Aktenschränke mit geöffneten Schubladen, aus denen Zettel fliegen, eine Uhr und ein Stundenglas, Zeitungsartikel, Jahreszahlen

Text: Collin Klugbauer

 

Drei Jahre intensive Arbeit, unzählige unbezahlte Stunden von Frauen in der Vorbereitung – 1977 ist das Werk vollbracht: Die Ausstellung Künstlerinnen international 1877-1977 eröffnet an drei Standorten in Berlin ihre Pforten. Die rund 500 Werke von 182 Künstlerinnen aus 100 Jahren sind in der Orangerie des Schlosses Charlottenburg sowie kleinere Teile in der Galerie Etage und in der Neuen Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK) zu sehen. Anschließend wandert die Ausstellung weiter und wird in geringerem Umfang im Frankfurter Kunstverein in Frankfurt am Main gezeigt.

 

Doch nochmal zurück – der Ausstellung voraus ging ein holpriger Prozess: Erst in der zweiten Runde der Hauptversammlung und dank strategischen Eintritten von Mitgliedern der Neuen Frauenbewegung in die nGbK wird das Projekt 1974 bewilligt und von der nGbK mit Mitteln ausgestattet. Die Gruppe „Frauen in der Kunst“ erhält damit das finale „Go“, um dann drei Jahre später die fulminante Ausstellung zu eröffnen, die nichts weniger will, als die Frage nach einer weiblichen Kulturtradition und Ästhetik in der Männer-dominierten Kunstwelt zu stellen.1

Sie wurde anfangs von einer Gruppe kuratiert, der sich Frauen einfach anschließen konnten. Die mehrfach wechselnde, zunächst offene Gruppe bestand am Ende aus den bildenden Künstlerinnen Ursula Bierther, Evelyn Kuwertz, Katrin Petersen, Inge Schumacher, Sarah Schumann, der Kunsthistorikerin Ulrike Stelzl und der Literaturwissenschaftlerin Petra Zöfelt. Kuwertz und Schumann kannten sich bereits aus der feministischen Berliner Frauengruppe „Brot und Rosen“. Sie entwickelten die Ausstellungsidee gemeinsam und stellten sie 1973 erstmals in der nGbk vor.2 Die Gruppe ging nicht mit festen Auswahlkriterien in die Kuration, sondern entwickelte diese erst im Prozess. Während Teile der Gruppe nach einer „weibliche(n) Ästhetik“ suchen wollten, ging es anderen darum, überhaupt eine „Vielschichtigkeit“ von künstlerischen Arbeiten von Frauen zusammenzutragen und daran eine neue Seherfahrung zuzulassen.3 Sie schreiben im Vorwort des Katalogs, wie „neu und aufregend“ die „Seherfahrung mit dem Material von an die tausend Künstlerinnen war“ und dass gerade die „Grenzfalldiskussionen“ „[a]m fruchtbarsten“ waren.4 Am Ende war die Ausstellung ein Versuch, „ein Bewusstsein für eine weibliche Kulturtradition“5 zu schaffen.

 

Künstlerinnen international 1877-1977 ist die erste größere Ausstellung in Deutschland, die nur Kunst von Frauen zeigte. Diese Künstlerinnenausstellung war eine Intervention in die Ausstellungspraxis ihrer Zeit, in der Künstlerinnen in den Ausstellungen deutscher Museen aber auch weltweit massiv unterrepräsentiert waren. Mit der schieren Masse an künstlerischen Positionen, die das kuratorische Team ausfindig gemacht hat, wollte es die Mär von der weiblichen Ausnahmekünstlerin brechen – zeigt sich doch gerade in der Anzahl der Arbeiten, dass es trotz der Widrigkeiten für Frauen, diese Laufbahn einzuschlagen, genug Arbeiten von herausragender künstlerischer Qualität gibt. In Deutschland z.B. waren Frauen bis 1919 an den meisten staatlichen Kunstakademien nicht zugelassen, womit ihnen eine künstlerische Ausbildung oft verwehrt blieb. Sie konnten zwar private Malschulen besuchen, diese waren aber teuer und die Qualität der Ausbildung war schlechter. Aufgrund dieses Ausschlusses fingen Künstlerinnen an, sich in „Damenakademien“ zu organisieren. Eines der bekanntesten dieser weiblichen Unterstützungsnetzwerke ist der 1867 gegründete und bis heute bestehende „Verein der Berliner Künstlerinnen“, der eine Kunstausbildung anbot, aber auch Ausstellungen für seine Mitglieder organisierte. Vielfach wurde Frauen auch die Fähigkeit zur künstlerischen Leistung abgesprochen und sie wurden in das Kunstgewerbe verbannt, „wo ihr Eindringen keinen allzu hohen Prestigeverlust für Männer bedeutete“6 . Diese historische Unterrepräsentation von Frauen setzt sich bis in die 1970er (und heute) fort. Sie ist zwar nicht mehr über den Zugang zur Ausbildung begründet, aber kommt später zum Tragen. Weibliche Künstlerinnen werden nach wie vor geringgeschätzt und in einer patriarchal (und man müsste hinzufügen: rassistisch, ableistisch, klassistisch, heteronormativ etc.) strukturieren Kunstwelt abgewertet.

