Aktenschränke mit geöffneten Schubladen, aus denen Zettel fliegen, eine Uhr und ein Stundenglas, Zeitungsartikel, Jahreszahlen

1988 gründete der Schriftsteller Zafer Şenocak „Die Sirene – Zeitschrift für Literatur“, die – ungewöhnlich für ihre Zeit –, das Ziel verfolgte, nationale Debatten zu transzendieren und Literatur global zu denken. Die Zeitschrift legte einen Fokus aufs Übersetzen und druckte einige große literarische Stimmen, bevor sie bekannt waren, etwa Abraham Sutzkever, eine Stimme der jiddischen Literatur oder Zsuzsa Rakovky aus Ungarn. Sie erschien bis 1999.

 

In Hausach im Schwarzwald, wo der Lyriker José F. A. Oliver, der auch in „Die Sirene“ veröffentlicht hat, seit einem Vierteljahrhundert zum Hausacher Leselenz einlädt, einem Schwarzwälder Literaturfestival, traf ich die Literaturwissenschaftlerin und Übersetzerin Deniz Göktürk. Sie ist Professorin im German Department der Berkeley University in den USA und gibt dort das digitale Literaturmagazin „Transit Germany“ heraus, ein Projekt, das im Spirit der Sirene entstanden ist, in der auch Übersetzungen von Deniz Göktürk erschienen. Ich selbst gründete im Jahr 2003 das Kultur- und Gesellschaftsmagazin freitext, eine Zeitschrift, in deren Zentrum Literatur stand und in der wir versuchten, unsere – eine plurale, queere, anti-rassistische – Welt zu zeichnen, die wir sonst nirgendwo gespiegelt fanden. Dass es eine Dekade zuvor ein ganz anderes und doch, was die Ambition, aus den zugeschriebenen sozialen Rollen herauszutreten angeht, vergleichbares Projekt gab, wusste ich nicht. Jahre später stieß ich auf die Sirene. Heute unterhalte ich mich mit Deniz Göktürk darüber, wie sie die Zeit erlebt hat, in der die Sirene erschien, und was ihre Beobachtungen waren. Das Gespräch selbst wird zu einem Archiv mit vielen Namen von Vorreiter*innen einer Öffnung der deutschsprachigen Literatur im Nachkriegsdeutschland.

 

Göktürk: Wir haben die Sirene seit 1990 zweimal im Jahr im Münchner Babel Verlag veröffentlicht. 1988 hat Zafer Senocak sie gegründet und vorher im Verlag Kirchheim herausgegeben. Das Hauptaugenmerk lag auf in Deutschland weitgehend unbekannten internationalen Autor*innen. Die Redaktion bestand aus französischen, griechischen, türkischen und deutschen Autor*innen und Übersetzer*innen.

 

Utlu: Die Sirene ist als ein Forum für Weltliteratur entstanden …   

 

Göktürk: … ein Forum für vielsprachige Literatur, Übersetzungen. Ein Forum, das über Deutschland hinausreicht, über die Landesgrenzen hinausblickt und andere Debatten und poetische Arbeiten in anderen Sprachen erkundet.

 

Utlu: Was war für dich der Kontext damals? Ich welche Prozesse der Kulturproduktion war die Sirene eingebettet?

 

Göktürk: Es gab den frisch gegründeten Babel Verlag, in dem Zafer Şenocak ja bis heute veröffentlicht. Das erste Buch im Babel Verlag war unsere Anthologie „Jedem Wort gehört ein Himmel“. Und das ging hervor aus einer Lesungsreihe am Literarischen Colloquium Berlin (LCB), Türkei Literarisch, in der zeitgenössische türkische Literatur präsentiert werden sollte. Wir waren so ganz beseelt davon, diese Literatur als modern und urban zu vermitteln, die moderne, experimentelle Literatur der Türkei, von der wir wollten, dass man sie hier zur Kenntnis nahm. Und dann haben wir dafür auch selbst übersetzt. Damals habe ich angefangen, Bilge Karasu zu übersetzen und habe auch einen Auszug in der genannten Anthologie veröffentlicht. Dann haben wir diese Autoren auch eingeladen. Orhan Pamuk war damals noch nicht so berühmt – „Die Weiße Festung“ war gerade mal auf Deutsch erschienen –, er ist auch gekommen. Bilge Karasu war da, Murathan Mungan war da, Tomris Uyar. Es war eine hochkarätige Reihe damals. Demir Özlü ist auch gekommen und Fazıl Hüsnü Dağlarca. Der Titel „Jedem Wort gehört ein Himmel“ war angelehnt an eine Gedichtzeile von Dağlarca. Als wir die Einleitung der Anthologie zusammen geschrieben haben in Kreuzberger Küchen, da ging es uns wirklich um diese fehlende Wahrnehmung und Fehlwahrnehmung von türkischer Literatur und Kultur hier. Wir wollten gegensteuern. Wir haben versucht, in der Reihe im LCB türkische Autor*innen mit deutschen Autor*innen zusammenzubringen.

 

Utlu: Und die Sirene, was hatte sie mit dieser Reihe zu tun?

 

Göktürk: Der Babel Verlag, in dem die Anthologie erschienen war, die Reihe im LCB, das Stand alles im Spirit der Sirene.

 

Utlu: Gab es damals im Literaturbetrieb schon eine Offenheit für internationale Bezüge in der Gegenwartsliteratur?

