Aktenschränke mit geöffneten Schubladen, aus denen Zettel fliegen, eine Uhr und ein Stundenglas, Zeitungsartikel, Jahreszahlen

Text: Jana Zöll

 

1978 stand Peter Radtke, einer der bis heute sicherlich bekanntesten behinderten Schauspieler aus dem deutschsprachigen Raum, das erste Mal auf der Bühne. Er spielte in einer Theatergruppe der Volkshochschule München, welche er selbst gegründet hatte. 1985 war er dann auf der Bühne der Münchner Kammerspiele zu sehen, in der Besetzung als behindertes Kind im Stück „M“ von George Tabori.

 

Dies alles ist nun ca. 40 Jahre her und Peter Radtke hat damals eine Art Schallmauer für Schauspieler*innen mit Behinderung durchbrochen.

Dennoch folgte ihm lange kein Mensch mit Behinderung auf die großen deutschen Bühnen nach. Es mussten nochmal ca. 25 bis 30 Jahre vergehen, bis vereinzelte Schauspieler*innen mit (Körper)Behinderung auf städtischen deutschen Bühnen zu sehen waren. Davor gab es für Menschen mit Behinderungen kaum Möglichkeiten, eine Schauspielausbildung zu machen – auch Radtke hatte diese Möglichkeit nicht.

 

Aber wie kann das sein?

 

Peter Radtke war der Sohn eines Theaterschauspielers. Auch wenn er selbst der Meinung war, dass ihm dies den Zugang zum Theater nicht erleichtert hat, denke ich, dass dieser Umstand das Interesse am Schauspielen in ihm geweckt hat und er dadurch bereits frühzeitig einen Eindruck von den Abläufen am Theater bekam. Dass er als einziger Schauspieler mit Behinderung auf den großen Bühnen des deutschsprachigen Raums auftauchte, war zeitgleich wahrscheinlich der Tatsache geschuldet, dass aus Sicht der Theatermacher*innen ein*e Schauspieler*in genügte, um das „Besondere“ zu verkörpern. Darauf blieb Peter Radtke immer gebucht.

 

Die Notwendigkeit, sich Gelegenheiten selbst zu schaffen

So wie er als Fachgebietsleiter des Behindertenreferats der Volkshochschule München eine Theatergruppe für Menschen mit und ohne Behinderung initiierte, so schrieb er eigene Stücke. „Nachricht vom Grottenolm“, ein Stück mit stark autobiografischen Zügen, in dem es um einen Rollstuhlfahrer namens Stefan Wünschmann geht, spielte er auch selbst. Er war Mitbegründer des Münchner Crüppel Cabarets, in dem Sketche rund um das Thema Behinderung gespielt wurden. Da, wo es keine Gelegenheiten für ihn gab, schuf er sie selbst. Für sich und andere. Er war ein Pionier und sagte über sich selbst, dass er gerne Dinge anstoße, dann aber eher weiterziehe, als bei der Entwicklung dabeizubleiben. Er war ein Einzelkämpfer, ohne dabei aber die Verantwortung für die „Schicksalsgefährten“ (wie er andere Menschen mit (Körper-)Behinderungen nannte) aus den Augen zu verlieren. Bei den Rollen, die er annahm, legte er höchsten Wert darauf, dass das, was er spielte, keine offene oder versteckte Diskriminierung von Menschen mit Behinderung darstellte oder der „Community“, wie man heute sagen würde, sonst irgendwie schadete. Dabei verließ er sich ganz auf sein eigenes Urteil.

 

George Tabori holte Peter Radtke schließlich für sein Stück „M“ an die Münchner Kammerspiele. Eigentlich hatte er ein behindertes Kind besetzen wollen. Als sich dies aber nicht einrichten ließ, erinnerte sich George Tabori an eine Aufführung von „Licht am Ende des Tunnels“ – das erste Stück der Theatergruppe der Volkshochschule München –, in der er auch Peter Radtke auf der Bühne gesehen hatte. So entschied er sich, Peter Radtke zu besetzen. Die Reaktionen auf dessen Erscheinen auf den großen Bühnen waren sehr unterschiedlich.

