüber hinaus). In den neunziger Jahren hat Joaquín an den ersten Ausgaben des Karneval der Kulturen mitgewirkt und war auf Postern und Zeitschriftencovern eine kurze Zeit so etwas wie das Gesicht des Karnevals.
Projekt Migration. Ausstellung, Experiment, Blick auf die Welt
Das Projekt Migration, ein vierjähriges künstlerisches Forschungsprojekt und die gleichnamige Ausstellung, war ein Ereignis, ein Experiment und eine Lebensaufgabe. Es wollte ein "neues Verständnis der Migration schaffen" und einen Paradigmenwechsel einleiten, wie die Gesellschaft in Deutschland über Migration und Migrant*innen denkt. Außerdem hatte es das Ziel, den Grundstein für eine Institution der Migration in Deutschland zu legen.
„Das achte Feld“ – die Erosion von Geschlechteridentitäten
Als die großangelegte Kunstausstellung „Das achte Feld“ im Museum Ludwig 2006 eröffnet, blickt Kurator Frank Wagner auf eine spannungsreiche Zeit zurück. Einerseits werden „schwule“ Filme wie „Brokeback Mountain“ und „Capote“ mit Oscars ausgezeichnet, andererseits ruft der Papst gegen die „Schwulen-Ehe“ auf und christlich-konservative Parteien gewinnen Wahlen mit homophoben Parolen. Zwischen den emanzipatorischen Errungenschaften und deren permanenter Gefährdung ereignet sich die Ausstellung „Das achte Feld“.