Aktenschränke mit geöffneten Schubladen, aus denen Zettel fliegen, eine Uhr und ein Stundenglas, Zeitungsartikel, Jahreszahlen

Text: Misha Hadar, Übersetzung: Melody Makeda Ledwon

 

Am 15. Juni 1980 hatte Giden Tez Geri Dönmez (Reisende kehren nicht wieder zurück) in Berlin-Kreuzberg Prämiere. Aus heutiger Sicht mag das nicht besonders bemerkenswert erscheinen, da Kreuzberg und die türkische Community in Berlin eng miteinander verbunden sind und sich dort auch das wegweisende Ballhaus Naunynstraße sowie das etwas weniger bekannte Tiyatrom1 befinden. Aber das Theaterstück war tatsächlich ein Meilenstein. Es wurde im Hebbel-Theater aufgeführt, das damals noch die renommierte Schaubühne beherbergte und unter der künstlerischen Leitung von Peter Stein stand. Mit dem Stück wurde ein neues Projekt innerhalb des Theaters eingeweiht. Damals hieß das Projekt noch „Türkenprojekt“, später Türkisches Ensemble.

 

In den folgenden vier Jahren führte das Türkische Ensemble 14 Theaterstücke auf, die von mehr als 70.000 Zuschauer*innen besucht wurden. Zu einer Zeit, als türkische Kulturproduktionen in Westdeutschland langsam sichtbar wurden, war das Projekt ein einzigartiger Versuch, ein großes türkischsprachiges Theater in Berlin aufzubauen. Ein Blick auf die Geschichte des Projekts gibt Aufschluss über die Erwartungen, die damals an migrantische Kulturproduktion gestellt wurden, und über die Schwierigkeiten, mit denen diejenigen konfrontiert waren, die sich dafür einsetzten, ihr in Deutschland Raum zu verschaffen. Als sich Deutschland mit der Idee des Multikulturalismus anfreundete, musste sich auch das Türkische Ensemble anpassen und schuf eine Kombination aus klassischem Theater aus der Türkei und eigenen Stücken, die sowohl für ein junges Publikum mit türkischstämmigem Migrationshintergrund als auch für ein Publikum ohne Migrationshintergrund geschrieben wurden.

 

Die Gründung des Türkischen Ensembles lässt sich auf zwei Arten erzählen. In einer Version der Geschichte entstand das Ensemble aus einer Theaterproduktion, in der anderen aus einer zufälligen Begegnung während eines Türkeiurlaubs. 1978 hatte Groß und klein von Botho Strauß an der Schaubühne Premiere. In diesem Stück wurde zum ersten Mal auf einer großen deutschen Bühne die Rolle eines türkischen Mannes von einem türkischen Migranten, Meray Ülgen, gespielt. Regie führte der damalige Intendant Peter Stein. So entstand ein erster Kontakt zwischen den beiden, der auf dem bereits bestehenden Interesse Steins und der Schaubühne an der Entwicklung nicht-bürgerlicher Theaterprojekte aufbaute. Seit Anfang der 1970er Jahren hatte die Schaubühne versucht, „Zielgruppen-Projekte“ zu entwickeln: Gezielte politische Theaterprojekte, die auf die politische Bildung von Arbeiter*innen, Auszubildenden und Kindern ausgerichtet waren.2 Diese jüngste Geschichte verdeutlicht das damalige Engagement der Schaubühne, weit entfernt von ihrem heutigen Image. Der Kontext, in dem der erste Kontakt zwischen Ülgen und Stein und der Funke einer möglichen Zusammenarbeit entstand, war ein ganz anderer. Während die Schaubühne mit ihrem Haus in Charlottenburg heute als eindeutig bürgerlich gilt, lässt sich im Türkischen Ensemble der späten 70er und frühen 80er Jahre ihr Engagement für ein Arbeiter*innentheater erkennen, das den Austausch mit der großen Bevölkerung von Arbeiter*innen suchte, die türkische Migrant*innen waren und in West-Berlin (und in Westdeutschland allgemein) lebten. 

 

Die zweite Geschichte entwickelte sich eher zufällig. Irgendwann in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre machte Stein Urlaub in der Küstenregion von Bodrum, einem bekannten Sommerurlaubsort. Dort lernte er die Algans kennen. Ayla Algan war eine berühmte Schauspielerin, bekannt für ihren komödiantischen Scharfsinn und ihre Stimme, vor allem als Folksängerin. Beklan Algan war ein bedeutender experimenteller Regisseur und Theaterlehrer am renommierten Sprach- und Kulturzentrum, einer Einrichtung für Theater und darstellende Kunst, in Istanbul. Es liegt auf der Hand, dass sich die Algans und Stein gut verstanden: Alle drei interessierten sich sowohl für die politische Neuinterpretation von Klassikern als auch für die experimentelle Infragestellung konventioneller Inszenierungspraxis.

