Aesthetics Of Access

[i:sˈθetɪks əv ˈækses]

Der Begriff „Aesthetics of Access“ ist Englisch und bedeutet Ästhetiken der Barrierefreiheit. Er bezeichnet eine Praxis in den Darstellenden Künsten: Barrierefreiheit wird in der Kunstproduktion von Anfang an und mit einem künstlerischen Anspruch eingebaut und nicht nachträglich hinzugefügt. Eine Bedingung dabei ist, dass behinderte Künstler*innen mit ihrer Expertise am Prozess beteiligt sind.

 

Das Wort „Access“ wird in diesem Fall nicht wörtlich mit „Zugang“ übersetzt, da damit auch gemeint sein kann, die Sprache einer Produktion zu verstehen oder sich ein Ticket leisten zu können. Barrierefreiheit bezieht sich hingegen spezifisch auf den Zugang von Menschen, die durch Barrieren behindert werden.

 

Die Mehrheit von Kulturinstitutionen und Künstler*innen geht derzeit davon aus, dass Barrierefreiheit ein möglichst unauffälliges Serviceangebot für behindertes Publikum darstellen sollte. Es wird nach einer Checkliste gefragt, mit der Barrierefreiheitsangebote unkompliziert und weniger lästig an jedes Kunstwerk angedockt werden können.

 

Handelt es sich z. B. um Neigungswinkel von Rampen im Bühnenraum oder geeignete visuelle Kontraste auf Informationsmaterial, kann eine Standardisierung hilfreich sein. Barrierefreiheit in der Kunst muss allerdings genauso viele Erscheinungsformen haben dürfen wie die Kunstwerke selbst.

 

Die britische „Graeae Theatre Company“, die das Konzept der „Aesthetics of Access“ maßgeblich geprägt hat, schafft damit einen Gegenentwurf zum puren Servicegedanken von nachträglich hinzugefügter Barrierefreiheit, auch „Retrofitting“ genannt. Graeae wird von behinderten Künstler*innen geleitet und beschäftigt sich seit Jahren mit den „Aesthetics of Access“. Sie entwickeln verschiedene Formen kreativer Barrierefreiheit. Für sie gilt grundlegend, dass behindertes Publikum von Anfang an im Schaffensprozess mitgedacht wird.

 

Anhand des Beispiels einer Tanzperformance lässt sich deutlich zeigen, welchen Unterschied es macht, behindertes Publikum mitzudenken oder eben nicht. Die meisten Tanzperformances werden so konstruiert, dass sie Bilder erzeugen, spannende Musik nutzen, eventuell komplexe oder englische Sprache verwenden und der Publikumsraum platzsparend und dunkel ist. Nachträglich wird dann eine Audiodeskription der visuellen Darbietung für blindes Publikum über Kopfhörer angeboten oder ein*e Gebärdensprachdolmetscher*in in einer Ecke des Bühnenraums platziert. Eventuell gibt es auch Untertitel oder leichte Sprache über Kopfhörer. Vor die erste Reihe links oder rechts außen wird ein einzelner Sitzsack neben den einzigen Rollstuhlplatz gelegt.

Diese Barrierefreiheitsmaßnahmen bewirken, dass eine behinderte Person nicht vom Theaterbesuch ausgeschlossen wird. Sie bedeuten allerdings nicht, dass die Person voll am ästhetischen Erleben teilhaben oder sich künstlerisch weiterentwickeln kann. Vielmehr wird das Konzept der Integration behinderter Menschen reproduziert. Ein Raum, der für die nicht-behinderte Mehrheitsgesellschaft geschaffen wurde, darf nun auch von behinderten Menschen besucht werden, wobei sie sich den gegebenen Bedingungen anpassen müssen.

 