 

Künstlerinnen international 1877-1977 zeigte – untypisch für diese Zeit – gleichzeitig historische wie auch zeitgenössische Positionen und stellte Arbeiten aus ganz unterschiedlichen Bereichen wie Malerei, Zeichnung, Fotografie, Installation und Aktionskunst nebeneinander aus. Zu sehen waren Kunstwerke aus Europa und den USA mit ungleichen Länderschwerpunkten. Es waren viele Künstlerinnen aus Deutschland, Italien und den USA vertreten, aber nur wenige aus sozialistischen oder skandinavischen Ländern. Dies war Ergebnis der Netzwerke und zur Verfügung stehenden Ressourcen und weniger beabsichtigte Gewichtung. Die Arbeiten reichten von bereits etablierten Künstlerinnen hin zu Künstlerinnen, die eher noch unbekannt waren. Neben klassischen Techniken wie Malerei waren auch neue Medien wie Film und Video oder Performances vertreten: Käthe Kollwitz, Paula Modersohn-Becker, Frida Kahlo, Georgia O‘Keeffe, Meret Oppenheim oder Diane Arbus hingen zusammen mit Arbeiten von Ulrike Rosenbach, Marina Abramović und Valie Export.7 Während sich in den Arbeiten eine Vielfalt von Medien und künstlerischen Positionen abbildet, ist die Ausstellung in anderer Hinsicht skandalös eindimensional: Sie zeigt fast ausschließlich weiße Künstlerinnen. Es finden sich so gut wie keine Positionen von Künstlerinnen of Color. Keine einzige der vielen US-amerikanischen Künstlerinnen ist eine Frau of Color. In der Ausstellung spiegeln sich damit auch die weißen Netzwerke, der weißen Kuratorinnen wider.

 

Mit der Gegenüberstellung historischer und zeitgenössischer Positionen wurde der Versuch unternommen, „Ahnenforschung“ zu betreiben. Es wurden Vorbilder gesucht und gefunden für eine „weibliche“ Kunstgeschichte, die im männlichen Kanon keinen Platz einnehmen durfte. Die Ausstellung hat auch bisher nicht vorhandenes Wissen über Lebenswege und Arbeiten von Künstlerinnen in einem enormen Ausmaß zusammengetragen und hat gerade auf die Lücken der Dokumentation verwiesen. Das zeigt sich vor allem in dem beeindruckenden Ausstellungskatalog, der neben kurzen Essays Biografien von allen gezeigten Künstlerinnen und Abbildungen von Werken (leider anderen als den ausgestellten) enthält.

 

Für die Ausstellung ausgewählt wurden – bis auf wenige Ausnahmen – Künstlerinnen im klassischen Sinne: Frauen mit Kunstausbildung, die zwar nicht immer bekannt waren, aber doch formal im Kunstbetrieb anerkannt wurden. Gezeigt wurde „institutionell legitimierte Kunst“ wie die feministische Kunsthistorikerin (und – side fact – Keyboarderin der Band Flying Lesbians) Cillie Rentmeister kritisch anmerkt. Also Kunst, die den Regeln und Gepflogenheiten der dominanten Kunstproduktion entsprach. Eine der wenigen Ausnahmen war Kate Walkers Werk „A Portrait of the Artist as a Housewife“, bei dem Hausfrauen ohne künstlerische Ausbildung aus alltäglichen Gegenständen Kunstwerke anfertigten und sich gegenseitig per Post schickten. Ein kleiner Teil von den fast 200 Objekten dieser Sammlung wurde in Berlin ausgestellt.

