Aktenschränke mit geöffneten Schubladen, aus denen Zettel fliegen, eine Uhr und ein Stundenglas, Zeitungsartikel, Jahreszahlen

Text: Lea Wohl von Haselberg

 

Im Oktober 1982 unterzeichnete der Regisseur Imo Moszkowicz den Vertrag, um im Folgejahr bei den Theaterfestspielen der Stadt Bad Hersfeld zu inszenieren – die Proben sollten am 30. Mai 1983 beginnen, für den 6. Juli war die Premiere von Peter Shaffers „Amadeus“ geplant, am Vorabend sollte eine öffentliche Generalprobe stattfinden. Imo Moszkowicz, geboren 1925, war zu diesem Zeitpunkt bereits ein angesehener, mehrfach ausgezeichneter Regisseur: Begonnen hatte er seine Karriere 1946, in der unmittelbaren Nachkriegszeit als Regieassistent von Gustav Gründgens am Schauspielhaus in Düsseldorf und hatte sich nicht nur am Theater, sondern auch beim Fernsehen einen Namen gemacht. Trotz Gründgens zumindest ambivalenter Rolle während des Nationalsozialismus verband die beiden eine enge Arbeitsbeziehung – Gründgens unterstützte Moszkowicz in seinen Anfangsjahren am Theater und als er 1963 starb, verteidigte Moszkowicz ihn mit klaren Worten.

Imo Moszkowicz galt als konservativer Regisseur, der Werk- und Texttreue als zentral empfand und politischen Bearbeitungen mit offensichtlichen Gegenwartsbezügen distanziert gegenüberstand. Im Gegensatz zu vielen seiner zeitgenössischen Kolleg*innen war er kein Vertreter einer Theateravantgarde und auch kein Autor-Regisseur, der selbst geschriebene Stücke und Texte inszenierte – weder beim Fernsehen noch auf der Theaterbühne. Moszkowicz trat nicht als politischer Künstler, sondern als Anwalt des Autors und Liebhaber der Kunst auf. Für einen Menschen, der nur sieben Jahre zur Schule gegangen war und nie eine Universität oder Hochschule besucht hatte, stieg er rasant auf, reüssierte im Theater, im neu entstehenden und zunächst dem Theater nahstehenden Fernsehen, später auch in Operette und Oper.

 

Keinen beruflichen Vorteil wolle er aus seiner Vergangenheit ziehen, wird er über zehn Jahre später in seiner Autobiografie „Der grauende Morgen“ (1994) schreiben. „Die Vergangenheit“, das meinte seine Verfolgung als Jude im Nationalsozialismus, die ihn als Dreizehnjährigen in die Zwangsarbeit und später nach Auschwitz bzw. Buna/Monowitz brachte, und die Ermordung beinahe seiner gesamten Familie.1 Obwohl er als Überlebender nicht bevorzugt behandelt werden oder irgendeinen Vorteil aus seiner Verfolgung ziehen wollte, verheimlichte er doch weder sein Jüdischsein noch seine Verfolgungserfahrung, wie sein Nachlass deutlich zeigt. Seine Arbeitsbiografie lässt sich nicht nur als diejenige eines Shoahüberlebenden lesen, sondern auch als Geschichte eines sozialen Aufstiegs. Es ist die Biografie eines Mannes, der nicht nur Auschwitz überlebte, sondern auch als ‘Arbeiter*innenkind’ nach nur wenigen Jahren formaler Schulbildung eine Karriere in etablierten Feldern der Hochkultur machen konnte.

So war die Inszenierung in Bad Hersfeld 1983 ein Engagement, eng eingetaktet zwischen anderen Produktionen im vollen Arbeitsplan eines zu diesem Zeitpunkt gefragten 57-jährigen Regisseurs, der seit über 35 Jahren als Überlebender im postnationalsozialistischen Westdeutschland arbeitete.

Doch bevor Moszkowicz in Bad Hersfeld anreiste und die Proben beginnen konnten, kam es zu einem Konflikt, Skandal wird es später heißen, der symptomatisch für die Bundesrepublik der frühen 1980er Jahre steht und zu einer Zäsur in Moszkowicz‘ Leben wurde.

 

Am 5. Mai 1983 erreichte Imo Moszkowicz ein Schreiben des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), das ihn über ein zeitgleich mit seinen Proben stattfindendes Treffen einer ehemaligen SS-Gruppe in Bad Hersfeld informierte. Dieses Schreiben adressierte ihn zwar namentlich, ging aber offensichtlich auch an andere Schauspieler*innen oder Regisseur*innen der Festspiele. Der DGB bat darin, „uns und dem guten Ruf unserer Stadt zu helfen“, da die Stadt beschlossen habe die Stadthalle „vom 20. bis 23. Mai 1983 an die Truppenkameradschaft der ehem. Waffen-SS, der Leibstandarte Adolf Hitler und der Hitlerjugend“ zu vermieten. Beschlossen worden sei dies mit Stimmen der CDU und FDP, gegen die SPD. Der DGB-Kreisvorsitzende bat Moszkowicz (und andere) nun um ein Solidaritätsschreiben, eine Protestnote oder einen Beitrag bei der für den 23. Mai geplanten Kundgebung.

