Crip Time

[krɪp taɪm]

Über einem rollstuhlnutzenden Mann hängt eine pinkfarbene Uhr mit einem Schild "Crip Time". Rechts und links vom Mann hängen viele weitere Uhren mit dem Schild "Norm"

Crip Time

ist ein Konzept, das die Erfahrungen behinderter, chronisch kranker und neurodivergenter Menschen mit Raum und Zeit beschreibt, die anders als bei nichtbehinderten Menschen sind.

 

Für das Verständnis von Crip Time ist es wichtig zu erklären, was normative Zeit bedeutet und wie das Verhältnis der beiden zueinander aussieht. Normative Zeit ist die mehrheitlich sozial akzeptierte Art, wie Zeit im Alltagsleben eingeteilt ist, insbesondere in feste Termine und Zeitabschnitte wie beim Schulunterricht, festen Bürozeiten in der Arbeitswelt, beim Zeitlimit bei Prüfungen oder Reisezeiten in Verkehrsmitteln. Darunter fallen auch kulturell verankerte Visionen von Meilensteinen im Leben und wann diese erreicht werden sollen. In welchem Alter soll ein Kind sprechen können? In welchem Alter lesen? In welchem Alter sollen wir die Schule, Ausbildung oder ein Studium abgeschlossen haben? In welchem Alter sollen wir das erste Kind bekommen oder den ersten Job anfangen? Crip Time zeigt auch, wie ausschließend dieses Verständnis von Meilensteinen und Zeit ist.

 

Crip Time beschreibt die komplexen Erfahrungen behinderter Menschen in ihrer Lebenswelt mit Zeit. Diese sind durch drei verschiedene Aspekte gekennzeichnet: Barrieren, Extra-Zeit aufgrund von Bedarfen und das Erreichen von Meilensteinen im Lebensablauf.

Durch Barrieren im Alltag brauchen behinderte Menschen Extra-Zeit, um die Bedarfe abzudecken oder bei fehlender Barrierefreiheit Zugänge zu finden – beispielsweise bei baulicher Barrierefreiheit Zugang zu einem Gebäude oder zu Verkehrsmitteln zu finden.

 

Das Konzept spricht aber ebenso von unsichtbaren Barrieren, die vielfach übersehen werden, wie beispielsweise mehr Zeit zu brauchen, um sich durch Räume mit einem Rollstuhl zu bewegen, um pünktlich zu sein. Oder Zeit für Ruhe und Erholung aufgrund von Erschöpfung durch chronische Erkrankungen, körperliche und psychische Behinderungen und Neurodiversität. Extra-Zeit und Ruhezeit zu brauchen, um eine Aufgabe zu verrichten, bedeutet vielfach, die Zeit für andere Bereiche des Lebens zu opfern. Die Einteilung des Tages in verschiedene Bereiche, die als normal und natürlich angesehen werden wie Arbeitszeiten, Erholung und Pause, Hausarbeit, Besorgungen, Freizeit, Familienzeit und Schlaf, ist durcheinandergebracht und funktioniert so nicht. Auch das wird bei Barrierefreiheit für behinderte Menschen nicht mitgedacht. Crip Time bietet hier den Rahmen anzuerkennen, dass wir verschiedene Beziehungen zu Zeit und Zugangsmöglichkeiten brauchen.

 

Das Konzept dient dem Empowerment, dem Recht auf barrierefreie Zugänge und darauf, Möglichkeiten der Zeitplanung umzudeuten. Dem Moment, in dem Menschen ihre Erfahrungen mit Zeit und die Deutungshoheit darüber zurückerlangen, und feiern, dass Zeit nicht einheitlich ist, sondern von Mensch zu Mensch unterschiedlich und durch verschiedene körperliche und geistige Faktoren gestaltet ist. Als Forderung folgt: Normative Zeit ist künstlich und muss geändert werden.

Die Disability Theoretikerin und Autorin Alison Kafer beschreibt es wie folgt:

Anstatt den Körper und Geist von Menschen mit Behinderung dazu zu nötigen, sich den zeitlichen Vorgaben einer Uhr anzupassen, bietet crip time eine an ihre Bedürfnisse angepasste Uhr.

(im englischen Original: „rather than bend disabled bodies and minds to meet the clock, crip time bends the clock to meet disabled bodies and minds“).

 

Crip Time im Kulturbetrieb

Im Kulturbetrieb spielt Crip Time in vielfacher Weise eine Rolle insbesondere in der eigenen Organisationsweise und als Kunstgegenstand. Daraus ergeben sich einige Leitfragen:

  • Wie viel Zeit räume ich Künstler*innen mit einer Behinderung ein, um sich auf Film- und Theaterrollen vorzubereiten?
  • Wie barrierearm sind die Arbeitsbedingungen?
  • Wo gibt es starre Zeiten im Kulturbetrieb? Wie können die Bedingungen verändert werden?
  • Wo sind unsichtbare Barrieren, die noch nicht bedacht sind?
  • Wie ehrlich können Künstler*innen mit Behinderung ihre Bedarfe kommunizieren?
  • Wann brauchen auch Nichtbehinderte im Kulturbetrieb eine Pause, die ihnen nicht zugestanden wird? Wie viele Pausen gibt es?

 

Für Crip Time als Kunstgegenstand steht beispielhaft die Ausstellung „Crip Time“ im Museum für Moderne Kunst in Frankfurt am Main, welche von September 2021 bis Ende Januar 2022 gezeigt wurde. Zahlreiche Kunstaktionen und Ausstellungsstücke zeigen, was Crip Time ausdrückt, wie sie uns alle beeinflusst, da alle Menschen aufeinander angewiesen sind und Zeit nicht statisch ist. Ein Beispiel dafür war die Bank im Foyer mit der Aufschrift: „Es war schwierig hierher zu kommen. Ruhe dich hier aus, wenn du zustimmst.“ Die Arbeit stammt von Shannon Finnegan und ist Teil der Objekt-Serie „Do you want us here or not“. Sie bestand aus mehreren im Haus verteilten Sitz- und Liegegelegenheiten. Die Ausstellung wurde von Teilen der Disability Arts Community aber auch kritisch gesehen.

 

Dieser Text ist ein Gastbeitrag von Andrea Schöne.

Andrea Schöne ist freie Journalistin, Moderatorin, Lehrbeauftragte, Speakerin. Inklusion, Ableismus, Darstellung von behinderten Menschen in den Medien sind einer ihrer Arbeitsschwerpunkte. Am 10. Oktober 2022 erschien ihr erstes Buch „Behinderung und Ableismus“ im Unrast Verlag.

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Ableismus

[ɛɪ̯bəˈlɪsmʊs]

ist ein am englischen Wort ableism angelehnter Begriff, der aus der US-amerikanischen Behindertenbewegung stammt. Er beschreibt die Diskriminierung von Menschen mit Behinderung, indem Menschen an bestimmten Fähigkeiten gemessen und auf ihre Beeinträchtigung reduziert werden.

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Nicht Sichtbare Behinderung

[nɪçt ˈzɪçtbaːʁə bəˈhɪndəʁʊŋ]

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behindert werden

[bəˈhɪndərt ve:ɐ̯dn̩]

Die Formulierung behindert werden macht deutlich, dass Menschen nicht aufgrund ihrer individuellen Körper behindert SIND, sondern durch Barrieren und gesellschaftliche Ausschlüsse behindert WERDEN.

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