Aktenschränke mit geöffneten Schubladen, aus denen Zettel fliegen, eine Uhr und ein Stundenglas, Zeitungsartikel, Jahreszahlen
Nationale Identität und Nationalstolz sind beide ein Trompe-l'oeil. Die Kunst sollte die Möglichkeit nicht aufgeben, das Denken und den Wandel anzuregen.
- Ulay

Text: Carlos Kong

Übersetzung: Karolina Golimowska

 

Im Winter 1976 reiste ein junger Künstler namens Ulay von Amsterdam, wo er zu dem Zeitpunkt Kunst studierte, nach West-Berlin. Der 1943 als Frank Uwe Laysiepen in Solingen geborene Ulay begann seine künstlerische Karriere in den 1970er Jahren mit Fotografien und Performances, die Geschlechterrollen und gesellschaftliche Hierarchien in Frage stellten. 1975 lernte Ulay seine spätere Lebens- und Arbeitsgefährtin, die heute renommierte Performance-Künstlerin Marina Abramović, kennen. Gemeinsam schufen sie ein einflussreiches Werk von „Relation Works“, kurzen Live-Performances, deren konzeptionelle Parameter und physische Intensität die Geschichte der Performance-Kunst revolutionierten. Ulays Reise nach West-Berlin im Jahr 1976, einer Stadt, die damals von der Berliner Mauer umringt war, bedeutete eine Art Rückkehr. Während er die Hauptstadt des Kalten Krieges durchquerte, konzipierte er ein neues Kunstwerk mit dem Titel „Da ist eine kriminelle Berührung in der Kunst“, das die Machtstrukturen der deutschen Identität eindringlich hinterfragen sollte. Bei Ulays Kunstwerk handelte es sich nicht um ein Kunstobjekt im traditionellen Sinne, sondern vielmehr um eine künstlerische „Aktion“, die aus einem großen Kunstraub resultierte. Der Künstler plante, Carl Spitzwegs berühmtes Gemälde „Der arme Poet“ (1839) aus der Neuen Nationalgalerie zu stehlen und es in einer Kreuzberger Wohnung in der Muskauer Straße aufzuhängen, in der eine türkische Einwandererfamilie lebte.1

 

Am 12. Dezember 1976 führte Ulay den Kunstraub durch, der bemerkenswerterweise nach Plan verlief, wie die erhaltenen Schwarz-Weiß-Filmaufnahmen belegen. Die „Aktion“ begann am Eingang der ehemaligen Hochschule der Künste Berlin (der heutigen Universität der Künste Berlin), wo der Künstler eine großformatige Reproduktion von Spitzwegs „Der arme Poet“ aufhängte. Anschließend fuhr Ulay mit seinem Van durch den Tiergarten zur Neuen Nationalgalerie, gefolgt von einem weiteren Auto, aus dem Jörg Schmitt-Reitwein den Künstler filmte. Marina Abramović filmte Ulay wiederum aus dem Inneren des Museums, wie er das Gemälde von der Wand nahm und durch einen Notausgang nach draußen stürmte, gefolgt von Sicherheitsbeamten des Museums. Anschließend fuhr Ulay den Landwehrkanal entlang bis zum Kottbusser Tor, wo er seinen Van stehen ließ und mit dem Gemälde durch Kreuzberg lief. Ulay hängte eine weitere Reproduktion des Spitzweg-Gemäldes vor dem Künstlerhaus Bethanien am Mariannenplatz auf und wies damit auf die Verbindung zwischen den drei vorherrschenden Institutionen des Kunstsystems hin: den Künstlerateliers (im Künstlerhaus Bethanien), der Kunsthochschule (der Hochschule der Künste) und dem Museum für moderne Kunst (der Neuen Nationalgalerie). Er betrat eine öffentliche Telefonzelle, wählte die Nummer des Museums und bat darum, den Direktor zu sprechen, um seinen Diebstahl zu melden. Als Ulay die Wohnung der türkischen Einwandererfamilie in der Muskauer Straße betrat, schwenkte die Kamera in das tapezierte Wohnzimmer. Die Mutter, die von ihren drei Kindern begleitet wird, lächelt in die Kamera, als sie beobachtet, wie Ulay ein gerahmtes Bild von der Wand nimmt und es durch das Gemälde von Spitzweg  ersetzt, um seine „Aktion“ zu beenden. Die geschnittene Filmdokumentation enthält auch Aufnahmen von einer finissageartigen „Pressekonferenz“ in der Mike Steiner Gallery, einem ehemaligen Treffpunkt der Nachkriegsavantgarde, der dem Produzenten von Ulays Aktion gehörte. An den Wänden der Galerie hingen Zeitungen mit Schlagzeilen, die über die Kontroverse um Ulays inszenierten Diebstahl berichteten. Die überwiegend weiße Westberliner Kunstwelt begegnete Ulay mit Neugierde.

