Aktenschränke mit geöffneten Schubladen, aus denen Zettel fliegen, eine Uhr und ein Stundenglas, Zeitungsartikel, Jahreszahlen

Text: Michael Annoff

 

In den 1970er Jahren entstanden in der Bundesrepublik selbstorganisierte Vereine zugewanderter Menschen, die auch Kulturveranstaltungen organisierten. Sie wurden aber weder in der Mehrheitsgesellschaft wahrgenommen noch wurden kulturpolitische Förderstrukturen geschaffen, dieses Engagement zu unterstützen. Dieser Artikel geht auf eine Spurensuche nach den Anfängen kulturpolitischer Kooperationen zur Gestaltung der Realität (West-)Deutschlands als Einwanderungsland.

 

Im März 1984 fand in Nürnberg die Tagung „Ausländer und Deutsche – Stellenwert der Kulturarbeit in der Ausländerpolitik“ statt. Die Kulturpolitische Gesellschaft und das Nürnberger Amt für Kulturelle Freizeitgestaltung hatten eingeladen, um die kulturelle Teilhabe der in die Bundesrepublik eingewanderten „Gastarbeiter*innen“ und ihrer Familien zu diskutieren.

 

Dass die Tagung in Nürnberg stattfand, war sicherlich kein Zufall: Die dortige von der SPD geführte Stadtverwaltung war sowohl in ihrer Kulturpolitik als auch ihrer „Ausländerpolitik“ bundesweit eine der progressivsten: Bereits 1973 – im Jahr des „Anwerbestops“ von „Gastarbeiter*innen“ hatte der Stadtrat die Gründung eines „Ausländerbeirats“ beschlossen, der später zum Vorbild für viele andere Kommunen in Westdeutschland werden sollte.1 1984 waren einige Mitglieder des Nürnberger Ausländerbeirats an der Tagung beteiligt. Sie ist deshalb eine der ersten Versuche Anfang der 1980er Jahre, auf die millionenfache Einwanderung in die Bundesrepublik kulturpolitisch zu reagieren und dabei auch die Eingewanderten (auch die der heranwachsenden zweiten Generation) selbst zu Wort kommen zu lassen. 

 

Kultur, wenn Politik versagt

Aus heutiger Sicht scheint diese kulturpolitische Initiative etwas spät dran gewesen zu sein: Immerhin hatte die Bundesregierung die Abkommen zur Anwerbung sogenannter Gastarbeiter*innen bereits Ende der 1950er / Anfang der 1960er Jahre geschlossen, um den „Wirtschaftswunder“ genannten Aufschwung der Nachkriegszeit durch weitere Arbeitskräfte in der Industrie zu sichern. 1973, als im Zuge der Ölkrise die Zahl der Arbeitslosen rasant anstieg, versuchte die Bundesregierung die Zuwanderung abzubremsen. Doch damals lebten schon rund 2,6 Millionen Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft in der Bundesrepublik. Auch wenn der Regierung an einer Rückkehr dieser Menschen in ihre Herkunftsländer gelegen war, stabilisierte sich die Bevölkerung ohne deutschen Pass trotz – oder gerade wegen – dieser repressiven Einwanderungspolitik. Besonders in der Anfangsphase sogenannter Gastarbeit gab es zumindest inoffiziell ein Rotationsprinzip, in dem Arbeiter*innen nach einiger Zeit wieder in ihre Herkunftsländer zurückkehrten und durch andere ersetzt wurden. Durch verlängerte Aufenthaltsgenehmigungen verlangsamte sich dieses Prinzip und kam letztendlich zum Erliegen. Ab 1973 entschieden sich viele Menschen, endgültig in Westdeutschland zu bleiben, weil eine zeitlich begrenzte Remigration ins Herkunftsland nicht mehr möglich war. Der Nachzug in den Herkunftsländern lebender Verwandter und Kinder ließ die Zahl der ausländischen Bevölkerung steigen, außerdem gründeten viele Menschen nun eigene Familien in der Bundesrepublik. Diese Entwicklungen, ebenso wie eine stark ansteigende Zahl von Asylanträgen, ließen die Zahl der Menschen ohne deutsche Staatsbürgerschaft in den 1970er Jahren sogar weiterhin steigen. Erst Ende der 1970er Jahre erkannte die weiße Mehrheitsgesellschaft, dass viele der eingewanderten Menschen bleiben und weiterhin neue Menschen nach Deutschland kommen würden, die nicht nur am Arbeitsmarkt, sondern auch am gesamten öffentlichen Leben beteiligt werden sollten. Blieb die politische Gestaltung der Folgen von Migration in den 1970ern fast ausschließlich auf die Integration „ausländischer“ Kinder in das Schulsystem beschränkt, begannen nun langsam und zögerlich erste größere Beteiligungsversuche. 1978 wurde mit dem SPD-Politiker Heinz Kühn der erste Ausländerbeauftragte der Bundesregierung berufen. Er stellte sich als einer der ersten zentralen politischen Akteure der Tatsache, dass die „Gastarbeiter*innen“ faktisch Einwander*innen waren, also gekommen um zu bleiben.