 

So kamen die Algans 1978 nach Berlin, um mit der Schaubühne an einem neuen Projekt zu arbeiten, dem „Türkenprojekt“. In den folgenden zwei Jahren entstanden zahlreiche Stücktexte, meist Zusammenstellungen von Szenen aus dem Leben von Migrant*innen. Einige von ihnen folgten den Konventionen des sozialen Realismus, indem sie Schlüsselmomente in der schwierigen Wechselbeziehung zwischen der „Gastgeber*innen“-Kultur und Migrant*innen festhielten, von den erniedrigenden Erfahrungen bei medizinischen Untersuchungen bis hin zu rassistischen Auseinandersetzungen an Bushaltestellen. Zudem stellten diese Szenen nicht ausschließlich die Erfahrungen von türkischen Migrant*innen dar. Oft wurde versucht, sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die Spannungen zwischen den verschiedenen migrantischen Communitys aufzuzeigen: So folgt eine Szene beispielsweise dem Gespräch zwischen jungen Frauen unterschiedlicher Herkunft, die auf dem Weg in einen Nachtclub ihre Erwartungen an die Begegnung mit Männern diskutieren.     

 

Diese Stücktexte sowie Protokolle der Konzeptions- und Probengespräche der folgenden zwei Jahre zeigen einige der Schwierigkeiten, mit denen das Projekt zu kämpfen hatte. Da die Algans kein Deutsch sprachen, mussten sowohl die Stücktexte als auch die Ideen für die Inszenierungen ins Englische übersetzt werden. (Dazu später mehr). Weitere Theatertätige von außerhalb mussten in die Zusammenarbeit einbezogen werden: von Fred Berndt, einem Regisseur und Bühnenbildner, der freiberuflich für die Schaubühne arbeitete, bis hin zu Peter Greiner, einem Dramatiker, der kurz zuvor das Stück Kiez veröffentlicht hatte, das einige Jahre später im Rampenlicht stehen sollte, als es 1981 für das Theatertreffen ausgewählt wurde. Andere Türk*innen, wie Mecit Koper, mit dem die Algans bereits in Istanbul zusammengearbeitet hatten, sollten zusammen mit Ayla Algan das Stück Giden inszenieren. Ideen, wie die Öffnung des Proberaums für lokale Communitys, wurden vorgeschlagen und wieder verworfen. Obwohl das Projekt als Kooperation mit der Schaubühne geplant war, schien die Kommunikation angespannt. Das Produktionsteam bestand zwar aus den üblichen Mitarbeiter*innen der Schaubühne, aber es gab Schwierigkeiten, die Schauspieler*innen des regulären Ensembles für das Projekt zu gewinnen.

 

Schließlich gab Beklan Algan das Projekt auf und kehrte in die Türkei zurück. Das war sicherlich keine leichte Entscheidung, denn in diesen Jahren herrschten in der Türkei intensive politische Spannungen, die im September 1980 zu einem Militärputsch führten. Die Algans waren, ebenso wie viele Theatermachenden, die im Laufe der Jahre Teil des Türkischen Ensembles wurden, bekannte Linke. Obwohl Ayla Algan behauptete, dass sie nicht unter Druck standen, ins Exil zu gehen, und dass die politische Situation keinen Einfluss auf das Projekt hatte, ist es schwer, diese beiden Ereignisse voneinander zu trennen. (Koper zum Beispiel konnte nach dem Putsch nie wieder in Istanbul arbeiten.) Zu dieser Zeit gab es überall in Europa linke Exilierte, von denen einige türkische Theater im Ausland gründeten. Ein Beispiel dafür ist das Halk Oyunculari, ein Volkstheater in Stockholm, das mit seiner Inszenierung von Kurban (1982) als Gastspiel an der Schaubühne in Berlin zu sehen war.3  

 

Nachdem Beklan Algan das Projekt verlassen hatte, übernahmen Ayla Algan und Mecit Koper die Theaterproduktion. Das Ergebnis war Giden Tez Geri Dönmez, ein Stück mit zwei unterschiedlichen Teilen: Im ersten Teil geht es um die Hochzeit eines jungen Paares im ländlichen Anatolien und die anschließende Abreise des Mannes nach Istanbul, auf der Suche nach Arbeit. Der zweite Teil beginnt nach einer zweiten Migration, diesmal von Istanbul nach Westdeutschland, und schildert das Leben von Migrant*innen in einer Reihe von Vignetten, die in mehrere, direkt an das Publikum gerichtete Monologe münden. Diese Monologe wurden aus diversen migrantischen Perspektiven vorgetragen, die die Herausforderungen, mit denen Migrant*innen konfrontiert sind, und ihre Unzufriedenheit mit den Verhältnissen, die sie in Deutschland vorfinden, zum Ausdruck brachten.