 

Warum hat Ulay sich veranlasst gesehen, Carl Spitzwegs Gemälde „Der arme Poet“ zu stehlen und es in der Wohnung einer türkischen Einwandererfamilie aufzuhängen? Und wie konnte aus einem Kunstraub ein Kunstwerk entstehen? Für Ulay war der Diebstahl von Spitzwegs Gemälde in erster Linie eine künstlerische Geste der Institutionskritik. Er war sich der symbolischen Bedeutung des Gemäldes als nationales Kulturgut bewusst: „Hitler liebte dieses Bild und bewunderte Spitzweg fanatisch“2 , erinnerte sich der Künstler. Ulays „Aktion“ stellte die Autorität von Museen im Allgemeinen und die der Neuen Nationalgalerie im Besonderen als ausschließende Institutionen in Frage. Die Neue Nationalgalerie, ein von Mies van der Rohe entworfener modernistischer Kunsttempel, wurde 1968 als Teil des Versuchs West Berlins eröffnet, das Image der Nachkriegszeit durch Stadterneuerung und neue kulturelle Einrichtungen wiederherzustellen.3 Ulay lehnte die Institutionalisierung von Kunst in Museen und ihre Instrumentalisierung für Zwecke der staatlichen Politik und der Erfüllung nationalistischer Fantasien ab; er sah darin eine „kriminelle Berührung“ der Kunst. Mit dem Diebstahl und der Verlegung einer national wertvollen künstlerischen Ikone wollte Ulay die Aufmerksamkeit auf das lenken, was die westdeutsche Gesellschaft gewaltsam ausschloss: die Bevölkerung ausländischer Arbeitsmigrant*innen, die damals abwertend als „Gastarbeiter“ bezeichnet wurden, die unter ausbeuterischen Arbeits- und Lebensbedingungen lebten, denen politische und rechtliche Rechte vorenthalten blieben und die mit der Realität des alltäglichen und strukturellen Rassismus konfrontiert waren.

 

Ulays „Aktion“ wurde am nächsten Tag zum Medienspektakel; er wurde von der Presse zunächst als Linksradikaler, dann als Wahnsinniger verspottet.4 Der ironische Ton einer Schlagzeile, „Armer Poet sollte Türken-Wohnung zieren“, offenbart die rassistische Haltung, die die Menschlichkeit türkischer Einwanderer*innen leugnete, indem sie sie direkt dem vermeintlich zivilisierten Bereich der „Hochkultur“ entgegensetzte. Ulays „Aktion“ fand drei Jahre nach dem offiziellen Ende der Anwerbung von Arbeitsmigrant*innen im Jahr 1973 statt, in einer politisch instabilen Zeit, die von wirtschaftlicher Rezession, der Ölkrise 1973 und den gewaltsamen Handlungen der RAF geprägt war. Zu dieser Zeit wurden türkische Einwanderer*innen in Westdeutschland zu Sündenböcken gemacht, ausgegrenzt und verunglimpft. Dies zeigte sich in rassistischen gesetzlichen und bürokratischen Praktiken, die ihre Existenz als Mitbürger*innen leugneten, ihre Rückkehr in die Türkei förderten und ihnen eine angemessene Unterkunft und soziale Stellung verwehrten.5 Einwanderer*innen im Allgemeinen und Türk*innen im Besonderen wurden als ein monolithisches „Problem“ betrachtet. Ihre soziale Ausgrenzung wurde in der westdeutschen Vorstellungswelt fälschlicherweise mit Kriminalität gleichgesetzt, eine weitere „kriminelle Berührung“, die für Ulay untrennbar mit den sterilen Bereichen von Kunst und Kultur verbunden war. Besonders betroffen war der Künstler von der Ausgrenzung und Verarmung von Einwanderer*innen in dem damals am Rand gelegenen Berliner Stadtteil Kreuzberg. Indem er das Gemälde von Spitzweg in den Bezirk brachte, wollte er auf die systemische Ausgrenzung und Kriminalisierung der dort lebenden Migrant*innen aufmerksam machen.