 

Göktürk: Wir haben natürlich auch immer wieder über das fehlende Interesse geklagt. Also das war die Zeit, in der ich angefangen habe Karasu zu übersetzen. Damals war ich noch enthusiastisch, habe diese Übersetzung gemacht und bin auf die Buchmesse gefahren, um mit verschiedenen Verlegern zu reden und dachte, das ist toll für Wagenbach oder für Hanser oder auch Piper. Doch die hatten alle null Interesse. Das ist dann viel später von Literaturca gemacht worden. Der Markt war noch nicht sehr offen für diese Anregungen, die wir mit der Anthologie lancieren wollten. Erst später, natürlich mit der Buchmesse 2008, bei der die Türkei das Gastland war, Pamuks Nobelpreis, der Türkischen Bibliothek im Unionsverlag, kam ein bisschen mehr Interesse auf. Aber das hat lange gedauert.

 

Utlu: Welche Rolle haben für euch die Arbeiten der älteren Generation gespielt?

 

Göktürk: Also Aras Öran und Güney Dal haben wir damals auch mit drin gehabt in der Anthologie. Dal ist glaube ich in die Türkei zurück und keiner weiß mehr so genau, wo er steckt. Damals habe ich mehrere Gespräche mit ihm geführt. Wir haben uns in Sachen Humor gut verstanden. Er hat viel über Postmoderne und Ironie nachgedacht. Aber er hat natürlich auf Türkisch geschrieben und fühlte sich hier isoliert, war allerdings bei Piper verlegt worden. Zafer Şenocak und seine damalige Freundin, Eva Hundt, die auch bei der Sirene mitgemacht und den Babel Verlag mitbegründet hat, übersetzten auch Romane von Aras Ören, z. B. „Verspätete Abrechnung“. Ich habe „Berlin Savignyplatz“, „Sehnsucht nach Hollywood“ und „Unerwarteter Besuch“ übersetzt. Der ganze Zyklus erschien bei Elefanten Press, aber die gab es dann auch nicht mehr so lange.

 

Utlu: Haben sich die Autor*innen jener ersten Generation untereinander gekannt – Aras Ören, Yüksel Pazarkaya, Gültekin Emre usw.? Das Begehren, etwas zu machen, was das kulturelle oder literarische Schaffen nicht homogen versteht, gab es bei freitext und bei der Sirene. Deswegen habe ich mich gefragt, ob es nicht in der Generation der ersten migrantischen Autor*innen, in den 60er und 70er Jahren, auch so ein Projekt hätte geben müssen. Die haben ja teilweise selbst noch in einer anderen Sprache als auf Deutsch geschrieben.

 

Göktürk: Aras Ören und Yüksel Pazarkaya haben sich über die Radioarbeit gekannt und dann gab es auch den Dagyeli Verlag. Ganz früher gab es „Südwind“, ein literarisches Kollektiv, zu dem, glaube ich, auch italo-deutsche Autor*innen wie Franco Biondi und Gino Chiellino und so weiter gehörten. Ich weiß nicht so viel darüber. Es ist auch nicht so leicht etwas darüber zu finden. Aber ganz sicher, die haben sich gekannt. Das war allerdings nicht unbedingt so, dass man sich einer Tradition verpflichtet gefühlt hätte.

 

Utlu: Wie war die inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Transkulturellen?

Ich bin das Gesicht Europas und Europa ist die Reflektion meines Gesichts.
- Aras Ören

Göktürk: In seiner Dankesrede zur Verleihung des ersten Chamisso Preises sagt Aras Ören sinngemäß: Ich bin das Gesicht Europas und Europa ist die Reflektion meines Gesichts. Migration ist das Thema unserer Zeit und eben nicht nur in dieser Ghetto-Enklave, sondern das ist Europa.

Da war also alles schon da, aber entweder war die Zeit noch nicht ganz reif dafür – es wurde dann doch immer wieder in diese Ecke bugsiert – oder es war doch ein Hindernis, dass sie auf Türkisch geschrieben haben und übersetzt werden mussten.

Dieses ganze Thema von Wahrnehmung und Kategorien, also was da zugeschriebene Kategorien waren und wie man sich selbst dazu zu verhalten hat als Schreibender, das war natürlich damals schon ein großes Thema. Gerade diese Labels, die waren so aufgedrückt und behinderten die Rezeption eher, als dass sie den Horizont öffneten. Es war damals schon ein Kampf, nicht nur die zugeteilten Rollen zu spielen, sondern auch etwas anderes machen zu können. Die Sirene sollte auch dem etwas entgegensetzen.

 

Utlu: Wir hatten damals bei freitext lange darüber nachgedacht, das Wort international zu verwenden oder von einem transkulturellen Magazin zu sprechen. Und dann war uns das alles, waren diese Begriffe uns zu soziologisch. Wir haben sie weggelassen. Unser Untertitel lautet: Kultur und Gesellschaft Magazin. Punkt. Wir wussten damals nichts von der Sirene und fingen von null an. Ich habe später darüber nachgedacht, ob es nicht auch das ist, was eine „marginalisierte Position“ ausmacht, nämlich außerhalb einer Tradition zu stehen, daher die Chance zu haben, Dinge ganz neu zu denken, aber eben auch nicht von den Lösungen, die andere vor einem gefunden haben, lernen zu können. Marginalisierte Positionen bedürfen besonderer Gedächtnisarbeit. 

 

Die Gesprächspartner*innen

Das Gespräch führte Deniz Utlu, Autor von Essays und Romanen aus Berlin. Er gab von 2003 bis 2013 das Kultur- und Gesellschaftsmagazin freitext heraus. 2014 erschien sein erster Roman „Die Ungehaltenen“, 2019 „Gegen Morgen“, sein zweiter Roman, im August 2023 erscheint der dritte Roman „Vaters Meer“.

 

Deniz Göktürk ist Professorin für Kultur- und Medienstudien im German Department an der University of California, Berkeley. Sie übersetzte Aras Ören und Bilge Karasu ins Deutsche.