Aktenschränke mit geöffneten Schubladen, aus denen Zettel fliegen, eine Uhr und ein Stundenglas, Zeitungsartikel, Jahreszahlen

Text: Michael Annoff

 

Soziokulturelle Angebote, multi- und dann interkulturelle Öffnungen, Abbau von Barrieren, Audience Development, Mehrsprachigkeit, eintrittsfreie Sonntage und so weiter und so fort: Die Stärkung von Teilhabe aller gesellschaftlichen Gruppen als Publikum öffentlich geförderter kultureller Angebote ist seit Jahrzehnten Kernaufgabe von Kulturpolitik und -vermittlung – unabhängig von Einkommen und Freizeitbudget, von Herkunft und vermeintlichen Voraussetzungen wie Vorwissen und formaler Bildung. Seit den 1970ern ist die Demokratisierung nicht nur die Kernaufgabe der bundesrepublikanischen Kulturpolitik, mit ihr einher ging auch die Professionalisierung ihrer statistischen Erforschung als Nischenthema angewandter Sozialforschung. Aber immer wieder belegen Untersuchungen, dass das öffentliche Kulturangebot von kaum mehr als einem Zehntel der Bevölkerung regelmäßig genutzt wird.

 

In den letzten zehn Jahren ist die kaum lösbare Daueraufgabe der Demokratisierung erheblich erweitert worden. Die Konzepte sozialer Diversität und intersektionaler Diskriminierungskritik haben maßgeblich dazu beigetragen, machtkritische Perspektiven in die Diskussion um kulturelle Teilhabe zu tragen und nach der Verschränkung von Klassimus, Sexismus, Rassismus und Ableismus in der Kultur zu fragen. Daraus ergibt sich auch ein Perspektivwechsel: Verstärkt werden nun nicht mehr das Publikum, sondern strukturelle Ausschlüsse in Kunst und Kultur auch auf Seite der Produzent*innen und Programmmacher*innen kritisch unter die Lupe genommen.1 Die Diversifizierung der Kultureinrichtungen verzeichnet in den letzten Jahren zwar Erfolge, hinkt aber dennoch der dynamischen demographischen Entwicklung hinterher.2

 

Kämpfe für mehr Diversität und Chancengerechtigkeit laufen langsam und niemals gradlinig ab, wie auch der Zeitstrahl von Diversity Arts Culture zeigt. Dieser Text nimmt ausnahmsweise kein Schlüsselereignis der Geschichte marginalisierter Kulturproduktion in Deutschland unter die Lupe. Stattdessen versucht er, die etablierten und in der Mehrheitsgesellschaft akzeptierten Bezugspunkte für eine demokratische und teilhabeorientierte Kulturpolitik zu skizzieren. Denn auch heutige Versuche der Diversifizierung beziehen sich (zumindest implizit) auf die Losung „Kultur für alle“.

 

‚Neue Kulturpolitik‘ – ein sozialliberales Reformvorhaben in einer postfaschistischen Gesellschaft

Ursprung dieses bis heute aktuellen kulturpolitischen Schlagworts ist das 1979 erschienene Buch des Kulturpolitikers Hilmar Hoffmann mit dem gleichnamigen Titel. In der Einleitung heißt es dort:

 

„Jeder Bürger muß grundsätzlich in die Lage versetzt werden, Angebote in allen Sparten und mit allen Spezialisierungsgraden wahrzunehmen, und zwar mit zeitlichem Aufwand und einer finanziellen Beteiligung, die so bemessen sein muß, daß keine einkommensspezifischen Schranken aufgerichtet werden. Weder Geld noch ungünstige Arbeitszeiten, weder Familie noch Kinder noch Fehlen eines privaten Fortbewegungsmittels dürfen auf die Dauer Hindernisse bilden, die es unmöglich machen, Angebote wahrzunehmen oder entsprechende Aktivitäten auszuüben.3

 

Diese Forderung steht exemplarisch für die Versuche, die gesellschaftspolitischen Ziele der sozialliberalen 1970er Jahre auch auf die bis dahin vor allem bürgerlich dominierte elitäre Kulturlandschaft zu übertragen. Inwiefern kann dieser Ansatz heute noch Anknüpfungspunkt für aktuelle antidiskriminatorische Bemühungen in der Kulturpolitik sein, und inwiefern erweist er sich eher als kontraproduktiv?

