Aktenschränke mit geöffneten Schubladen, aus denen Zettel fliegen, eine Uhr und ein Stundenglas, Zeitungsartikel, Jahreszahlen

Projekt Migration war eine dezentrale Ausstellung, u.a. im Kölnischen Kunstverein und im öffentlichen Raum, zum Abschluss von Projekt Migration (2002-2006), einem vierjährigen künstlerisch-forschenden Projekt, gefördert von der Kulturstiftung des Bundes

 

Text: Suy Lan Hopmann

 

Das Projekt Migration war mehr als nur eine Ausstellung. Das Projekt Migration war ein Ereignis, ein Experiment, eine Lebensaufgabe. Es war Ausdruck einer Haltung, einer Perspektive, eines möglichen Blicks auf die Welt. Und es war ein Projekt, das mit zwei großen Wünschen verbunden war: mit dem Wunsch, ein „neues Verständnis der Migration zu schaffen“1 und dem Wunsch, dieses Verständnis fest in der Gesellschaft zu verankern. Das Projekt Migration sollte also nicht weniger als einen Paradigmenwechsel einleiten, wie die Gesellschaft in Deutschland über Migration und Migrant*innen spricht und denkt. Und es sollte „die Basis für ein Dokumentationszentrum für Migration in Deutschland“2 – also den Grundstein für eine Institution der Migration in Deutschland legen.

 

Die Ausstellung Projekt Migration

So umfassend und weitreichend wie die oben genannten Wünsche gestaltete sich das gesamte Projekt Migration.3 Die Ausstellung, die 2005/2006 an mehreren Orten in der Stadt Köln zu sehen war, war nur der letzte Baustein in einem insgesamt vier Jahre andauernden, interdisziplinären wie künstlerischen Forschungs- und Dokumentationsprozess.4 Dieser hatte bereits drei Jahre zuvor mit über hundert Workshops, Film- und Vortragsreihen begonnen und setzte sich 2003 mit dem Forschungsprojekt TRANSIT MIGRATION fort.

Wie alle anderen Bausteine des Projekts war auch die Ausstellung Projekt Migration ein Experiment in Form, Methode und Inhalt: Im ersten Schritt sollte das Wissen zu Migration über Grenzen hinweg erarbeitet werden: sozialwissenschaftlich-ethnographisch, künstlerisch und aktivistisch. Im zweiten Schritt sollte das Wissen in der Ausstellung in neuen Formaten vermittelt werden. Forschung und Theorie, Kunst und die Materialität des (DOMiD-)Archivs sollten gleichwertig nebeneinanderstehen – oder vielmehr noch – in einen aktiven Dialog miteinander treten und neue Verbindungen eingehen.

Die Ausstellung beschränkte sich entsprechend nicht nur auf den musealen Raum des Kölnischen Kunstvereins, sondern durchdrang sämtliche Ebenen des Hauses: das hauseigene Archiv, das Unter- und Obergeschoss sowie diverse Vorräume. Gleichzeitig erweiterten die Kurator*innen den Ausstellungsort um nahegelegene Alltagsorte der Migration wie ein 50er-Jahre-Gebäude am Rudolfplatz, einen 60er-Jahre-Bau am Friesenplatz oder das Crowne City Plaza in der Aachener Straße, das Anfang der 1960er an der Stelle der im Zweiten Weltkrieg teilzerstörten Oper errichtet worden war. Mit ihrer für ihre Zeit typischen Architektur repräsentierten diese Orte Migration, Wohlstand und die Moderne der Nachkriegszeit. Sogar der öffentliche Raum zwischen den Ausstellungsorten wurde künstlerisch genutzt und mit kritischen Kommentaren zu öffentlicher Erinnerungskultur und (rassistischer) Überwachung beziehungsweise Kontrolle versehen.

 