Dennoch machte die sozialliberale Regierung den Wähler*innen im Wirtschaftsabschwung die Hoffnung, dass die „Gastarbeiter*innen“, die erheblich zum Wohlstand der Bundesrepublik beigetragen hatten, zurückkehren würden. Diese fragwürdige Haltung stand einer – zumindest kommunalen – Teilhabe der Bevölkerung ohne deutschen Pass im Wege, auch in der Kulturpolitik.

 

Mit dem Wechsel der Bundesregierung verschärften sich unter Helmut Kohl und seinem Innenminister Friedrich Zimmermann Ton und Vorgehen gegen „ausländische“ Menschen in Deutschland, vor allem durch Einschränkung des Familienzuzuges und der „Förderung der Rückkehrbereitschaft“. Die Tagung in Nürnberg fand also in einer Phase statt, in der die faktische Realität (West-)Deutschlands im öffentlichen Diskurs heftig bestritten wurde. Diese Haltung sollte sich erst mit dem Ende von Kohls Regierungszeit ändern. Die Abwehrreaktionen der Dominanzgesellschaft äußerten sich im Alltag durch zunehmenden Rassismus und sogar rassistisch motivierte Gewaltverbrechen und Terrorakte, wie sich im Vorfeld der Tagung in unmittelbarer Nähe beobachten ließ: 1980 hatte im benachbarten Erlangen der Vizechef der rechtsextremen „Wehrsportgruppe Hoffmann“ den Rabbiner Shlomo Lewin und seine Partnerin Frida Poeschke ermordet. Im Juni 1982 hatte ein weiterer Neonazi in der Nürnberger Diskothek „Twenty Five“ gezielt auf nicht-weiße Gäste geschossen, William Schenk, Rufus Sulres und Mohamed Ehap ermordet und mehrere Menschen schwer verletzt.2 Er war der Polizei zuvor durch rassistische Beleidigungen und Schmierereien aufgefallen, die sich vor allem gegen jüdische und türkische Menschen richteten. Trotz der Kontakte der Täter zur genannten Wehrsportgruppe und weiteren rechtsextremen Organisationen wollten die bayrischen Sicherheitsbehörden nur „Einzeltäter“ erkennen, nachdem es im Zuge der Ermittlungen schon zu Pannen und falschen Verdächtigungen gekommen war, wie es Jahrzehnte später im NSU-Komplex der Fall war.

Vermutlich darf die kulturpolitische Wende zu Migrationsfragen deshalb auch als Reaktion auf die Repressionen der Kohl-Regierung und der Zunahme von Alltagsrassismus und rassistischem Terror gelesen werden. Dies legt beispielsweise ein kurzer Bericht in einer Ausgabe der Kulturpolitischen Mitteilungen von 1982 nahe: „Wenn die Politik versagt, muß die Gesellschaft einspringen. Sie kann es – und sie tut es – zum Beispiel durch kulturelle Aktivitäten – etwa durch vielfältige Versuche, mit künstlerischen Mitteln zumindest Teile der ausländischen Bevölkerung zu integrieren und Vorurteile gegenüber Ausländern abzubauen.“3

 