 

Bevor im besagten Werk nach Antworten gesucht wird, lohnt sich ein Blick auf Hilmar Hoffmanns Biographie, um besser zu verstehen, warum seine Arbeit weit über das Expert*innenfeld Kulturpolitik hinaus wahrgenommen und gewürdigt wurde:

Hilmar Hoffmann wurde 1925 in eine Kaufmannsfamilie geboren und gehörte – wie er selbst sagte – der „Generation Hitlerjugend“4 an. Als NSDAP-Mitglied und Fallschirmjäger bei der Wehrmacht wurde er ab 1944 zum jugendlichen Mitläufer und gehört damit zu den vielen Nachkriegs-Intellektuellen der Bundesrepublik, die im Nationalsozialismus nicht unbelastet blieben. Nach dem Krieg und einem Regiestudium an der Folkwang-Schule begann Hoffmann seine rasante Karriere als Direktor der Volkshochschule Oberhausen, wo er die bis heute wichtigen Oberhausener Kurzfilmtage gründete. Nachdem er diese Position bereits fünf Jahre in Oberhausen ausgefüllt hatte, wurde er 1970 Kulturdezernent von Frankfurt am Main. Dort förderte er gezielt Sozio- und Stadtteilkultur, war aber auch am Ausbau der Frankfurter Museumsmeile maßgeblich beteiligt.

In einer Zeit, in der es noch keine*n Staatsminister*in für Kultur und Medien gab und Berlin noch geteilt war, hatte Hoffmanns kulturpolitisches Amt durchaus öffentliche Strahlkraft, die er für sich zu nutzen wusste. „Kultur für alle“ war der Startschuss seiner regen und breit angelegten Publikationstätigkeit zu Kulturpolitik, Filmgeschichte, nationalsozialistischer Vergangenheit und seinem Hobby, der Taubenzucht. Das trug maßgeblich dazu bei, dass das SPD-Mitglied Hoffmann zur bekanntesten kulturpolitischen Stimme der 1980er und 1990er Jahr wurde und 1993 an die Spitze des Goethe-Instituts wechselte. Er ist damit der wichtigste Vertreter eines teilhaberorientierten Umbaus der Kulturlandschaft, der zu einem umfassenden Ausbau kultureller Angebote führte. Seine Reformvorhaben und Initiativen sollen im Laufe seiner Karriere einen Umfang von 1,4 Milliarden DM gehabt haben – eine ganz erhebliche Summe für eine überwiegend kommunalpolitische Laufbahn.5 Seine herausragende Rolle in der Geschichte der (west-)deutschen Kulturpolitik erfuhr auch in den vergangenen Jahren ungebrochen große Wertschätzung, wie in Festschriften zu seinem 85. Geburtstag6 oder den zahlreichen Nachrufen anlässlich seines Todes 2018 deutlich wird.7

 

Aus der identitätspolitisch informierten Perspektive der Diskriminierungskritik mag der griffige Titel „Kultur für alle“ wie ein Etikettenschwindel erscheinen: Die oben zitierte umfassende Teilhabeorientierung verfolgte Hoffmann in seinem Buch nicht durch eine differenzierte Adressierung (benachteiligter) sozialer Zielgruppen. Die damalige ‚Neue Kulturpolitik‘ ist nicht wie heute von einer ausdifferenzierten Teilhabe- und Zielgruppenorientierung gekennzeichnet, sondern von allgemeiner Demokratisierung. Ein zweites, vielleicht noch gewichtigeres Motiv war der Versuch, der sich entgrenzenden Kulturproduktion breiter aufgestellte institutionelle Rahmenbedingungen zu geben.8