Im Kölnischen Kunstverein

Im Kölnischen Kunstverein startete die Ausstellung mit künstlerischen Positionen von Jeroen de Rijke / Willem de Rooij und Dan Perjovschi. Damit eröffnete Projekt Migration mit einer Arbeit, in deren Zentrum die politischen, religiösen und kulturellen Konfliktlinien stehen, die sich nach dem 11. September 2001 neu geordnet haben. In „Blumenbouquet II, 2005/06“ „übersetzte“ das oft stark ethnografisch arbeitende Künstlerduo de Rijke / de Rooij die Farben eines Fotos in Blumensträuße, die während der Ausstellungslaufzeit immer wieder verwelkten und erneuert werden mussten. Das Foto zeigte, wie Agbani Darego, Miss World 2001 aus Nigeria, Azra Akin, einer türkischstämmigen Niederländerin, gratuliert. Die Künstler spielten damit auf die Unruhen an, die Kommentare der britischen Nigerianerin Isioma Daniel zu den Miss Wahlen in Nigeria ausgelöst hatten.5 Und auch Dan Perjovschi kommentierte tagesaktuelle Themen, bezog sich in seinen skizzenhaften Wandzeichnungen „Ohne Titel“ allerdings auf Europäisierungsprozesse in Osteuropa, die er laut Broschüre vor allem als „Zivilisierungsprozesse“ verstand. Im Kinoraum beschäftigte sich die Performance-Künstlerin Ene-Liis Semper in ihrer Videoarbeit „Door“ mit sicht- und unsichtbaren Grenzen und dem psychischen wie physischen Umgang damit.6

Im Hauptraum der Ausstellung waren etwa 15 künstlerische Positionen, u.a. von Želimir Žilnik, Tobias Zielony, Anny und Sibel Öztürk und Madeleine Bernstorff / Elke aus dem Moore zu sehen, die unterschiedliche Aspekte migrantischen Alltags zeigten: das Leben in einem Wohnhaus in München (Zielony), queere Clubszenen in Berlin (Bernstorff / aus dem Moore) oder die Wohnung der Tanten während des Sommerurlaubs in der Türkei (Öztürk / Öztürk). Einen anderen thematischen Schwerpunkt setzten Hüseyin Avni Güngör und Brigitte Krämer mit Verdrängung und Aneignung im urbanen Raum sowie Brigitta Kuster / Moise Merlin Mabouna II mit Flucht und dem Leben in Wohnheimen und Lagern. Marcel Odenbach und Ayşe Erkmen beschäftigten sich in einem dritten Themenkomplex mit dem Zusammenhang von Migration und globalen (militärischen) Konflikten wie zum Beispiel dem Kalten Krieg.

Im Unter- und Dachgeschoss des Kunstvereins – wo auch das Archiv des vierjährigen Projekts Migration untergebracht war – wurde künstlerisch mit den kulturhistorischen Sammlungen von DOMiD und den Forschungsergebnissen aus TRANSIT MIGRATION gearbeitet. So stellte Christian Philipp Müller auf speziell angefertigten Sockeln Objekte aus dem DOMiD-Archiv aus. Einige der Sockel waren dabei so gestaltet, dass die Objekte nur aus einem bestimmten Blickwinkel sichtbar wurden, dann aber fast auratisch anmuteten. Im Gegenzug dazu hatte das Labor k3000 gemeinsam mit TRANSIT MIGRATION im Dachgeschoss einen „Forschungsraum“ mit mehreren Tischen und Stühlen eingerichtet, wo sich die Besucher*innen unter anderem mit den Ergebnissen von TRANSIT MIGRATION und der von Brigitta Kuster zusammengestellten Videothek transit.doc beschäftigen konnten.

Im Vorraum des sogenannten Theatersaals und eigentlichem Sitz des Kunstverein-Archivs, war die mobile Bar des Kollektivs „Non Stop No Stops“ aufgebaut. Von September bis Januar erweiterte die Bar die Ausstellung um ein Begleitprogramm und war auch im Stadtraum unterwegs. Sie bot dem Publikum Raum für Austausch und Begegnung.

 

Rudolfplatz, Friesenplatz und öffentlicher Raum

Vor allem aus der Perspektive migrantischer Selbstorganisation und Widerstands setzten sich die künstlerischen wie dokumentarischen Arbeiten am Rudolfplatz mit Musik und Populärkultur, Bildung und Integration sowie Arbeit und Migration auseinander. Beispiele hierfür sind Videos der Hip Hop Formation Advanced Chemistry und die Fotos der Fotojournalistin Marily Stroux vom migrantischen Sender „Radio Emigrek“. Die künstlerischen Positionen am Friesenplatz waren Themen wie „Ausländerpolitik“ der Bundesrepublik, die Grenzen Europas sowie transnationale Dimensionen von Migration zugeordnet. So zeigte Aysun Bademsoy in der Videoarbeit „Deutschländersiedlung“ Siedlungen von Türk*innen, die jahrelang im Ausland gelebt hatten und dann wieder zurückgezogen waren.