 

Rezensiert wird der behinderte Körper, nicht der Schauspieler Radtke

Was auffällt, ist, dass alle ersten Reaktionen sich um den Fakt der Behinderung drehten und weniger darum, wie Peter Radtke als Schauspieler war. So lauteten die Reaktionen der Kritiker „unrezensierbar“1 oder „Darf man das?“2 . Ein Kritiker versuchte sogar zu argumentieren, dass ein Schauspieler mit Behinderung niemanden mit Behinderung spielen könne, nur um wenige Jahre später zu behaupten, dass ein Schauspieler mit Behinderung niemanden ohne Behinderung spielen könne.3

Auch ein gewisser Voyeurismus spiegelt sich wider, wenn in einer Mediziner-Zeitschrift geschrieben wird: „…wahrscheinlich haben Sie darum sogar noch nicht einmal einen davon Betroffenen gesehen. Jetzt bietet sich Ihnen dazu eine besondere Gelegenheit.“4

Allenfalls im zweiten Schritt wurde etwas über Peter Radtke den Schauspieler geschrieben. Und selbst dann wurde die Behinderung oft immer noch zu einem Sinnbild für Leid oder Hoffnung oder gar beides in einem erklärt. 

 

Bei den Verantwortlichen am Theater, also Regisseur*innen, Dramaturg*innen, Intendant*innen etc. beobachtete Peter Radtke, dass sie die Behinderung eher als Gefahr für die Produktion sahen: aus gesundheitlichen Gründen oder der Angst, die Produktionsbedingungen könnten den Menschen mit Behinderung überfordern. Auf der anderen Seite waren sie selbst überfordert mit der Frage, wie sie ihn besetzen oder mit ihm arbeiten sollten. Zudem befürchteten sie eine Überforderung des Publikums, wohingegen Peter Radtke der Meinung war, dass dem Publikum weniger zugetraut wurde, als dieses sich selbst zutraute.5

Solange es sich beim Behindertentheater um eine Art Subkultur handelte, unterstützte man diese gerne in „Good Will“-Aktionen. Führten diese aber zum Erfolg, bekamen die Verantwortlichen an den Theatern moralische Bedenken und nahmen die Stücke aus dem Spielplan. Auch war man der Ansicht: „konkrete Behindertenprobleme sind eben kein Stoff für ein angesehenes Haus“.6 Diese moralischen Bedenken hatten wahrscheinlich offiziell etwas mit der Sorge zu tun, Menschen auszustellen. Doch ich vermute auch, dass man kein Publikum, welches sich nicht explizit dafür entschieden hatte, mit behinderten Körpern und der Auseinandersetzung mit dem Thema Behinderung konfrontieren wollte. Man wollte den Einbruch der Realität ins Theater vermeiden. Genau das verhindern also, was Peter Radtke mit seinem Sein auf der Bühne erreichen wollte.

Vielleicht war er sich deshalb auch mit Regisseur*innen und Dramaturg*innen darin einig, dass seine Behinderung die Grundlage des Konzepts seiner Besetzung ist.

 

Schauspieler*in mit Behinderung: damals und heute

All das hat sich bis heute nicht sehr verändert. Wenn Schauspieler*innen mit Behinderung überhaupt im Mainstream besetzt werden, stehen sie immer noch für das „Besondere“ oder spielen Figuren mit Behinderung – oftmals geht es um „inspiration exploitation“7 . Rollen, für die die Behinderung inhaltlich irrelevant ist, bekommen Schauspieler*innen mit Behinderung immer noch höchst selten. Auch die Kritiken sind immer noch ähnlich wie damals. Schauspieler*innen mit Behinderung werden zwar nicht mehr unrezensierbar genannt, doch viel zu oft geht es immer noch um ihr „Schicksal“ und weniger bis gar nicht um ihr künstlerisches Schaffen.