 

Der Karren des Feminismus

Dass die Kuratorinnen mit der Ausstellung einen Nerv getroffen haben, zeigen sowohl die Besucher*innenzahlen (35.000 Menschen sahen die Ausstellung in der lediglich einmonatigen Laufzeit allein in Berlin)8 als auch die zahlreichen Besprechungen und Reaktionen. Zum Vergleich: Die wesentlich bekanntere und größere Berlinische Galerie hat mit ihrer Lotte Lasterstein Ausstellung 2019 in fünf Monaten knapp 89.000 Menschen erreicht.9 Kleinere Museen wie das Museum Berggruen in Berlin erreichten mit der Sonderausstellung „Picasso & Les Femmes d`Alger“ in drei Monaten knapp 31.500 Besucher*innen.10 In welchem Spannungsfeld sich die Ausstellung bewegt, wird durch die Bandbreite der Würdigungen und Kritiken deutlich. Neben Lob, Anerkennung und neugierigen Pressestimmen gab es auch kritische und – vorhersehbar – abwertende Rezensionen der Ausstellung.

 

Dem konservativen Feuilleton waren entweder „zu viele Exponate lediglich mit feministisch-dogmatischer Couleur auf Leinwand und Papier gebracht worden“11 . Andere Kritiker*innen stellten gleich die Prämisse des ganzen Unterfangens in Frage: „Der Beweis, der hier erbracht werden soll, nämlich die Unterdrückung der Frau in der Kunst seit 1877, zerplatzt wie eine Seifenblase angesichts der Werke von Paula Modersohn-Becker oder Sonja Delaunay …“12 Folgt man den Kritiken, könnte man meinen, es habe gar keine ungleichen Zugänge in der Kunst gegeben. Oder die Ausstellung wird anhand von scheinbar neutralen Kriterien bezüglich Zusammenstellung und Auswahl abgewertet. So erklärt ein Mann, nachdem er lange betont hat, er „habe nichts gegen Frauen in der Kunst“, dass sich gerade in der Auswahl der Arbeiten die Gleichheit der Geschlechter zeige, sind die Arbeiten „zum Teil hervorragend […] zuweilen erbärmlich schlecht, ganz wie bei männlichen Künstlern auch“, um dann die Kuration zu kritisieren die eben auch ähnliche „Fehler“ beging, „wie sie Männern seit jeher ebenso passieren“, so dass es am Ende nur zum Urteil „mißlungen“ reicht.13

 

Hier wiederholt sich oft das alte und erstaunlich zähe Argument, dass künstlerische Qualität kein Geschlecht kennt. Die massiv unterschiedliche Repräsentation von Künstlern und Künstlerinnen in den Ausstellungen der Zeit wird somit als zufällige Folge ihrer künstlerischen Leistung verhandelt und nicht als Folge von sexistischen oder anderweitig diskriminierenden Strukturen. Diese vermeintlich offene und auf Gleichberechtigung ausgerichtete Sichtweise verstellt die Auseinandersetzung und Anerkennung von strukturellen Ausschlüssen und verhindert eine Reflexion der eigenen sexistischen Voreingenommenheit.

 

Was das Feuilleton als Zuviel kritisierte, war einigen frauenbewegten Feministinnen hingegen zu wenig präsent: Es gäbe „Wenig Inhalt, viel Form – das ist hier die Norm“14 . Es wird Enttäuschung darüber geäußert, dass es so wenig künstlerische Arbeiten mit explizit feministischem und dezidiert politischem Bezug gibt. Ihnen ist die Ausstellung zu brav, zu wenig radikal und zu unpolitisch. Das ist nicht überraschend, vergegenwärtigt man sich den politischen Hintergrund: Mit neu entdecktem Kampfgeist versuchte die damals noch junge feministische Bewegung auf vielen Ebenen die sexistischen Strukturen der BRD aufzubrechen. In den 1970er Jahren sind Frauen nicht nur gesellschaftlich abgewertet, sondern auch ökonomisch noch massiv von Männern abhängig. Erst 1977 wird ein Teil dieser juristisch verankerten Abhängigkeit – zumindest formell – verändert. Im Zuge einer Reform des Ehe- und Familienrechts wird das Primat der heterosexuellen Hausfrauenehe abgemildert. Frauen mussten bis 1977 ihren Ehepartner nach Erlaubnis fragen, um einer Lohnarbeit nachzugehen – und waren damit finanziell stark von Männern abhängig. Auch wurde 1977 das Scheidungsrecht verändert, so dass eine Scheidung für Frauen weniger existenzbedrohend war. Auch Gewalt gegen Frauen – mitunter innerhalb der Ehe – wurde in den 1970er Jahren von der aufkommenden Frauenbewegung thematisiert und erste autonome Frauenhäuser als Schutzorte gegen männliche Gewalt eingerichtet.15 Lesben fingen in den 1970er Jahren an, sich zu organisieren und die heteronormative Zurichtung in Frage zu stellen. Dass es um viel ging in der Frauenbewegung, darüber war man sich einig. Mit welchen Mitteln und Instrumenten das zu erreichen sei und wo sich die Kampffelder befinden, war hingegen kontroverser.