Im öffentlichen Raum zwischen dem Kölnischen Kunstverein, dem Hahnentor und dem Friesenplatz erzeugte Nika Špan das permanente Gefühl des Geblitztwerdens, indem sie bis zu zehn Blitzanlagen auf den Wegen von und zu den Ausstellungsorten installierte. Im Kontext der Ausstellung brachte Špan damit die Erfahrung ständiger Kontrolle mit Erfahrungen von Migration und Rassifizierung zusammen. Der Künstler Tazro Niscino beschäftigte sich hingegen mit deutscher Erinnerungskultur, indem er das prominenteste Denkmal Kölns, das Reiterstandbild von Wilhelm II, in ein temporäres, begehbares Wohnzimmer verwandelte und dadurch das Denkmal auf Augenhöhe der Betrachtenden brachte. Stellvertretend für die vielen Variationen von Mobilität und Reisen sowie die enge Verflechtung von Gastarbeit und Erfolgsgeschichte des Industrieunternehmens Ford-Köln, stand auf der Straße vor dem Kunstverein ein Ford Transit aus der Sammlung von DOMiD und Susan Philipsz bespielte eine Bushaltestelle mit ihrer Soundarbeit „Guadalupe“.

Insgesamt war die Auswahl der gezeigten Arbeiten an allen Standorten stark von Fotografie, Video und Installation bestimmt, was vielleicht dem Ziel geschuldet war, eine neue Sicht auf Migration zu ermöglichen, und deswegen starke, eigene Bilder dazu gesetzt werden sollten. Vielleicht war die Auswahl aber auch von einer Kunstszene beeinflusst, die zum damaligen Zeitpunkt sowieso stark von neuen Medien geprägt war – oder von „Doku-Kunst“, wie sie teils abschätzig genannt wurde. Im Projekt Migration entsprach es aber vor allen Dingen der Idee, interdisziplinär arbeiten zu wollen, so dass die teilweise schwerfallende Trennung zwischen Kunst, Journalismus und Dokumentation eher programmatisch als trendig erscheint.

 

Der Katalog Projekt Migration

Begleitet wurde die Ausstellung von einem ähnlich umfangreichen wie komplexen Katalog, der mit 888 Seiten im Überformat, einem Gewicht von etwa drei Kilo und in mehreren Sprachen ohne Zweifel als weiteres, durchaus für sich selbst stehendes Statement zum Thema Migration bezeichnet werden kann. Laut Klappentext gewichtet der Katalog „die Bedeutung von Migration für die Gesellschaft, ihre Geschichte, Ökonomie und Kultur“ neu und gibt „zu wenig behandelten Fragen der Migration in Deutschland Auskunft“.7 Die Herausgeber*innen verbinden in ihm Forschungs- und Zeitzeug*innenberichte, Dokumente und Archivmaterialien, Theorien der Migration und Kunst zu einem eindrücklichen und doch aufgrund der Form irgendwie widerspenstigen Plädoyer für das utopische Potenzial der Migration. Ähnlich wie die Ausstellung ist also auch der Katalog mehr als nur ein Katalog. Nicht nur, weil er in der Art und Weise, wie er Kunst, Wissenschaft und Zeitzeug*innenschaft in ein Verhältnis zueinander setzt, Maßstäbe für künftige Auseinandersetzungen mit dem Thema Migration setzt – wie Joachim Baur in einer Rezension treffend formuliert –,8 sondern weil er neben den Inhalten auch sämtliche Ergebnisse, Netzwerke und Akteur*innen aus vier Jahren Gesamtprojekt Migration dokumentiert.

 

Projekt Migration (2002-2006) – was bleibt?

Das übergeordnete Projekt Migration war nicht nur mit dem Ziel angetreten, „ein neues Verständnis der Migration zu schaffen“, sondern dieses über die Projektlaufzeit auch prozessual und ergebnisoffen zu entwickeln.1 Die Ausstellung, die sich in der gesamten Innenstadt Kölns verteilte und der fast überwältigende Katalog waren physischer Ausdruck und Ergebnis des vielschichtigen Wegs, den die Beteiligten über den Zeitraum des Projekts gemeinsam bestritten hatten.

Aber wie sind diese Ergebnisse – Ausstellung, Katalog und der Weg dahin – aus heutiger Sicht, fast zwanzig Jahre später, zu bewerten? Hat das Projekt wirklich einen Perspektiv- oder sogar Paradigmenwechsel in Bezug auf Migration bewirkt? Wenn nein, warum? Wenn ja, was folgte daraus? Wie so häufig ist die Antwort auf solche Fragen nicht ganz eindeutig.