Peter Radtke jedoch war der Meinung, das „Behindertenthema“ bündele menschliche Themen, und verstand Theater als Deutungshilfe und Bewusstseinsschärfung des eigenen Alltags. So spielte er Figuren, die selbst „Behinderte“ waren oder für die seine Behinderung eine neue Dimension aufmachte. Er sah den behinderten Körper als Sichtbarmachung eines Subtextes. Er beschrieb sich mit seiner Behinderung auf der Bühne als Einbruch der Realität ins Theater, die oft als Störung empfunden wurde, was wiederum etwas über das Verhältnis von Menschen mit und ohne Behinderung in unserer Gesellschaft erzählt.

Peter Radtke spielte gerne vor Abonnent*innen, da diese ein unvorbereitetes Publikum sind, eines, welches nicht wegen ihm kam, sondern weil man eben an diesem bestimmten Tag ins Theater ging. Ihm ging es darum, Sehgewohnheiten zu verändern und eine Gewöhnung zu erreichen. Aber am Anfang davon stand sowohl für ihn selbst als auch für das Publikum die Irritation, der Zwang, sich mit der Behinderung auseinanderzusetzen. So schwankte er selbst dazwischen, sich auf der Bühne als Provokation zu sehen und dann wieder in Selbstzweifel zu verfallen.

 

Vielleicht bezeichnete er sich selbst als behinderten Schauspieler, da er seine Behinderung als Dreh- und Angelpunkt seines schauspielerischen Schaffens sah. Vielleicht hatte es aber auch etwas damit zu tun, dass er keine Schauspielausbildung machen konnte, also ein Quereinsteiger war. Noch bis vor wenigen Jahren haben die Schauspielschulen als Zugangsbedingung ganz offen „körperliche und psychische Gesundheit“ vorausgesetzt. Menschen mit Behinderung wurden in einer Welt, in der Menschen noch in Rollenfächer wie jugendliche*r Liebhaber*in, Held*in, Alte*r usw. eingeteilt wurden, einfach nicht mitgedacht.

Neben seinen nichtbehinderten Kolleg*innen mit deutlich mehr Berufserfahrung fühlte er sich manchmal sehr verunsichert und kam sich wie ein Hochstapler vor. Er glaubte im Gegensatz zu seinen nichtbehinderten Kolleg*innen, nur etwas spielen zu können, was ihm in irgendeiner Weise selbst geschehen war. Die nichtbehinderten Kolleg*innen mit Ausbildung waren im besten Falle Schritt für Schritt an das Erarbeiten einer Rolle herangeführt worden, an die Auseinandersetzung mit sich selbst, die Strukturen und Umgangsweisen am Theater. Sie kannten die aus all dem oftmals hervorgehenden Identitätskrisen schon, während Peter Radtke dies vermutlich alles im Schnelldurchlauf durchlebte, als er schon auf der großen Bühne stand. Und als ob das nicht genug war, musste er vieles für sich wegen der Behinderung noch adaptieren, Vertrauen zu den Kolleg*innen aufbauen und seine eigenen Grenzen (durch)setzen. Zeitgleich hatte er Angst, die Abläufe zu stören, konnte sich keinen „Misserfolg leisten“, denn das schlimmste wäre gewesen, wenn gesagt worden wäre: „Dafür, dass es ein Behinderter ist ...“

 

Peter Radtke spielte u.a. an den Münchner Kammerspielen, dem Stadttheater Regensburg und dem Burgtheater in Wien. Später führte er gelegentlich auch Regie. Doch immer nur für einzelne Rollen und Stücke, niemals in einem Festengagement. Seine stetige Arbeitsstelle, über die er seinen Lebensunterhalt verdiente, war schließlich bei dem Verein „Arbeitsgemeinschaft Behinderte in den Medien“. Diesen hatte er 1984 wieder einmal selbst gegründet. Er leitete ihn bis 2008.