Neue Kulturpolitik im Visier der Bayrischen Polizei

Diese Äußerung legt – ähnlich wie der oben erwähnte Titel der Tagung – nahe, dass die damaligen kulturpolitisch Aktiven versuchten, öffentliche Kulturförderungen durch deren positives sozialpolitisches Wirken zu legitimieren, ein von der „Neuen Kulturpolitik“ der 1970er Jahre ausgearbeitetes Argumentationsmuster, das unter anderem in Nürnberg besonders in neue Formate und Institutionen übersetzt wurde:

Nicht nur der sogenannte Ausländerbeirat wurde 1973 in Nürnberg gegründet, sondern auch ein selbstverwaltetes Kommunikations- und Kulturzentrum gegründet, das „Komm“. Maßgeblich beteiligt hieran war Hermann Glaser, der die Nürnberger Kulturverwaltung leitete. Er war einer der Vordenker der „Neuen Kulturpolitik“, also der Bemühungen einer Demokratisierung und Teilhabeorientierung öffentlicher Kulturangebote ab den 1970er Jahren. In dieser Zeit etablierte er das Komm als neuartiges soziokulturelles Zentrum und damit als alternatives Angebot zur dominanten bürgerlichen Hochkultur, in dem (Teilen der) Nürnberger Stadtgesellschaft Räumlichkeiten für Ausstellung, Konzerte aber auch politische Aktivitäten geboten wurden. Es folgte dem damals innovativen kulturpolitischen Ansatz, auch kleine informelle kulturelle Projekte institutionell zu fördern und zu stärken.

Auch die (augenscheinlich überwiegend weißen) Besucher*innen des kommunal geförderten soziokulturellen Zentrums bekamen die Repressalien bayrischer Sicherheitsbehörden zu spüren. Im März 1981 wurden im Anschluss an eine Filmvorführung über die Hausbesetzer*innenbewegung in den Niederlanden und einer anschließenden spontanen Demonstration 141 teils minderjährige Personen festgenommen und 78 von ihnen angeklagt. Das willkürliche und offenbar politisch motivierte Vorgehen der bayrischen Polizei und Justiz löste einen Sturm der Entrüstung in den Medien und der Zivilgesellschaft aus und führte zu einer Titelstory des Spiegels. 1982 wurden alle Verfahren eingestellt. Die Erfahrung der Polizeiwillkür gegen die Hausbesetzer*innenszene ist selbstverständlich nicht vergleichbar mit den traumatischen Erfahrungen rassistischer und antisemitischer Morde und deren Verharmlosung und Vertuschung. Der öffentliche Aufschrei nach den Massenverhaftungen lässt sich vielleicht sogar als Hinweis auf die relative Privilegierung der Verhafteten interpretieren, immerhin kamen ihnen Rechtsstaat und Medien umgehend zur Hilfe. Dennoch zeigt das Ereignis, dass auch die Vertreter*innen der Neuen Kulturpolitik und die von ihnen geförderten soziokulturellen Einrichtungen nicht immer sicher vor Repressionen waren.4

Die ersten Bemühungen, einen kulturpolitischen Dialog zwischen Menschen mit und ohne deutsche Staatsbürgerschaft herzustellen, fanden also abseits der Institutionen der Hochkultur statt. Welche Diskurse nahmen damals ihren Anfang und schreiben sich bis heute fort?

 

Die Tagung „Ausländer und Deutsche“ und ihre Diskurse

Strenggenommen ist die Tagung, die in diesem Text vorgestellt wird, nicht die erste zum Thema. Bereits im Dezember 1982 fand eine Vorläuferveranstaltung mit dem Titel „Kulturarbeit als Ausländerarbeit“ in Oberhausen statt, die von der dortigen Kulturverwaltung in Zusammenarbeit mit der Friedrich-Ebert-Stiftung und der Kulturpolitischen Gesellschaft organisiert wurde. Bei der dortigen Veranstaltung sprachen außer dem Duisburger Schriftsteller Fakir Baykurt allerdings offenbar nur weiße Deutsche, außerdem ist von dieser Tagung keine Dokumentation erhalten.5

Es ist gut möglich, dass es noch weitere ähnliche Veranstaltungen gab, vor allem im Bereich der Stadtteilarbeit aber wohl weniger im Bereich der Kulturpolitik, die inzwischen in Vergessenheit geraten sind und in Archiven auf ihre Wiederentdeckung warten. Dieser Text nimmt allerdings das Programm der Nürnberger Tagung genauer unter die Lupe, weil sie umfangreicher Einwander*innen zu Wort kommen ließ, im Entstehen begriffene Netzwerke besser abbildete und einfach besser dokumentiert ist.