 

Vor dieser Gemengelage fanden Teile der Frauenbewegung, dass Künstlerinnen international 1877-1977 eben auch zu konform mit den Gepflogenheiten der Kunstinstitutionen sei: Die Schau bricht tatsächlich wenig mit erprobten Methoden des Ausstellens – die Orte sind klassische Kunstausstellungsräume, die Hängung und Szenografie der Ausstellung entspricht den gängigen Konventionen, die Räume weiß gestrichen, die Kunst ordentlich gerahmt und akkurat gehängt. „Auch am geweihten Schauplatz wird nicht gerührt – Kunst im Musenstempel, wie ihre Pilgerinnen.“16 Sie passt sich den Räumen an, aber setzt trotzdem neue Themen und Akzente innerhalb der gängigen Codes.

 

Auch kam die feministische Kritik, dass die Ausstellung in ihrer Aufmachung und durch die Auswahl von Kunstwerken von formell anerkannten Künstlerinnen an einem elitären Kunstbegriff festhält. So schlägt Barbara Duden – Geschlechterforscherin und Mitbegründerin der frauenbewegten Zeitschrift Courage – in ihrer Kritik an der Ausstellung einen breiteren Begriff von kreativem Schaffen vor, in dem „alles, was Frauen machen, wenn es wirklich ihre Erfahrungen ausdrückt, ‚Kunst‘ [ist], denn wir glauben nicht an die Kunst der Museen, in denen Frauen immer verschwiegen wurden“17 . Dieser Ansatz wird anderswo in Frauenausstellungen verwirklicht – bei denen tatsächlich alles gezeigt wird, was Frauen produzieren, unabhängig von ihrer künstlerischen Ausbildung und dem zugeschriebenen Kunstwert der Arbeiten. So wurde 1975 in Kopenhagen die Ausstellung „Women’s Exhibition XX“ in der Kunsthal Charlottenborg nach diesem Prinzip kuratiert, die Sarah Schuman auch bekannt war.18 Der Unmut ging so weit, dass es wenige Wochen nach Eröffnung von Künstlerinnen international 1877-1977 eine Demonstration von Feministinnen vor dem Schloss Charlottenburg sowie Interventionen in die Ausstellung gab, um der Kritik Gehör zu verschaffen.19

 

Diese Ansicht bleibt in der heterogenen Frauenbewegung nicht unwidersprochen. Unterstützerinnen des Projektes wie die Literaturwissenschaftlerin und Autorin Silvia Bovenschen verteidigen gerade den Ansatz des Kuratierens, des Auswählens und rufen dazu auf, die Ausstellung als „Teil eines Diskussionsprozesses“ zu begreifen und sich auf „das Medium einzulassen, auf das, was es in seiner Formsprache vermittelt, jenseits des gewohnten und erstarrten Systems der visuellen Signale, die uns umgeben“20 .

 

Interessant ist aus heutiger Sicht ein Aspekt, der damals kaum besprochen wurde: Nicht-heterosexuelle Lebensweisen werden eigentlich gar nicht thematisiert. Das ist durchaus überraschend, nicht zuletzt, da es sowohl unter den Organisatorinnen als auch Künstlerinnen welche gab, die lesbisch lebten. Darüber hinaus zeigten auch einige der ausgestellten Kunstwerke einen queeren gaze. Nur in einer Rezension (wieder von Cillie Rentmeister) wird als Randnotiz angemerkt, dass Themen der Frauenbewegung wie „Frauenliebe“16 und andere ausgespart werden. Aber sonst ist es erstaunlich still um die Lebenswelten von Frauen, die lesbisch begehren und leben.