Die Dramaturgie, die für ein nicht-behindertes Publikum erdacht wird, ist in den seltensten Fällen kompatibel mit nachträglich hinzugefügten Barrierefreiheitsangeboten. Zur Erklärung, was Retrofitting in oben genannter Tanzperformance für behindertes Publikum bedeuten kann, hier einige Hinweise: Extern produzierte Audiodeskriptionen verfolgen meistens einen Rhythmus, der konträr zur Performance verläuft. So auch, wenn z. B. Momente von intendierter Stille mit der Beschreibung der visuellen Darbietung gefüllt werden. Ein*e taube*r Besucher*in muss zwischen den Performenden und der Verdolmetschung hin- und her blicken, wobei immer ein Teil des Inhalts verloren geht. Außerdem verpasst ein*e Besucher*in mit Lernbehinderung, die Kopfhörer für die Übersetzung in leichte Sprache nutzt, die Originalstimmen der Performenden. Die erste Reihe ist häufig Publikumsinteraktionen ausgesetzt. Eine rollstuhl- oder sitzsacknutzende Person hat in dem oben beschriebenen Fall keine Möglichkeit, autonom einen Sitzplatz zu wählen. Auch die ungeschriebenen Verhaltensregeln im Theaterraum, die unüberwindbare Barrieren für behindertes Publikum darstellen können, werden nicht adressiert oder umgedeutet.

 

Wenn eine Dramaturgie erdacht wird, gilt es einen stimmigen Bogen zu schlagen und einen gewünschten Rhythmus nicht zu verlieren. Das behinderte Publikum erlebt Kunst überwiegend durch den Filter eines Serviceangebotes. In den meisten Retrofitting-Prozessen erfährt es einen Kompromiss anstelle eines Kunstwerks.

 

Mittlerweile gibt es einige Beispiele von „Aesthetics of Access“, bei denen Künstler*innen ein diverses Publikum imaginieren. In der Produktion „Fux“ von Ursina Tossi wird das gesamte Publikum spielerisch durch das Bühnenbild geleitet und kann es somit taktil erfahren. Die Performance „SCORES THAT SHAPED OUR FRIENDSHIP“ von Lucy Wilke und Pawel Dudús bietet einen Publikumsraum mit verschiedenen Sitz- und Liegemöglichkeiten im gesamten Bühnenraum an. In der Produktion „Soiled“ von Michael Turinsky ist die Audiodeskription für das gesamte hörende Publikum erlebbar und schafft eine Textebene zwischen Narration und Deskription. Jess Thom, bekannt als Touretteshero, entwickelte die bilinguale Performance „Not I“, in der sowohl die Übersetzung ihres Monologs, als auch ihre Ticks Teil des Spiels zwischen den zwei Performerinnen auf der Bühne wurden. Zusätzlich ist ihre Performance als „Relaxed Performance“ erdacht und stellt dadurch die angesprochenen normativen Verhaltensregeln in Frage. In der Produktion „Criptonite #3 BE INSPIRED!!!“ von Nina Mühlemann und Edwin Ramirez fliegen kreative Übertitel im Stil des „Star Wars“-Intros durch das Bild. In „Criptonite #4 PLEASURE“ stellt die Performerin einer Person aus dem Publikum ihren Rollstuhl vor, unter anderem wo und wie dieser geputzt werden soll, wodurch sie gleichzeitig eine Bühnenbeschreibung für blindes Publikum gibt.

 

Noch viele weitere Produktionen bereichern die Kunstszene und alle haben gemeinsam, dass behinderte Künstler*innen an der künstlerischen Leitung oder zumindest im künstlerischen Prozess beteiligt waren. Auch dies ist ein Grundsatz, den Graeae mit den „Aesthetics of Access“ praktiziert. So ist es falsch, wenn nicht-behinderte Menschen von ihren Annahmen über Behinderung ausgehen und sich die Ästhetiken von Barrierefreiheit aneignen. Der Film „Feel the Beat“ (2020) bedient sich zum Beispiel an der Ästhetik von Gebärdensprache aus einer hörenden Perspektive, wobei dadurch nicht einmal Barrierefreiheit für Taube Menschen geschaffen wird.

 

Ohne die gelebte Erfahrung von Behinderung fehlt nicht-behinderten Kunstschaffenden die Expertise der jeweiligen Community. Behinderte Theaterbesucher*innen können in den meisten Fällen feststellen, ob gelebtes oder projiziertes Wissen im künstlerischen Team vorhanden war. Auch stellen sie fest, ob sie Teil des eingeladenen Zielpublikums sind oder nicht. Hierin liegt der Unterschied zwischen einem barrierefreien Theaterabend und einem Theaterabend mit der Praxis der „Aesthetics of Access“. Denn diese ist inspirierend, inklusiv und Kunst.

 

Dieser Text ist ein Gastbeitrag von Sophia Neises.

Sophia Neises ist behinderte Performerin und Choreografin. Sie forscht an und entwickelt Konzepte der Access Dramaturgie, insbesondere für blindes und sehbehindertes Publikum.