 

Anders als der Titel des Buches und das obige Zitat aus heutiger Perspektive wohl vermuten ließen, geht es zunächst im ersten Kapitel um die Aufgaben und demokratischen Grundlagen von Kulturpolitik im Zuge der sozialliberalen Demokratisierung der Gesellschaft. Die anschließenden Kapitel „Schauspiel/ Theater und Emanzipation“, „Musiktheater“, „Museum“, „Bibliothek“, „Medien (Film, Kino, Fernsehen, Medien Zentrum)“ und „Hobby-Kunst (Stadtkultur, Alternativkultur)“ beziehen die einleitenden Überlegungen auf die einzelnen Sparten und Bereiche und deren damals aktuellen Entwicklungen. Diese umfassende und übergreifende Aufstellung kulturpolitischer Arbeitsfelder war damals – anders als heute – alles andere als selbstverständlich. Die Ausweitung kultureller Arbeitsfelder im postfaschistischen Deutschland ist Zeichen einer verzögerten zivilgesellschaftlichen Stärkung demokratischer Strukturen über die eigentlichen politischen Institutionen hinaus. Es ging Hoffmann darum, „kulturelle Entwicklung selbst als einen Prozeß [zu] begreifen, der künstlerisches Schaffen, Reichtum einer historisch gewachsenen Kultur und demokratische Gesellschaft gleichermaßen einbezieht“.9 Deshalb widmet sich Hoffmann im zweiten Teil der Einleitung explizit den verfassungsrechtlichen Grundlagen demokratischer Kulturpolitik, die in (West-)Deutschland nach dem Nationalsozialismus mühevoll eingeübt werden mussten: Kunstfreiheit und Verbot von Zensur, Argumente für eine steuerfinanzierte öffentliche Förderung, Föderalismus und Kulturhoheit der Ländern, betriebliche Mitbestimmung in Kulturinstitutionen etc.

Über diese demokratischen Grundlagen hinaus liegt der progressive Charakter des Buchs in der kulturpolitischen Adaption eines weiten Kulturbegriffs. Unter Rückgriff auf die Kulturanthropologie und den früheren Außenminister und damaligen Bundespräsidenten Walter Scheel plädierte Hoffmann dafür, Kultur eben nicht mehr nur traditionell auf die bürgerliche Hochkultur zu beschränken, sondern für ein breiteres Verständnis alltäglicher kultureller Ausdrucksformen. Nichtsdestotrotz grenzte er sich deutlich von marxistischen Kulturbegriffen und auch konkret von sowjetischen Kulturpolitiken ab (ohne ein Wort über die DDR zu verlieren): Die sozialistische Idee der Kollektivierung kreativer Produktion lehnte er ab. Stattdessen beharrte der Sozialdemokrat darauf, dass der Zugang zu Kulturangeboten ein Teil der sozialstaatlichen Umverteilung sei, die die Ungleichheiten industrieller Arbeitsteilung ausgleichen solle.10 Dementsprechend ließ Hoffmann konkurrierende normative Begründungen für die demokratische Kulturförderung nebeneinander stehen: die traditionelle bürgerliche Hochkultur und das damit verbundene Verständnis von Kunst als Selbstzwecke ebenso wie die an Beteiligung orientierte Soziokultur mit zivilgesellschaftlichen Funktionen der Kultur, etwa Bildung und Stärkung der Demokratie.