 

Trotz aller – teilweise auch berechtigter Kritik – war Künstlerinnen international 1877-1977 wichtig, ist aber auf seltsame Weise vergessen worden in der späteren Bezugnahme ähnlicher Projekte. Ihre Geste – das Sichtbarmachen, das Aufzeigen von Ungleichheit im Kunstbetrieb und das Einfordern eines Platzes für marginalisierte Positionen – sollte später noch mehrfach wiederholt werden. Nach ihr sollten Projekte wie das 1986 in Berlin gegründet „Das verborgene Museum“ folgen, das im wahrsten Sinne verborgene Künstlerinnen wieder ans Licht brachte. Das verborgene Museum suchte in den Depots der (West-)Berliner musealen Sammlungen und in Archiven, machte künstlerische Werke und Lebensgeschichten von vergessenen Künstlerinnen sichtbar und versuchte sie öffentlich zu würdigen.21 International machten spätestens 1985 die US-amerikanischen Guerilla Girls mit feministischen Aktionen drauf aufmerksam, dass es ein massives Ungleichgewicht von Künstlerinnen und Künstlern in Museen gibt. So zum Beispiel mit dem mittlerweile bekannten Spruch "Do women have to be naked to get into the Met. Museum?" (1989), der als Poster verbreitet wurde. Skandalisiert wurde darin, dass in einer Überblicksausstellung im New Yorker Metropolitan Museum of Art nur 5 Prozent der ausgestellten Werke von Künstlerinnen waren, aber 85 Prozent der Akte nackte Frauen zeigten. Das Ungleichgewicht ist auch heute, über 30 Jahre später, in den Kunstmuseen dieser Welt noch nicht aufgehoben.

In einer Aktion im Kölner Museum Ludwig, das Kunst des 20. und 21. Jahrhunderts zeigt, haben die Guerilla Girls 2016 nochmal nachgezählt. In ihrer Videoarbeit fragen sie „What‘s 89 % men and 97 % white in one of Germanys most diverse citys?“ und antworten mit „Museum Ludwig“. (Übersetzt: „Was ist in einer der vielfältigsten Städte Deutschlands zu 89% männlich und 97% weiß? Das Museum Ludwig“) Von den 3496 Werken der Sammlung sind nur 11 % von Frauen, davon sind wiederum nur 3 % von Frauen of Color. Seit 1989 sind lediglich 20 % der Einzelausstellungen von Künstlerinnen und nur eine einzige davon war von einer Frau of Color.22

Dass sich auch anderswo erschreckend wenig getan hat, zeigen ein paar paradigmatische Beispiele: Nur 40 der ca. 1000 Werke der Sammlung der Münchner Pinakothek stammen von Künstlerinnen.23 Zwischen 2007 und 2014 waren weniger als 30 Prozent der Einzelausstellungen der Berlinischen Galerie und des Hamburger Bahnhofs von einer Künstlerin. Zwischen 2015 und 2019 gibt es in der Berlinischen Galerie zwar einen fast gleichen Anteil von Frauen in den Gruppenausstellungen, aber weiterhin sind nur 28 Prozent der Einzelausstellungen von Künstlerinnen. Diesem „show gap“ kann auch ein ebenso signifikanter „pay gap“ daneben gestellt werden: 2019 haben laut Daten der Künstlersozialversicherung weibliche bildende Künstlerinnen die dort versichert sind, 29 Prozent weniger Einkommen als männliche Künstler.24

 

Durch die Institutionen zur queer-feministischen Utopie?

Konkret ging es in der Debatte um Künstlerinnen international 1877-1977 um mehrere Fragen. Einmal um die Frage der Repräsentation – damals noch sehr binär wird eine Ungleichheit von ausgestellten Künstlerinnen und Künstlern attestiert und als Antwort eine große Menge an künstlerischen Positionen von Frauen ausgestellt. Als Statement, dass es sie doch gibt, sie aber vergessen, abgewertet, versteckt sind. Ein Blick in die gegenwärtigen Kunstmuseen lässt zwar zaghaft hoffen, ist aber wie die Beispiele oben zeigen immer noch erstaunlich unausgewogen.

 