 

Die Inszenierung hatte sich deutlich von den ersten Visionen des Projekts entfernt, die in Fragmenten im Archiv zu finden sind. Die breite Auseinandersetzung mit der Realität, in der sich Migrant*innen nicht nur türkischer, sondern auch anderer Herkunft befanden, wurde durch eine Performance türkischer Authentizität ersetzt. Insbesondere im ersten Teil, der sich bei der Darstellung der Hochzeit stark auf traditionelle anatolische Kostüme, Lieder und Tänze stützte. Diskussionen um die Bestuhlung, die veränderbar sein sollte, um z. B. das Publikum auf zwei Seiten der Bühne aufzuteilen und dadurch die segregierten Lebensbedingungen zwischen Migrant*innen und Deutschen nachzustellen, und die Szenen, die die Spannungen und das Potenzial für einen tiefgreifenden Wandel in der deutschen Gesellschaft zum Ausdruck brachten, waren verschwunden. Das Stück lebte vor allem von der stimmlichen Stärke Ayla Algans und dem komödiantischen Genie des türkischen Schauspielers Sener Sen, der inzwischen hinzugekommen war, um die „akzeptableren“ Fragmente des zweijährigen Rechercheprozesses zusammenzufügen.

 

Das Stück erhielt in Deutschland gute Kritiken, die sich vor allem auf die Kulturvermittlung, die Weitergabe des kulturellen Erbes und Tradition fokussierten. Einige Kritiker, wie beispielsweise Wolfgang Hammer, der für die renommierte Zeitschrift Theater heute einen Artikel über türkisches Theater in Westdeutschland schrieb, betonten jedoch die lokale soziopolitische Bedeutung des Stücks und die Sichtbarkeit, die die Herausforderungen von Migrant*innen in der zweiten Hälfte des Stücks erlangten.4 Die Kritiken wiesen auf die Schwierigkeiten hin, ein deutschsprachiges Publikum zu erreichen: Im Fokus steht die Zugänglichkeit des Stücks und die Arbeit, die das Theater geleistet hat, um sicherzustellen, dass ein nicht-türkischsprachiges Publikum das Stück verstehen konnte.

 

Auch innerhalb des Ensembles gab es Probleme. Während der Proben des nächsten Stücks kündigte der Schauspieler Ali Haydar Cilasun und organisierte Proteste gegen das Projekt. Obwohl es den Anschein hatte, dass die Ursache des Problems ein (persönlicher) Machtkampf innerhalb des Projekts war, machte diese Situation einige der Spannungen innerhalb der türkischen Community sichtbar. Cilasun war Kurde und beschuldigte das Projekt in einer Pressemitteilung, Sicherheit und ein falsches, harmonisches oder romantisches Bild zu vermitteln.

 

In den folgenden Jahren experimentierte das Türkische Ensemble an der Schaubühne mit verschiedenen Richtungen und Schwerpunkten seiner Stücke. Es zeigte politisches Theater aus der Türkei, mal eher zeitgenössisch (Isgal von Basar Sabuncu, 1981, über die Not der Arbeiter*innen während des Baubooms in den expandierenden türkischen Großstädten), mal eher klassisch (Keshanli Ali von Haldun Taner, 1980, ein Stück über politische Korruption und die Zustände in den Slums von Ankara). Das Ensemble bot auch spezielle literarische Abende an, die sich auf die Größen der klassischen anatolischen Poesie konzentrierten. Diese waren nur teilweise erfolgreich, die Zuschauerzahlen waren gering und das Projekt geriet zunehmend unter Druck, da der Berliner Senat immer weniger bereit war, es weiter zu finanzieren.

 

Ein ganz anderes Projekt, ein zweites Originalstück, wurde ebenfalls 1981 aufgeführt. Keloğlan, das am 5. Juli 1981 Prämiere hatte, war ein Stück über eine bekannte Kinderfigur und richtete sich an Schulkinder. Das Stück wurde von Ayla Algan und Meray Ülgen geschrieben und von Ülgen inszeniert. Es wurde sowohl für türkischsprachige als auch für deutschsprachige Klassen aufgeführt und passte gut zu der aufkommenden Idee des multikulturellen Austauschs, der Begegnung mit der Kultur des anderen und der Entwicklung von Bedingungen, unter denen Migrant*innen mit türkischer Herkunft die Verbindung zu ihrer Kultur und Sprache aufrechterhalten können. Dies geschah im Zusammenhang mit dem Einsatz von Lehrkräften, die von der türkischen Regierung an deutsche Schulen entsandt wurden, um den sprachlichen und kulturellen Kontakt der Schüler*innen mit der Türkei zu gewährleisten.