Die Tagung „Ausländer und Deutsche – Stellenwert der Kulturarbeit in der Ausländerpolitik“ bestand aus zwei Vorträgen, vier Arbeitsgruppen und einer Podiumsdiskussion. Zur Tagung gehörte außerdem ein kulturelles Begleitprogramm mit einer Theateraufführung der Gruppe Teatro Siciliano IMACAP und einer Ausstellung mit dem Titel „Merhaba“.6

Zuerst sprach der bereits erwähnte Schul- und Kulturdezernent Glaser über die „Kultur- und Ausländerarbeit in Nürnberg“ und die „Pluralität der Kulturen“. Was er damit genau meinte, muss an dieser Stelle spekulativ bleiben. Möglicherweise dachte er Kulturen als eher in sich geschlossene, statische Bedeutungssysteme. Zumindest zeigen viele Veröffentlichungen aus dieser Zeit, dass in Deutschland ein Interesse an kulturellen Praktiken aus den Herkunftsländern der Einwander*innen einsetzte. Es scheint sich aber zu dieser Zeit auf die Beschäftigung mit einzelnen folkloristischen Praktiken beschränkt zu haben, wie etwa dem Rebetiko (traditioneller griechischer Musikstil) oder dem Karagöz (traditionell türkisches Schattenspiel). Eine solche Betrachtung von Kulturen vereinfacht die Auseinandersetzung sehr: Zum einen ignoriert dieses gut gemeinte Interesse, dass Länder wie die Türkei, Spanien und Italien große moderne Staaten mit einer dynamischen Entwicklung waren, die regional höchst unterschiedlich, mehrsprachig und multiethnisch sind. Und in den 1980er alle über eine breite und lebendige zeitgenössische Kultur- und Medienproduktion verfügten, deren Szenen etwa im Bereich der (Pop-)Musik längst grenzüberschreitend vernetzt waren. Darüber hinaus gab es in (West-)Deutschland zumindest in größeren Städten ein reges Vereinsleben migrantisierter Menschen. Dieser Ansatz, homogene Kulturen einander gegenüberzustellen, ist deshalb vor allem eine dominanzkulturelle Perspektive, die Anfang der 1980er Jahre nicht über das Vokabular verfügt, Kultur als transnationalen und transkulturellen hybriden Austauschprozess zu beschreiben. Erst in den 1990er Jahren wandte sich die deutsche Kulturpolitik den Ansätzen der Multi- und Interkulturalität zu, während hybride Ansätze von Künstler*innen mit (familiärer) Migrationsgeschichte wie Feridun Zaimoğlu in der Dominanzkultur auf heftige Ablehnung stießen.7 Dieses homogene Kulturverständnis lässt sich auch im Begleitprogramm der Tagung entdecken. Am Rande der Tagung wurde im Kunstpädagogischen Zentrum des Germanischen Museums (aber nicht im Museum selbst!) die Ausstellung „Merhaba – Wohnen, arbeiten, Feste feiern in der Türkei“8 eröffnet. Das Tagungsprogramm beschreibt die Ausstellung so: „Diese Ausstellung verfolgt das Ziel, Türken eine Identifikationsmöglichkeit zu geben und Deutschen bietet sie gleichzeitig Informationen über die Türkei und fördert das Verständnis für türkische Mitbürger.“