Moszkowicz reagierte unmittelbar: Er nahm am gleichen Tag Kontakt zum Intendanten der Festspiele auf, dieser versuchte zu beschwichtigen und schrieb zurück, dass das Treffen aber nicht zum ersten Mal stattfinde und auch 1980 schon abgehalten worden sei, als Moszkowicz ebenfalls in Bad Hersfeld inszenierte. Nur sei das Treffen damals nicht – so deutet er an – politisch für den Wahlkampf instrumentalisiert worden. In seiner Argumentation ist die Skandalisierung und nicht das Treffen das wahre Problem, weshalb er Moszkowicz‘ Schreiben auch mit Beunruhigung aufnimmt. Von der fachlichen und menschlichen Kompetenz des Bürgermeisters sei er, so schreibt er weiter, überzeugt und sicherlich würde dieser sich ebenfalls bei Imo Moszkowicz melden. Tatsächlich fanden die Treffen der ehemaligen Leibstandarte Adolf Hitler in Bad Hersfeld schon seit 1979 statt, nachdem die Treffen im hessischen Nassau von Demonstrationen gestört wurden, und zwar regelmäßig in der Stadthalle, einem repräsentativen, von der Stadt vermieteten öffentlichen Raum. Einzig im Jahr 1982 musste die Gruppe auf private Räumlichkeiten ausweichen, da die Stadthalle bereits anderweitig vermietet war.2

Zweimal taucht in dem Brief des Intendanten die Formulierung auf, Moszkowicz‘ Gefühle seien durch die Ereignisse verletzt worden. Eine sprachliche Formel, die den Antisemitismus zu einer subjektiv jüdischen Angelegenheit erklärt, die – so könnte man zugespitzt formulieren – (auch) mit den Empfindlichkeiten von Jüdinnen und Juden zu tun hat. Solche sprachlichen Bewertungen und damit Auslagerungen in eine jüdische Position finden sich bis heute in gesellschaftlichen Debatten um Antisemitismus, Nationalsozialismus und Shoah.

Fast zeitgleich erreichte Imo Moszkowicz ein Brief der Schauspielerin Eva Renzi, die ihm schrieb, auch sie habe mit dem Intendanten gesprochen, werde an den geplanten Demonstrationen teilnehmen und entnehme den Informationen des DGB außerdem, dass der Bürgermeister der Stadt Bad Hersfeld in den vergangenen Jahren selbst an den Treffen der ehemaligen Waffen-SS teilgenommen habe. Nun geht es ganz schnell: Die postalische Antwort des Bürgermeisters erreicht Imo Moszkowicz am 14. Mai. In dem Brief weist er auf die rechtlichen Rahmenbedingungen sowie die Rechtmäßigkeit der Vermietung hin und darauf, dass eine Aufkündigung des Mietvertrags einen Rechtsbruch bedeuten würde. Am gleichen Tag, um 22.20 Uhr telegrafiert Imo Moszkowicz ihm zurück:

 

ALS VERFOLGTER DES NAZIREGIMES UND OPFER DES FASCHISMUS DER SEINE MUTTER UND SEINE SECHS GESCHWISTER IN DEN GASÖFEN DEUTSCHER KONZENTRATIONSLAGER VERLOREN HAT, SETZE ICH IHR MORALISCHES EINVERSTÄNDNIS VORAUS UNSERE VERTRAGLICHE FESTSPIELVERPFLICHTUNG AUSSER KRAFT ZU SETZEN SOLANGE EHEMALIGE SS ORGANISATIONEN WILLKOMMENES GASTRECHT IN IHRER STADT GENIESSEN.

 

In Moszkowicz‘ Nachlass liegt in der Hülle mit dem Telegramm ein getrocknetes vierblättriges Kleeblatt – wann der Glücksbringer Eingang in die Dokumentation dieser ebenso unglücklichen wie für bundesdeutsche Verhältnisse symptomatischen Geschichte fand, ist heute nicht mehr nachvollziehbar. Die Rückseite der Klarsichthülle zeigt: knapp 40 Minuten nach dem ersten Telegramm teilte er auch dem Intendanten seine Absage mit.

Hatte Moszkowicz mit der gewählten Formulierung, seine „Festspielverpflichtung solange außer Kraft zu setzen“, vielleicht noch darauf gehofft, der Bürgermeister könne nun unter Druck das Treffen der ehemaligen Waffen-SS doch noch absagen, so hatte er sich gleich doppelt getäuscht: Der Bürgermeister blieb nicht nur bei seiner Position das Treffen stattfinden zu lassen, sondern drohte ihm auch eine Schadensersatzklage wegen Nichterfüllens des Vertrages an, den Moszkowicz einseitig aufgekündigt habe. Zu dieser Klage kam es wohl nicht, doch die Kontroverse war in vollem Gange: Moszkowicz schrieb auch dem damaligen Bundespräsidenten Carl Karstens, der als Schirmherr des Festivals fungierte, doch auch hier fand er keine Unterstützung, galt es doch Schaden vom Festival abzuwenden. Dafür kündigte der Schauspieler Günther Mack ebenfalls seinen Vertrag mit den Festspielen und Eva Renzi wurde wegen Beleidigung rausgeworfen, nachdem sie den Bundespräsidenten einen Nazi genannt hatte. Die überregionalen Zeitungen berichteten3 und Unterstützungsschreiben verschiedener Theater und von Einzelpersonen trafen ein. Sogar Hans Rosenthal, der ebenfalls als unpolitisch geltende Showmaster, meldete sich in „Dalli, Dalli“ zum „Hersfeld-Skandal“ kritisch zu Wort.