Es ging aber auch um die Suche einer „weiblichen Ästhetik“ – gibt es einen spezifischen Blick von Künstlerinnen? Oder – ich würde heute vielleicht eher von einer Sensibilität schreiben, die unterschiedliche Subjektpositionen mit sich bringen. Ich glaube, dass diese Suche – wenn man sie nicht essentialistisch verstehen will – anerkennt, dass es unterschiedliche Standpunkte, Erfahrungen und Zurichtungen in dieser Gesellschaft gibt, die auch die künstlerische Produktion beeinflussen. Das ist nicht nur ästhetisch zu verhandeln, sondern viel weitreichender und umfasst Zugangsvoraussetzungen zur Kunstwelt, ökonomische Umstände, die es ermöglichen, überhaupt kreativ-künstlerisch tätig zu sein usw. Diese Debatte hat sich immens diversifiziert und nimmt neben der Kategorie „Geschlecht“ zunehmend intersektionale Verschränkungen in den Blick. Sie betrifft nicht nur Künstler*innen, sondern alle im Kulturbetrieb Tätigen, die Ausstellungen gestalten und kuratieren, Museen leiten und Förderprogramme aufsetzen.25 Auch hier gibt es diverse Schieflagen, nicht nur entlang der Achse Geschlecht; ökonomische Herkunft und race spielen ebenfalls eine enorme Rolle für die Wahrscheinlichkeit, überhaupt Zugang zu Institutionen zu bekommen. Die Spielregeln dieser Institutionen sind oft nach wie vor an weißen, männlichen, bildungsbürgerlichen Codes orientiert, sich darin zu bewegen und sie zu verändern, ist kräftezehrend.

 

Und zu Letzt greift die Kritik aus der Frauenbewegung, die Ausstellung sei immer noch elitär und für viele ausschließend, auch die Frage auf, für wen eigentlich Kunst zugänglich sein soll. Wer traut sich in diese Institutionen? Wer ist eingeladen, wer fühlt sich willkommen, wem soll diese ästhetische Erfahrung zuteilwerden und wer verbleibt als „Nicht-Besucher*in“ in der Statistik – zu lange von deutschen Museen und Kulturorten als diejenigen abgewertet, die sich nicht interessieren. Eine kritische Selbstreflexion, warum das gezeigte Programm für große Teile der Bevölkerung wenig zu bieten hat, erfolgt hingegen kaum. Und warum auch sollten Menschen in Ausstellungen kommen, in denen ihre Erfahrungen und Lebensrealitäten nicht oder nur unzureichend vorkommen, in denen ihre Themen und Fragen nicht verhandelt werden? Das mag bei Repräsentation anfangen – sehe ich mich in den gezeigten Kunstwerken oder finden sich meine Perspektiven unter den Künstler*innen wieder?

Es geht aber weit über Repräsentation hinaus –kann ich mich zu den Kunstwerken in Beziehung setzen, mit meinem Erlebten anknüpfen und mich im besten Sinne inspirieren lassen? Sind Räume zugänglich und für mich gemacht? Wird eine Welt kreiert, in der die Perspektiven hegemonialer Kultur reproduziert werden, oder bleibt Raum für marginalisierte Erzählungen?

 

Das hieße neben der noch lange nicht erreichten Geschlechterparität auch die Existenz anderer geschlechtlicher Identitäten, wie trans*, inter* und nicht-binärer Menschen selbstverständlich anzuerkennen – sei es in gegenderten Objektbeschriftungen, der Einladungspolitik der Künstler*innen oder durch die Art und Weise, wie in Texten vergeschlechtliche Zuschreibungen reflektiert werden. Und auch andere queere Lebensrealitäten mitzudenken, nicht unsichtbar zu machen, sie zur zentralen Perspektive zu setzen und dominante und hegemoniale Erzählungen zu dezentralisieren. Das fängt bei vermeintlichen Kleinigkeiten an – wenn in Objekttexten der Dada-Künstlerin Hannah Höch zwar ihre Ehe mit einem Mann erwähnt wird, ihre Beziehung zu Frauen aber verschwiegen wird. So, als ob nur die Beziehung zu einem Mann für ihr Leben und Schaffen von Bedeutung sei. Oder wenn in Ausstellungen über die Malerin Lotte Laserstein immer wieder sehr vehement zurückgewiesen werden muss, dass es auch eine lesbische Lesart ihrer Werke gibt oder sich gar ein queerer gaze darin erkennen lässt. Und wenn queere Lesarten von Objekten und Kunstwerken immer wieder gar nicht erst erwähnt werden. In diesen Setzungen und Auslassungen wird ganz subtil eine Norm reproduziert, die – in diesem Fall – queere Liebens- und Lebensweisen und Identitäten ausschließt, „verbesondert“ oder marginalisiert.26 Das lässt sich auch für andere Perspektiven durchbuchstabieren.

 

Es betrifft aber auch die Gestaltung der Räume, der Gebäude, die Hängung und Atmosphäre. Hängen Kunstwerke auf einer Sichthöhe, die auch kleine Menschen oder Menschen im Rollstuhl gut sehen können? Oder sind Hängungen an stehenden, mittelgroßen Männern ausgerichtet. Muss ich unbedingt ganz leise sein und falle auf, wenn ich Kunst sehen will und mich dabei unterhalte oder lache? Werde ich still zurechtgewiesen, wenn ich mich nicht an implizite Codes der Institution halte?