Als zweites sprach Michael Fehr von der Wuppertaler Uni. Er hatte von 1974-81 das wegweisende KEMNADE INTERNATIONAL Festival am Museum Bochum organisiert und sollte Jahre später Professor an der Universität der Künste im Studiengang Kunst im Kontext werden. Er forderte, die Interessen eingewanderter Menschen in den Vordergrund kulturpädagogischer Arbeit zu stellen. Sein Vortrag hieß „Kultur im Migrationsprozeß – zum Begriff der kulturellen Integration“. Was Fehr wahrscheinlich in Nürnberg sagte, lässt sich gut rekonstruieren, weil er bereits 1980 einen Text mit demselben Titel veröffentlichte.9 Auch wenn der Begriff der Integration aus heutiger Perspektive problematisch erscheint, brachte Fehr dort wichtige Kritikpunkte zur Sprache, etwa die Forderung nach stärkerer ökonomischer und sozialer Teilhabe Zugewanderter sowie eine Abkehr von der Exotisierung anderer Kulturen und die Anerkennung ihrer „Gleichrangigkeit“. Zudem finden sich bei Fehr Ansätze, transnationale Identitätsbildungen theoretisch zu erfassen, da er sowohl das Herkunftsland als auch das Ankunftsland als wichtige Bezugspunkte eingewanderten Menschen beschrieb.

Am zweiten Tag der Tagung trafen sich vier Arbeitsgruppen:10 Die Arbeitsgruppe „Projekte in der Ausländerkulturarbeit“ beschäftigte sich kritisch mit der Förderstruktur kultureller Angebote. Die Projekte seien zu kurzfristig angelegt und dienten häufig nur zur Legitimation der Fördermittelgeber*innen. Die Kritik spitzte sich im Motto der Arbeitsgruppe zu, die vielen Kulturarbeiter*innen sicherlich bekannt vorkommt, denen heutzutage ein begrenzter Spielraum zwischen Diversifizierung und Tokenisierung zugestanden wird: „Projekte – ein Tropfen auf den heißen Stein“.

An der Arbeitsgruppe „Kulturarbeit mit ausländischen Frauen“ nahmen neun Frauen und null Männer teil. Auch wenn keine Themen der fünfstündigen Diskussion dokumentiert wurden, soll die Arbeitsgruppe kontrovers gestritten haben, ohne dass dokumentiert ist, worüber genau.

Die dritte Arbeitsgruppe beschäftige sich mit „Ausländerarbeit im Stadtteilkulturzentrum“ und diskutierte das bereits beschriebene soziale Spannungsfeld, Westdeutschlands Realität als faktisches Einwanderungsland in der Kulturarbeit konkret zu gestalten: Sollten Formate und Institutionen mit spezifischen Angeboten für „Ausländer“*innen oder für den gesamten Stadtteil entwickelt werden? Sie zeigt, wie schwer sich selbst progressive Initiativen damit taten, eine neue Vorstellung von Zugehörigkeit und Teilhabe zu formulieren und umzusetzen.

Die letzte und größte Gruppe stellte eine durchaus noch immer aktuelle Frage. Auch wenn wir heute nicht mehr von „Deutsche(n)“ als Zielgruppe der „Ausländerarbeit“ sprechen würden, ist die Frage nach wie vor berechtigt, wie es umgekehrt um die „Integrationsfähigkeit der bundesdeutschen Bürger*innen“ bestellt ist. Hier wurde zumindest ansatzweise bereits problematisiert, was bis heute nicht selbstverständlich ist: Dass Migration nicht nur für die Immigrant*innen Veränderungsdruck und Reformwillen bedeuten muss, sondern für alle in der Einwanderungsgesellschaft.

 

Am dritten Tag zeigte sich noch einmal, dass die Tagung zumindest in einigen Aspekten ihrer Zeit voraus war. Bei der abschließenden Podiumsdiskussion saßen mehrheitlich Menschen mit unterschiedlichen Migrationserfahrungen auf dem Podium: die Sozialarbeiterin Meral Akkent, Ali Bencibara und Juan Cabrera, Vorsitzender und Mitglied des Ausländerbeirats, der Handwerksmeister und Aktivist Spyros Politis und der Arbeiterwohlfahrt-Mitarbeiter Alpay Şakar. Daneben saßen auch die Kulturamtsmitarbeiter*innen Brigitte Fischer-Brühl und Jürgen Markwirth auf dem Podium. Neben der Forderung nach einer gemeinsamen Zukunft aller in Deutschland lebenden Menschen bot die Diskussion Raum, um den ungesicherten Status vieler Einwander*innen zur Sprache zu bringen. Damit wurden anders als in den Arbeitsgruppen, die vor allem konkrete Handlungsmöglichkeiten in der Kulturarbeit behandelten, handfeste (kultur-)politische Forderungen nach Gleichberechtigung und neuen Förderstrukturen laut, etwa in der dokumentierten Wortmeldung des stellvertretenden Ausschussvorsitzenden Costas Charissis: „Millionen D-Mark für Ausländerarbeit werden unter deutschen Institutionen verteilt, warum nicht an ausländische?“