 

Dieses Stück erwies sich als entscheidend für die Fortsetzung des Projekts. Das Türkische Ensemble inszenierte vier weitere eigene Kinderstücke, von denen die meisten auf anderen bekannten türkischen Kindergeschichten basierten, sowie ein Stück über eine Beschneidungsfeier in Kreuzberg, zu der eine deutsche, benachbarte Person eingeladen wurde. Im Mittelpunkt all dieser Stücke stand der kulturelle Austausch – das Ensemble übernahm die Rolle eines Kulturbeauftragten für türkische Kultur und Traditionen in Westdeutschland. Dabei handelt es sich um einen klaren und deutlichen Wechsel von Stücken mit herausfordernden politischen Inhalten, in denen die Komplexität der Migrationserfahrung sowohl für die Migrant*innen als auch für die aufnehmende Gesellschaft verhandelt wurde, zu Praktiken des kulturellen Austauschs, die türkische Kultur für ein türkisch-migrantisches und deutsches Publikum präsentierten.

 

Mit der Einstellung der Finanzierung durch den Senat wurde das Projekt 1984 beendet. Das Türkische Ensemble war durch ganz Westdeutschland getourt und hatte sogar an einem Theaterfestival in Holland teilgenommen. Das Ensemble war ein wichtiges Sprungbrett für Theatermachende wie Ülgen, die eine beachtliche Karriere im Theater und beim Film einschlugen. Aber es war nicht einfach: Die Spannungen innerhalb der „türkischen“ Community wurden deutlich, als es zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen kurdischen und türkischen Schauspielenden kam, die dazu führten, dass einige kurdische Mitglieder das Projekt verließen. Das zeigte, wie schwierig es war, sozialkritische und politisch herausfordernde Stücke zu entwickeln, sowohl im Hinblick auf das Interesse innerhalb der migrantischen Communitys als auch auf die Aufnahmebereitschaft der deutschen Gesellschaft. Aras Oren, eine Schlüsselfigur der türkischen Kultur in Westdeutschland, empfand dies als Enttäuschung und verpasste Chance.

 

Wir können jedoch in den ersten Anläufen und Bemühungen des Ensembles den Versuch erkennen, Stücke zu schaffen, die heute als Vorläufer des postmigrantischen Theaters betrachtet werden können: Theater, das von der Realität der großen Migration ausgeht und die Verhältnisse beleuchtet, die sich daraus ergeben.    

 

Über den Autor

Misha Hadar ist Dozent für Theatergeschichte im Fachbereich Theater und Tanz an der University of Alabama. Er schreibt über Fragen der Darstellung von Grenzen und Migration mit besonderem Schwerpunkt auf der jüngeren deutschen Theatergeschichte. Sein Text „Performing Multiculturalism: Turkish Ensemble at the Schaubühne“ (2019) über das Türkische Ensemble wurde im Theatre Journal veröffentlicht.

  • 1Tiyatrom ist ein türkisches Theater in Berlin, das unmittelbar nach dem Ende des Türkischen Ensembles an der Schaubühne mit Mitgliedern des Ensembles Unterstützung der Schaubühne gegründet wurde. Es ist auch heute noch aktiv. Siehe: https://renk-magazin.de/en/feeling-at-home-on-stage/
  • 2Siehe Iden, Peter. Die Schaubühne am Halleschen Ufer 1970-1979. Hanser, 1979. Siehe Kapitel über „Die Zielgruppen-Projekte“, S. 41-43.
  • 3Die Regie des Stücks führte Tuncel Kurtiz, ein berühmter türkischer Schauspieler und eines der ersten Mitglieder des Ensembles, der dieses nach der ersten Aufführung aufgrund eines Streits, der in Handgreiflichkeiten auszuarten drohte, verlassen musste; ein weiterer Hinweis auf die Schwierigkeiten, mit denen das Projekt zu kämpfen hatte.
  • 4Wolfgang Hammer, „Großes Klagelied vom Arbeits-Emigranten“, Theater heute, 1980; interessanterweise weist Hammer auch auf die projizierten Erwartungen und die Voreingenommenheit in den deutschen Kritiken hin, die das Stück als naiv darstellen.