 

All das gilt im Übrigen nicht nur für Kunstmuseen, sondern betrifft auch andere Kulturinstitutionen.

 

Auch wenn die Ausstellung Künstlerinnen international 1877-1977 mittlerweile über 45 Jahre zurück liegt, hat sie Fragen aufgeworfen, die heute noch relevant sind und von den Rändern des Kulturbetriebs gestellt werden. Wenn deutsche Museen ihrem demokratischen Anspruch gerecht werden wollen, müssen sie endlich eigene Antworten auf diese Fragen finden – sonst drohen sie in den Äther der Bedeutungslosigkeit zu versinken. Immerhin: Dort würde zumindest das ewige Gejammer über die Nicht-Besucher*innen verstummen …

  • 1Vgl. Kaiser, Monika (2013). Neubesetzungen des Kunst-Raumes: Feministische Kunstausstellungen und ihre Räume, 1972-1987. (Edition Museum, 2). Bielefeld: transcript Verlag, S.141f.
  • 2Vgl. Kaiser, Monika (2013). Neubesetzungen des Kunst-Raumes: Feministische Kunstausstellungen und ihre Räume, 1972-1987. (Edition Museum, 2). Bielefeld: transcript Verlag, S.141.
  • 3Vgl. ngbk/Frauen in der Kunst (Bierther, Ursula; Kuwertz, Evelyn; Petersen, Karin u.a.) (1977): Vorwort, in: Künstlerinnen international 1877-1977, Ausstellungskatalog, Berlin, S.1-4.
  • 4ngbk/Frauen in der Kunst (Bierther, Ursula; Kuwertz, Evelyn; Petersen, Karin u.a.) (1977): Künstlerinnen international 1877-1977, Ausstellungskatalog, Berlin, S.2.
  • 5Buschmann, Renate: Wann ist der Künstler eine Frau? Konzeption und Kontroversen um die Ausstellung ‚Künstlerinnen international 1877–1977’, in: NGBK – 40 Jahre, hrsg. von Neue Gesellschaft für Bildende Kunst, Berlin 2008, S. 177.
  • 6Stelzl, Ulrike (1977): „Die zweite Stimme im Orchester“ – Aspekte zum Bild der Künstlerin in der Kunstgeschichte: in: ngbk/Frauen in der Kunst (Bierther, Ursula; Kuwertz, Evelyn; Petersen, Karin u.a.): in: Künstlerinnen international 1877-1977, Ausstellungskatalog, Berlin, S.118.
  • 7Vgl. ngbk/Frauen in der Kunst (Bierther, Ursula; Kuwertz, Evelyn; Petersen, Karin u.a.) (1977): Künstlerinnen international 1877-1977, Ausstellungskatalog, Berlin. Der Katalog enthält auch ein Werkverzeichnis, allerdings ohne Abbildungen.
  • 8Kaiser, Monika (2013). Neubesetzungen des Kunst-Raumes: Feministische Kunstausstellungen und ihre Räume, 1972-1987. (Edition Museum, 2). Bielefeld: transcript Verlag, S.138.
  • 9Vgl. Presseinformation Berlinische Galerie (2020). Rekordjahr. Über 250.000 Besucher*innen in der Berlinischen Galerie, online: https://berlinischegalerie.de/assets/downloads/presse/Pressetexte/Allge…
  • 10Vgl. SPK-Jahresbericht (2021): Wir bauen wir die Zukunft?, online: https://www.preussischer-kulturbesitz.de/fileadmin/user_upload_SPK/docu…, S. 126.
  • 11Pitz, „Fürs andere Geschlecht“, Der Abend, Berlin-West, 22.03.1977.
  • 12Margarethe von Schwartzkopf: Kunst ein lahmes Pferd vor dem Karren des Feminismus. In: Die Welt, 24.03.1977.
  • 13Ohff, Heinz: Die Medaille ohne Kehrseite. Zur Ausstellung „Künstlerinnen international - 1877-1977“ in der Orangerie. In: Der Tagesspiegel, 10.03.1977.
  • 14Buschmann, Renate: Wann ist der Künstler eine Frau? Konzeption und Kontroversen um die Ausstellung ‚Künstlerinnen international 1877–1977’, in: NGBK – 40 Jahre, hrsg. von Neue Gesellschaft für Bildende Kunst, Berlin 2008, S. 183f.