 

Wessen Wissen zählt?

Nachdem in den 1990er Jahren rassistische Argumente und Formulierungen die öffentliche Debatte um Migration dominiert hatten und 1992/1993 Brandanschläge auf die Asylbewerber*innenheime in Rostock-Lichtenhagen, Mölln und Solingen verübt worden waren, war ein, vielleicht sogar das zentrale Anliegen des Projekts Migration, den nationalen Blick der Mehrheitsgesellschaft auf Migration umzukehren und stattdessen die Perspektive der Migration und der Menschen mit Migrationserfahrung in den Mittelpunkt zu rücken. Aus diesem Anspruch leiteten sich drei Prämissen für die Art und Weise, wie im Projekt vorzugehen sei, ab: kein Sprechen über Migration ohne Menschen mit eigener oder familiärer Migrationserfahrung, das Überwinden nationaler Grenzen in Denken und Handeln sowie ein multi- und transdisziplinärer Zugang zum Thema Migration.

Schaut man sich an, wer am Projekt und an der Forschung beteiligt war, welche Künstler*innen und welche Kunst ausgestellt wurden und wessen Wissen in neue Theorien der Migration einbezogen wurde, so ist die Konsequenz, mit der die formulierten Leitlinien eingehalten wurden, beeindruckend. Die beteiligten Künstler*innen, Wissenschaftler*innen und politischen Aktivist*innen kamen nicht nur aus unterschiedlichen Disziplinen, sondern brachten zum Großteil auch eigene Erfahrungen mit Migration mit. Gleichzeitig sollten diese aber nicht im Vordergrund stehen, sondern der jeweils konkrete Untersuchungsgegenstand die gemeinsame Arbeit bestimmen. Auseinandersetzungen im Projekt und Debatten über Migration als post-nationaler Vision sollten entlang von intellektuellen und politischen Positionen, nicht entlang nationaler Herkünfte geführt werden.

Ein durchaus wichtiger Ansatz, wenn es darum geht, eine gemeinsame rassismuskritische Agenda zu formulieren – auch wenn sich am Projekt Migration gezeigt hat, dass die Frage nach dem, was gesagt wird, nicht wirklich befriedigend ohne die Frage „Wer spricht?“ beantwortet werden kann. Denn obwohl der Großteil aller Projektbeteiligten Migrationserfahrung hatte und das Zusammenbringen dieser sehr unterschiedlichen Erfahrungen tatsächlich neue Zugänge zu Migration ermöglichte, waren aufgrund der Zusammensetzung der Beteiligten beispielsweise post- wie dekoloniale, aber auch queere Fragestellungen nur am Rande sichtbar. So adressierten in der Ausstellung nur wenige Arbeiten wie Anri Salas „Làk-kat“, Brigitta Kusters und Mabouna II Moise Merlins „Rien ne vaut que la vie, mais la vie même ne vaut rien (Nichts ist wie das Leben, aber das Leben ist nichts)“ oder der Song von Brothers Keepers „Adriano – Letzte Warnung“ Schwarze Lebensrealitäten oder die Tödlichkeit von Anti-Schwarzen Rassismus. David Blandy wirft in seiner Videoarbeit „hollow bones“ Fragen nach kultureller Aneignung auf. Von den fast hundert Arbeiten beteiligter Künstler*innen waren das allerdings nur vier.

Minu Haschemi Yekani bringt es in ihrer Rezension zur Ausstellung auf den Punkt: „Man hat den Eindruck, nur vereinzelt auf Fragen der zweiten und dritten Generation zu stoßen. Schwarze (deutsche) Geschichte und ihre Kontextualisierung im Migrationsdiskurs, der ja umstritten ist, Fragen der Binationalität und Einwanderung aus anderen Ländern als den so genannten klassischen Gastarbeiternationen bleiben an den Rand gedrängt oder werden nur angedeutet.“ Dabei waren die Debatten rund um Queerness, Kolonialgeschichte, Schwarze deutsche Geschichte sowie Kritisches Weißsein nicht nur im akademischen Diskurs, sondern auch im Bereich Kunst und Kultur durchaus präsent.