Das Treffen fand, begleitet von Demonstrationen mit etwa 8000 Teilnehmer*innen, am Pfingstsamstag 1983 in Bad Hersfeld dennoch statt. Doch die Kritik und der öffentliche Protest waren so massiv, dass die Treffen in den Folgejahren weiterzogen und sich andere (ungestörtere) Räume suchten. Die gesellschaftliche Stimmung der 1980er Jahre hatte einerseits den Protest gegen die Treffen ermöglicht, andererseits den ehemaligen SSlern aber auch die Möglichkeit eingeräumt, sich an der Debatte zu beteiligen und ihre Positionen öffentlich zu vertreten.4

 

Für Imo Moszkowicz hat die öffentliche Kontroverse weitreichendere Folgen als ein geplatztes Engagement: Das Ereignis strukturiert sein Verhältnis zu Deutschland neu. Er beginnt die Presse zum Thema zu verfolgen und Artikel zu sammeln, nicht nur zu Bad Hersfeld, sondern auch zum hessischen Oberaula, wo sich die Auseinandersetzungen im Folgejahr fortsetzen, weil die Gruppe ehemaliger SS-Männer mit ihrer Veranstaltung dorthin umgezogen ist. Mehr noch: Er erhält antisemitische Post an seine Privatadresse nach München, die er auch am 21. Mai zur Anzeige bringt. Drei Monate später wird das Ermittlungsverfahren eingestellt, da die Untersuchungen nicht zur Ermittlung eines Täters geführt haben.

Trotz des Zuspruchs, den Moszkowicz erfuhr, bedeutete der Hersfeld-Skandal für ihn eine tiefe Krise und erschütterte offenkundig sein Selbstverständnis als Jude in Deutschland. Er konnte trotz aller Klarheit in seiner Position, für die er seine eigene Verfolgungsgeschichte offen zum Argument machte, letztlich doch nichts erreichen und musste anderen den Stadtraum und den Regiestuhl überlassen.

Nur zwei Jahre später waren Proteste auf einer anderen Bühne, die ebenfalls in Hessen, im weniger als 150 Kilometer entfernten Frankfurt stattfanden, erfolgreicher: Am 31. Oktober 1985 besetzten Mitglieder der Jüdischen Gemeinde Frankfurt die Bühne des Frankfurter Schauspiels und verhinderten so die geplante Uraufführung von Rainer Werner Fassbinders Stück „Der Müll, die Stadt und der Tod“. Die Frage nach dem Antisemitismus von Fassbinders Stück löst immer noch kontroverse Antworten aus, doch zur deutschen Erstaufführung kam es erst über zwanzig Jahre später (2009). Wichtiger aber scheint noch, dass die Bühnenbesetzung in Frankfurt als Moment einer neuen jüdischen Wehrhaftigkeit und einer selbstbestimmten jüdischen Sichtbarkeit zu einem wichtigen Einschnitt im jüdischen Selbstverständnis in Deutschland wurde und als solcher bis heute erinnert wird.

  • 1Seine Mutter und seine sechs Geschwister wurden ermordet, einzig sein Vater konnte 1938 nach Argentinien fliehen und versuchte in den folgenden Jahren erfolglos von dort die Familie nachzuholen.
  • 2Vgl. Pokatzky: Die SS-Festspiele von Bad Hersfeld, DIE ZEIT 10.06.1983, S.37.
  • 3Am 10. Juni erscheint in DIE ZEIT ein Artikel von Klaus Pokatzky mit der Überschrift „Die SS-Festspiele von Bad Hersfeld. Ein Lehrstück über die Wahrheit der Dichtung – und ein Sittengemälde der deutschen Provinz“.
  • 4https://www.spiegel.de/politik/spaziergang-mit-mutti-a-4ce6cecd-0002-00…. (letzter Zugriff 22.06.2022).

Über die Autorin

Lea Wohl von Haselberg forscht an der Filmuniversität Babelsberg KONRAD WOLF zu jüdischer Filmgeschichte, audiovisuellen Erinnerungskulturen und filmischem Antisemitismus. Sie publiziert zu deutsch-jüdischen Themen, ist Mitherausgeberin des Magazins „Jalta. Positionen zur jüdischen Gegenwart“ und Teil des Programmkollektivs des „Jüdischen Filmfestivals Berlin Brandenburg“ (JFBB).