 

Obwohl Ulays Aktion für die damalige Zeit radikal war, offenbart die Betrachtung des Werks aus heutiger Perspektive seine Ambivalenzen und potenzielle Grenzen. Die Mutter und die drei Kinder, aus denen die „türkische Gastarbeiterfamilie“ besteht, sind in den Aufnahmen von der „Aktion“ nicht zu hören und bleiben in den archivierten Aufzeichnungen anonym. Sie wurden nicht als Mitwirkende oder Beteiligte gesehen; Ulay informierte sie nicht über den Diebstahl des Gemäldes, sondern sagte lediglich, dass er einen Dokumentarfilm drehen würde.6 Die Familienmitglieder hatten keine Gelegenheit, ihre eigenen Erfahrungen im Zusammenhang mit Migration zu erzählen und wurden stattdessen als rassifizierte Figuren in der performativen Darstellung eines weißen Künstlers benutzt. Indem Ulay sie aufgrund ihrer Nationalität als „türkisch“ einordnete, ignorierte er die Selbstverortung der Familie, während er implizit die ethnokulturelle Pluralität der Einwanderer*innen aus der Türkei ausblendete. Während Ulay das gestohlene Spitzweg-Gemälde nach Kreuzberg brachte, um negative Wahrnehmungen der migrantischen Bewohner*innen in Frage zu stellen, brachte sein Diebstahl die Einwandererfamilie paradoxerweise in eine riskante Situation, die auf der vermeintlichen Unvereinbarkeit von Migrant*innen und den, durch die westliche Kunst verkörperten liberalen Werten beruhte. Der Künstler übersah zudem, was die Kunsthistorikerin Burcu Dogramaci als die ästhetische Bedeutung des Wohnzimmers als eines sozialen Raums im Leben türkischer Einwanderer*innen in Westdeutschland beschreibt, in dem „Erinnerungen und emotionale Verbindungen in Möbeln und Objekten verdichtet werden“.7 Ulays Anwesenheit im Wohnzimmer einer türkischen Familie und der Austausch der dortigen Dekoration durch das gestohlene Spitzweg-Gemälde können auch als Aufdringlichkeit gesehen werden.

 

Achtunddreißig Jahre nach Ulays Kunstdiebstahl entwarf der Künstler Aykan Safoğlu eine künstlerische Intervention als Antwort auf diese „Aktion“. Der 1984 in Istanbul geborene und in Berlin und Wien lebende Künstler nutzt in seiner künstlerischen Praxis vor allem Fotografie, Film und Performance, um die Überschneidungen von Migration, race, Klasse, Queerness und Verwandtschaftsbeziehungen zu untersuchen. Im Rahmen des „Festivals of Future Nows“, das 2014 in der Neuen Nationalgalerie stattfand und vom Institut für Raumexperimente der Universität der Künste Berlin organisiert wurde, erhielt Safoğlu den Auftrag, die Performance „Çile Bülbülüm“ [My Sorrow Nightingale] zu produzieren. Die Intervention des Künstlers ist von Ulays Kunstdiebstahl inspiriert und spricht gleichzeitig zu ihm zurück, indem sie die Stimmen der Einwanderer*innen, die sowohl in der „Aktion“ als auch in der Gesellschaft insgesamt zum Schweigen gebracht werden, nachträglich verstärkt.

 

Im Rahmen seiner Intervention organisierte Safoğlu einen türkischsprachigen Pop-up-Chor, der sich aus mehreren Generationen von Einwanderer*innen und ihren Nachkommen zusammensetzte und zu dem auch einige Bewohner*innen der Muskauer Straße gehörten. Die Gründung des Chors durch den Künstler spiegelte die zentrale Bedeutung der Musik im Leben von Einwanderer*innen wider, da die musikalischen Traditionen des Heimatlandes die emotionale Verbindung zur eigenen Kultur und Sprache in der Ferne aufrechterhalten können. Safoğlus Pop-up-Chor verweist zudem implizit auf die Geschichte des Türkischen Arbeiterchor Westberlin [Batı Berlin İşçi Korusu], der in den 1970er Jahren vom Komponisten und Musiker Tahsin İncirci gegründet wurde und der erste türkischsprachige Arbeiterchor außerhalb der Türkei war, der bei kulturellen Veranstaltungen in West-Berlin eine deutliche Präsenz hatte.8

 