Im benachbarten Museum Ludwig eröffnete 2006, nur wenige Monate nach Ende der Laufzeit von Projekt Migration, die große Ausstellung „Das achte Feld. Geschlechter, Leben und Begehren in der Kunst seit 1960“, in der zum ersten Mal in einer großen Kunstausstellung in Deutschland dezidiert queere, wenn auch mehrheitlich weiße Positionen gezeigt wurden. In Hamburg hatte das Kunsthaus nur wenige Monate zuvor die Ausstellung „Bilder verkehren“ eröffnet, die sich kritisch mit kolonialen Bildpostkarten beschäftigte. Als eine Kooperation mit dem Institut für Migrations- und Rassismusforschung widmete sich – im Gegensatz zum Projekt Migration – einer von zwei Ausstellungsbereichen dezidiert dem Thema Migration in die kolonialen Metropolen. Auch Schwarze deutsche Biografien waren ein Thema, ebenso wie die Kontinuitäten antikolonialen Widerstands.

In der Forschung war bereits 2003 der für die deutsche Auseinandersetzung mit postkolonialer Theorie wichtige Sammelband „Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik“, von Encarnación Gutiérrez Rodriguez und Hito Steyerl erschienen.9 Im Ausstellungsjahr selbst hatten Maureen Maisha Eggers – jetzt Maureen Maisha Auma –, Grada Kilomba, Peggy Piesche und Susan Arndt „Mythen, Masken und Subjekte“ zu kritischer Weißseinsforschung in Deutschland publiziert10 – ein Buch, das ich noch heute in den Bücherregalen vieler kritischer Kurator*innen, Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen meines Alters finde.

Die offene Flanke, die sich in der Theoriebildung im Projekt Migration in Bezug auf post- und dekoloniale wie queere Denkansätze zeigte, war also vielleicht symptomatisch für einige der sehr klugen wie politisch klaren Projektbeteiligten, die in den Folgejahren teilweise zu durchaus einflussreichen Akteur*innen rund um das Thema Migration und Rassismus avancierten. Trotz aller Erfolge, die die Erkenntnisse aus und die Netzwerke um das Projekt Migration seitdem in einem Perspektivwechsel auf Migration erzielen konnten, führten die genannten Leerstellen leider auch dazu, dass sich in Deutschland ein postmigrantischer sowie ein post- und dekolonialer Diskurs parallel voneinander entwickelten und streckenweise kaum Berührungspunkte aufwiesen. Mittlerweile gibt es einige Versuche, die beiden Diskurse wieder stärker miteinander zu verbinden – eine im Angesicht zunehmend rassistischer öffentlicher Diskurse wichtige Entwicklung.

 

Wissen und Handeln

Trotz allem kann man sagen, dass sich das Projekt Migration in Ambition, Umfang und Haltung von den meisten anderen Ausstellungen unterscheidet, die seitdem in Deutschland rund um Migration konzipiert und gezeigt wurden.11 Patricia Deuser zählt in ihrem Bericht, den sie 2012 für den deutschen Museumsbund verfasst hat, über sechzig Museen, die sich von 1997 bis 2012 das Thema Migration zu eigen gemacht haben. Das liegt nicht zuletzt daran, dass die Macher*innen vom Projekt Migration nicht beim Wissen um und zu Migration als transformatorischer Kraft stehenbleiben. Sie fordern diesem Wissen entsprechende gesellschaftliche Anerkennung und politische Veränderungen – im Kunst- und Kulturbereich zum Beispiel in Form eines Dokumentationszentrums oder Migrationsmuseums.

Vierzehn Jahre sollte es allerdings noch dauern, bis der Bund und das Bundesland Nordrhein-Westfalen 2019 endlich Mittel für ein „Haus der Einwanderungsgesellschaft“ (Arbeitstitel) bereitstellten. 2027, also weitere acht Jahre später – und insgesamt fast vierzig Jahre nach der Gründung von DOMID, der 1990 noch als Verein für ein Dokumentationszentrum und Museum über die Migration aus der Türkei gegründet worden war – soll das Haus im Kölner Stadtteil Köln-Kalk dann endlich eröffnen. Auf den Beschluss, einen „Lern- und Erinnerungsort Kolonialismus in Deutschland“ zu schaffen, mussten post- und dekoloniale Initiativen sogar noch länger warten. Erst nach den bundesdeutschen Wahlen 2021 halten die neuen Regierungsparteien einen solchen Beschluss im Koalitionsvertrag fest. Ein Ort oder Träger sind im Gegensatz zu Köln noch lange nicht in Sicht – noch nicht einmal ein Prozess ist festgelegt, wer an der Konzeption eines solchen Orts beteiligt wird und wie entschieden werden kann, welche Inhalte und Geschichten ein solcher Ort transportiert. Ein dem Projekt Migration in Umfang, Komplexität und Ambition ähnliches Projekt – DEKOLONIALE Erinnerungskultur in der Stadt12 – schließt allerdings Ende 2024 in Berlin seine vierjährige Arbeit mit einer Abschlussausstellung und einem Katalog ab. Wie es danach weitergeht, bleibt abzuwarten. Dass es weitergeht, verspricht uns die Geschichte dieser Kämpfe.