  • 15Das erste autonome Frauenhaus wurde 1976 in Berlin gegründet. Vgl. Lena Kühn (2019): Erstes Frauenhaus Berlin (1976-2001), in: Digitales Deutsches Frauenarchiv, online: https://www.digitales-deutsches-frauenarchiv.de/akteurinnen/erstes-frau….
  • 16 a b Rentmeister, Cillie (1977): Nur nicht aus dem Rahmen fallen. In: Emma, Nr. 5, 1977, S. 55.
  • 17Duden, Barbara (1977): Die hohe und die niedere Jagd. In: Courage 2, Heft 5, 1977, S. 48.
  • 18Vgl. Buschmann, Renate: Wann ist der Künstler eine Frau? Konzeption und Kontroversen um die Ausstellung ‚Künstlerinnen international 1877–1977’, in: NGBK – 40 Jahre, hrsg. von Neue Gesellschaft für Bildende Kunst, Berlin 2008, S. 187.
  • 19Vgl. Buschmann, Renate: Wann ist der Künstler eine Frau? Konzeption und Kontroversen um die Ausstellung ‚Künstlerinnen international 1877–1977’, in: NGBK – 40 Jahre, hrsg. von Neue Gesellschaft für Bildende Kunst, Berlin 2008, S. 183f. Siehe außerdem die Reflexion von Sarah Schuhmann und Silvia Bovenschen in der künstlerischen Videoinstallation von Michaela Melián, „Silvia Bovenschen und Sarah Schumann“, 2012, 3 Kanal Video- und Audioinstallation, 60 min. In der großartigen Videoarbeit interviewt Melián die beiden Frauen vor allem zur Ausstellung „Künstlerinnen international 1877-1977“.
  • 20Bovenschen, Silvia: Die Front der falschen Suppenschildkröten. In: Courage 2, Heft 5, 1977, S. 42f.
  • 21Vgl. https://www.dasverborgenemuseum.de/wir-%C3%BCber-uns
  • 22Vgl. Guerilla Girls (2016), Girlsplaining Museum Ludgwig, online: https://www.guerrillagirls.com/2016-ludwig
  • 23Vgl. Effern, Heiner (15.03.2016), In den städtischen Museen gibt es kaum Kunst von Frauen, in: Süddeutsche Zeitung, online unter: https://www.gender-blog.de/beitrag/sehschwaeche-gegenueber-kuenstlerinn…
  • 24Vgl. Berufsverband Bildende Künstler*inne Berlin (2019): Fact-Sheet Gender Gap, online: https://www.bbk-berlin.de/kalender/3-foerdersummit-bildende-kunst; fair shaire! Sichtbarkeit für Künstlerinnen, https://www.fairshareforwomenartists.de/material/studien/; sowie: Reilly Maura (26.05.2015): Taking the Measures of Sexism: Facts, Figures and Fixex, in: ArtNews, online: https://www.artnews.com/art-news/news/taking-the-measure-of-sexism-fact…
  • 25Das sind nur die sehr sichtbaren Positionen. All die unsichtbaren, aber systemrelevanten Positionen wie das Facility Management, die Museumsaufsichten, die Menschen an der Kasse, das Sekretariat, die Technik-Betreuung haben auch eine Schieflage – hinsichtlich ihrer gesellschaftlicher Positionierung, aber auch ihrer Bezahlung und der Anerkennung ihrer Arbeit für die Ermöglichung eines Museumsbetriebs.
  • 26Ich habe zu diesem Aspekt ausführlich hier geschrieben: Klugbauer, Collin (2023), Diana auf dem Sonderpfad. Über den Umgang mit queeren Themen im Museum, in: Zeitgeschichte-online, online: https://zeitgeschichte-online.de/themen/diana-auf-dem-sonderpfad

Über den*die Autor*in

Collin Klugbauer beschäftigt sich mit queeren und feministischen Ausstellungen und musealen Praxen. Klugbauer arbeitet als Kurator*in und wissenschaftliche*r Mitarbeiter*in im Ausstellungsmanagement im Schwulen Museum Berlin (SMU). Dort hat Klugbauer u.a. die queere Kunstausstellung „Lesbisches Sehen“ (2018) und zuletzt die kulturhistorische Ausstellung „Love at First Fight!“ / „Queer As German Folk“ (2019) zu LSBTIQ* Bewegungen, ein Kooperationsprojekt mit dem Goethe-Institut, co-kuratiert.