 

Mein Dank geht an Dr. Norbert Sievers und Franz Kröger von der Kulturpolitischen Gesellschaft für den Zugang und die Unterstützung bei meiner Archivrecherche.

 

Über den Autor

Michael Annoff arbeitet anthropologisch, kuratorisch und performativ. Von 2016 bis Januar 2022 hatte Michael eine Akademische Mitarbeit für Kultur & Vermittlung im Studiengang Kulturarbeit der FH Potsdam inne. Gemeinsam mit Nuray Demir dokumentiert Michael seit 2018 im Projekt „Kein schöner Archiv“ das immaterielle Erbe der postmigrantischen Gesellschaft. 2022/23 waren sie gemeinsam Artists-in-Residence an der Bundeskunsthalle und kuratierten das Performative Festival „DAS[neue]WIR. Die Kunst und ihre Institutionen werden uns allen gehören“. 

  • 1vgl: Suzan Menzel (2013): Von den Anfängen des Nürnberger Ausländerbeirats. Online unter: https://www.migazin.de/2013/10/31/von-anfaengen-nuernberger-auslaenderb… [Letzter Zugriff: 2.11.2022].
  • 2s. Junge Welt (22.6.2022), S.15 und online unter: https://www.jungewelt.de/artikel/428928.erinnern-an-anschlag-auf-disco-…, letzter Zugriff: 1.3.2022.
  • 3Christian Bockemühl (1982): Kultur, wo Politik versagt. Beispiel: Kulturarbeit mit Ausländern. In: Kulturpolitische Mitteilunen (19/82).
  • 4s. Hermann Glaser (Hrsg.) (1981): Die Nürnberger Massenverhaftung. Dokumente und Analysen. Hamburg: rowohlt.
  • 5s. Tagungsprogramm der Tagung „Kulturarbeit als Ausländerarbeit“ (10. & 11. Dezember 1982) unter der Leitung, von Dr. Manfred Dammeyer MdL, aus dem Archiv der Kulturpolitischen Gesellschaft.
  • 6Programm der 11. Arbeitstagung der Arbeitsgruppe „Stadtteilkulturzentren“ in der Kulturpolitischen Gesellschaft e.V. vom 7.3. – 9.3.1984 in Nürnberg „Ausländer und Deutsche – Stellenwert der Kulturarbeit in der Ausländerpolitik“, aus dem Archiv der Kulturpolitischen Gesellschaft.
  • 7s. hierzu die NDR Talk Show III nach 9 vom 8.5.1998: https://www.youtube.com/watch?v=wrV7adgbcMc [Letzter Zugriff: 2.11.2022].
  • 8Der Katalog zur Ausstellung kann hier herunter geladen werden: https://www.globalartfestival.de/ausstellung/merhaba-wohnen-arbeiten-fe… [Letzter Zugriff: 2.11.2022].
  • 9Michael Fehr (Hrsg.) (1982): Kultur im Migrationsprozeß – zum Begriff der kulturellen Integration. Dokumentation einer Arbeitstagung im Rahmen des Festivals KEMNADE INTERNATIONAL VII vom 25.-27. Juni 1981. Berlin: Ararat.
  • 10o.A. (1984?): „Ausländer und Deutsche. Stellenwert der Kulturarbeit in der Ausländerpolitik. Ein Tagungsbericht der 11. Arbeitstagung der AG „Stadtteil-Kulturzentren“ in der Kulturpolitischen Gesellschaft e.V. vom 7.-9.3.1984 in Nürnberg, aus dem Archiv der Kulturpolitischen Gesellschaft.