 

Über die Autorin

Suy Lan Hopmann ist Programmkuratorin bei der Stiftung Stadtmuseum Berlin und arbeitet zu den Themen Kolonialismus und Kolonialität, Rassismus und Migration sowie Gender und Queer. Davor war sie als Projektreferentin für die Dekolonisierung Hamburgs bei der Kulturbehörde der Stadt tätig. Als Kuratorin für Sonderprojekte und Diversity im Museum am Rothenbaum - Kulturen und Künste der Welt (MARKK) hat sie unter anderem die Ausstellung "Hey Hamburg, kennst du Duala Manga Bell?" zur deutsch-kamerunischen Kolonialgeschichte kuratiert. Ehrenamtlich engagiert sie sich als Vorständin bei ICOM Deutschland, als Stiftungsrätin bei filia.der frauenstiftung und als Wissenschaftliche Beirätin im Themenjahr „Postkoloniales Westfalen“ beim Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL). Sie hat Chinawissenschaften, Gender Studies und Soziologie studiert und als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Politik und Wirtschaft Chinas sowie am Sonderforschungsbereich 700 der Freien Universität Berlin geforscht.

  • 1 a b Aytaç Eryılmaz, Marion von Osten, Martin Rapp, Kathrin Rhomberg, Regina Römhild: Vorwort; in: Kölnischer Kunstverein (Hrsg.): Projekt Migration, DuMont Buchverlag, Köln: 2005, S. 17.
  • 2Kölnischer Kunstverein, DOMiT, Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland, Köln, Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt/Main, Institut für Theorie der Gestaltung und Kunst, ICS/HGK Zürich: Projekt Migration. Ausstellungsführer; Eigenverlag, Köln: 2005, S. 11.
  • 3Das Projekt Migration war ein Gemeinschaftsprojekt von DOMiT, Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland e.V., Köln – heute DOMiD –, das Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt/Main, das Institut für Theorie der Gestaltung und Kunst, Zürich, und der Kölnische Kunstverein.
  • 4Die Ausstellung Projekt Migration war vom 30. September 2005 bis 15. Januar 2006 in Köln zu sehen.
  • 5Ein Artikel für die Zeitung „This Day“, in dem Daniel u.a. schrieb, dass vermutlich auch Prophet Mohammed der Heirat mit einer Schönheitskönigin nicht abgeneigt sei, führte zu Straßenkämpfen zwischen Muslim*innen und Christ*innen, bei denen mehr als 220 Personen getötet wurden. Daniel gegenüber wurden Morddrohungen ausgesprochen. In Folge der Ereignisse wurden die Miss-World-Wahl nach London verlegt.
  • 6Kölnischer Kunstverein, DOMiT, Dokumentationszentrum und Museum über die Migration in Deutschland, Köln, Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Johann Wolfgang Goethe Universität Frankfurt/Main, Institut für Theorie der Gestaltung und Kunst, ICS/HGK Zürich: Projekt Migration. Ausstellungsführer; Eigenverlag, Köln: 2005, S. 22-29.
  • 7Kölnischer Kunstverein (Hrsg.): Projekt Migration, DuMont Buchverlag, Köln: 2005.
  • 8Joachim Baur, Rezension zu: Kölnischer Kunstverein (Hg.): Projekt Migration; in: H/Soz/Kult, 26.06.2006, www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-8161.
  • 9Encarnación Gutiérrez Rodríguez, Hito Steyerl: Spricht die Subalterne deutsch? Migration und postkoloniale Kritik; Unrast Verlag.
  • 10Maureen Maisha Eggers, Grada Kilomba, Peggy Piesche, Susan Arndt: Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland; Unrast Verlag, mittlerweile 5. Auflage.
  • 11Patricia Deuser: Migration im Museum. Zum aktuellen Stand der Auseinandersetzung mit den Themen Migration und kultureller Vielfalt in deutschen Museen; Berlin: 2012.
  • 12https://www.dekoloniale.de/de