In Safoğlus Intervention wiederholt sein Chor die Fahrt von Ulay nach Kreuzberg. Der Chor versammelte sich in der Neuen Nationalgalerie und sang „Çile Bülbülüm“, ein bekanntes türkisches Lied, komponiert von Sadettin Kaynak mit einem Text von Vecdi Bingöl: „Issız yuvanda tektin / Çekilmez çile çektin / Kim derdi gülecektin / Çile bülbülbüm çile [Du warst allein in deinem einsamen Nest / Du hast das Unerträgliche erlitten / Wer sagte, du würdest lachen / Meine traurige Nachtigall]“. In diesem Auszug aus der zweiten Strophe wird der Schmerz, die Einsamkeit und die Freude, die eine Nachtigall erlebt, beschrieben. Die Nachtigall ist dabei eine Figur, die in Safoğlus Performance als Allegorie für einen eingewanderten Menschen dient. In seiner Rede, die dem Lied vorausging, wies der Künstler auf die generationsübergreifenden Schwierigkeiten von Einwanderer*innen in Deutschland hin und nannte die NSU-Morde als Beispiel für die Kontinuität des bedrohlichen Rassismus in der Gegenwart. Anschließend sang der Chor das Lied, und seine kollektive Stimme hallte strahlend durch den großen Saal des Museums und lud das Publikum dazu ein, sich Leid, Resilienz und Community neu vorzustellen. Ulays Performance „Da ist eine kriminelle Berührung in der Kunst“ stellte die Autorität der deutschen Kulturinstitutionen in Frage, indem sie auf deren Verwicklung bei der gesellschaftlichen Ausgrenzung von Einwanderer*innen aufmerksam machte. Safoğlu wiederum bot eine kraftvolle Antwort auf das Erbe von Ulays Kunstraub, indem er die Stimmen der Einwanderer*innen und ihre Erfahrungen des Widerstands und der Freude in den Mittelpunkt des kulturellen Lebens im postmigrantischen Deutschland stellte.

 

Über den Autor

Carlos Kong ist Autor und Kunsthistoriker und lebt in Berlin. Er promoviert in Kunstgeschichte an der Princeton University und in Filmwissenschaft an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, wo er an einer Dissertation über postmigrantische Ansätze zu Archiven der türkisch-deutschen Migration in zeitgenössischer Kunst und Film arbeitet. Er verfasst Beiträge für verschiedene Kunst- und Kulturzeitschriften, Wissenschafts- und Kunstbücher sowie kuratorische Programme.

  • 1Maria Rus Bojan und Alessandro Cassin, Whispers: Ulay on Ulay. Amsterdam: Valiz (2014), S. 119.
  • 2Maria Rus Bojan and Alessandro Cassin, Whispers: Ulay on Ulay. Amsterdam: Valiz (2014), p. 117.
  • 3Die Neue Nationalgalerie entstand am West-Berliner Kulturforum neben zahlreichen anderen Institutionen, die seit den 1960er Jahren zwischen Potsdamer Platz und der Südseite des Tiergartens entstanden, darunter die Staatsbibliothek und die Philharmonie von Hans Scharoun. West-Berlin baute neue Institutionen auf, nachdem es verschiedene wichtige Sammlungen an Ost-Berlin verloren hatte, als die Institutionen und Bestände der Staatlichen Museen zu Berlin durch die Berliner Mauer geteilt wurden.
  • 4Siehe „Linksradikaler raubte unser schönstes Bild,” in BILD-Berlin, 13.12.1976, und “Irrer raubte in Berlin das weltberühmte Spitzweg-Gemälde,” in der B.Z., 13.12.1976.
  • 5Dazu wie das in der Verfassung von 1973 verankerte Recht auf Familienzusammenführung in der Praxis durch Bürokratie verhindert wurde, siehe Lauren Stokes, Fear of the Family: Guest Workers and Family Migration in the Federal Republic of Germany. Oxford: Oxford University Press (2022).
  • 6Siehe „Ulay Interview: How I Stole a Painting” (2017): https://www.youtube.com/watch?v=i2E0J6J3KGI.
  • 7Burcu Dogramaci, “Das Migrantische Wohnzimmer. Wohnen und Einrichten in einem fremden Land,” Migrazine (2022): https://migrazine.at/artikel/das-migrantische-wohnzimmer-wohnen-und-ein…. Für ein Kunstwerk aus dieser Zeit, das den Wohnraum türkischer Einwanderer*innen in Westdeutschland in den Mittelpunkt stellt, siehe Sema Poyrazs Film „Gölge – Zukunft der Liebe“ (1980).
  • 8So trat der Türkische Arbeiterchor Westberlin 1975 bei der Eröffnung der Ausstellung "Mehmet Berlin'de. Mehmet kam aus Anatolien" im Haus am Mariannenplatz auf, ebenso 1976 in der Berliner Philharmonie. Siehe Ruckhaberle, Dieter (Hg.), Mehmet Berlin'de. Mehmet kam aus Anatolien. Berlin: Kunstamt Kreuzberg/Berliner Festwochen/Türkischer Akademiker und Künstlerverein (1975), sowie Archivfotos von ihren Aufführungen: https://berlin.museum-digital.de/objects?tag_id=30678.