 

Anfang der 2000er Jahre war er dann nochmals maßgeblich beteiligt an der Initiierung des integrativen Studiengangs der Akademie für darstellende Kunst (adk ulm). Leider hielt er es auch dort so, dass er bald weiterzog und es nach der Saat anderen überließ, die Pflanze zum Gedeihen zu bringen. Das hieß für die Student*innen mit Behinderung dort, dass sie zwar eine Schauspielausbildung bekamen. Aber Fragen der Barrierefreiheit oder der Anpassung des Unterrichts an unterschiedliche Körperlichkeiten wurden selten wirklich ernst genommen und mit Verweis auf Denkmalschutz oder darauf, dass man „dafür nicht ausgebildet sei“, abgeschmettert.

 

Peter Radtke hinterfragte nicht grundsätzlich die Strukturen und Arbeitsweisen am Theater, aber damit wäre er seiner Zeit vielleicht auch wirklich zu weit voraus gewesen. Er sagte einmal, was Peter und die Figur „Affe Rotpeter“ („Ein Bericht für eine Akademie“ von Franz Kafka, eine Rolle welche Radtke ebenfalls spielte) gemeinsam hätten, sei die Integration durch Anpassung und die Aufgabe der individuellen Stärken.

 

Weitere Lektüre

 

Über die Autorin

Jana Zöll ist ausgebildete Schauspielerin (Akademie für darstellende Kunst Ulm), Performerin und Tänzerin. Als Schauspielerin hat sie in zahlreichen Produktionen an verschiedenen Stadttheatern und in der Freien Szene mitgewirkt. 2009 spielte sie in Peter Radtkes Produktion „Und raus bist du“ am Theater Ingolstadt, 2013 in seiner Produktion „Die Stunde der Viper“ am akademietheater ulm.

  • 1"Gerhard Stadelmaier schrieb in der Stuttgarter Zeitung: ‚Ursula Höpfner und Arnulf Schumacher sind rezensierbar. P.R. [Peter Radtke], welcher den Sohn spielt, ist es nicht. Er befindet sich außerhalb jeder Theaterkritik.‘" http://www.peter-radtke.de, Leseproben – Theaterkritik.
  • 2"Zusammenfassend fährt er [Gerhard Stadelmaier] fort, ‚Theater darf viel. Das darf es nicht‘.“ Ebd.
  • 3„Deutlich wird dies, wenn Joachim Kaiser 1986 in seiner Beurteilung meiner [Peter Radtke] Darstellung des Willie in Becketts ‚Glückliche Tage‘ resümiert: ‚Wahrscheinlich kann ein Behinderter alles vorführen und spielen auf dem Theater: außer seiner Behinderung‘. Drei Jahre später stellt derselbe Kritiker in seiner Rezension zu Gaston Salvatores ‚Stalin‘ hingegen fest: ‚Allzu falsch erwies sich die ebenso provozierende, wie unsinnige Idee, den schwer körperbehinderten P.R. die Stalin-Rolle spielen zu lassen. Natürlich kann man sich dabei allegorisch irgend etwas Kluges denken. Stalin, der beschädigte Mensch. Der Überkompensierer. Stalin – verfremdet.‘“ Ebd.
  • 4Werner Thumshirn: Glasknochen. Wie Dr. Radtke damit lebt. In: Medical Tribune, Nr. 21 (1986), S.40/41.
  • 5Vgl. Peter Radtke, www.peter-radtke.de, Leseproben – Behinderte Künstler.
  • 6Peter Radtke: Karriere mit 99 Brüchen (2001), S. 136.
  • 7Inspiration Exploitation beschreibt die Art und Weise, wie behinderte Menschen und ihre Geschichten in den Medien und Künsten zur Unterhaltung oder Inspiration der (nichtbehinderten) Zuschauenden „missbraucht“ werden.

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