Zwei Beispiele, wie das konkret aussehen sollte: Hoffmann beschrieb die im 18. und 19. Jahrhundert von Fürsten und Großbürgern gegründeten Museen und ihre Geschichte als allmählichen Öffnungsprozess, forderte aber zugleich, „das Museum von gestern dem Stand bildungspolitischen Fortschritts anzupassen“. Denn:

„Ein demokratisches historisches Museum ist kein Museum, das Kriegschroniken in goldenen Lettern schreibt oder die Mächtigen zu Übermenschen stilisiert. […] Ein Historisches Museum11 , das nicht auch eine kritische Geschichte und eine politische Dimension der Vergangenheit vermitteln hilft, ist anachronistisch.“12

 

Dieses für damalige Verhältnisse durchaus progressive Kulturverständnis zeigt sich noch stärker in der Ausweitung der Kulturpolitik auf neue Arbeitsfelder wie die Stadtteilkultur und einer grundsätzlichen Wertschätzung aller kreativ tätigen Mitglieder einer Stadtgesellschaft. Es ging ihm nicht nur um die Förderung der renommierten traditionellen Institutionen; als einer der ersten Kulturpolitiker forderte er ein seismographisches Gespür für alle kulturellen Aktivitäten in der Stadtgesellschaft:

 

„Darin enthalten sind natürlich auch jene Ereignisse eingeschlossen, die außerhalb musealer Podeste auf den verschiedenen Aktionsfeldern geschehen, die unentbehrlichen Mikroereignisse der Kunst und Kultur, ohne die Opernaufführungen und große Ausstellungen der Museen usw. wie Pyramiden in der Wüste wären.“13

 

In gewisser Weise waren Hilmar Hoffmanns Überlegungen also durchaus wegweisend. Auch wenn er keineswegs der einzige Vordenker der ‚Neuen Kulturpolitik‘ war, verstand er es am geschicktesten, deren Ansätze und Ideen medienwirksam zu bündeln und zu präsentieren. Ohne seine Vorarbeiten wären viele neuere Förderinstrumente wie etwa die Spartenübergreifende Förderung oder der Berliner Projektfonds für Kulturelle Bildung undenkbar. Hoffmanns Innovationskraft wurde aber eher auf der Ebene neuartiger Kulturformate und -institutionen wirksam, nicht auf der Ebene einer chancengerechten differenzierten Zielgruppenorientierung. Seine Kulturpolitik hat entscheidend dazu beitragen, die Zugänge zu Kultur zu pluralisieren. Dabei stand für ihn aber die Frage im Mittelpunkt, wie Kulturbesuche mit Erwerbs- und Sorgearbeit und begrenzter Freizeit möglich werden. Ein Problembewusstsein aus intersektionaler Perspektive, wie wir heute sagen würden, ist bei ihm noch nicht zu finden. Das wird besonders im Schlussteil des Buchs „Kultur für alle“ deutlich, das vorletzte Kapitel „Kulturelle Zielgruppen“ bezieht sich im Wesentlichen auf Angebote für Kinder, Jugendliche und ältere Menschen, im Unterkapitel für „Minderheiten“ geht es in erster Linie um Alkoholkranke und ehemalige Strafgefangene.14 Das SPD-Mitglied Hoffmann sah die Erwerbsarbeit als größten Faktor sozialer Ungleichheit. Damit konzentrierte es sich vor allem auf die soziale und ökonomische Frage, wem wieviel Geld und Freizeit für Kulturbesuche zur Verfügung stand. Die Frage, wie diese Ungleichheiten mit sozialen und kulturellen Identitäten zusammenhängen, war anders als bei heutigen intersektionalen Perspektiven nachrangig. Deshalb endet sein Buch mit einem „Plädoyer für eine neue Freizeit- und Kulturpolitik“15 . Freizeit wird hier als jener ungleich verteilte Anteil der Lebenszeit begriffen, in der Menschen nicht entfremdeter Arbeit nachgehen müssen:

„Eine neue Kulturpolitik wird von den konkreten Bedürfnissen und der Interessenlage vor allem derjenigen ausgehen müssen, die durch ein ihnen Chancengleichheit verweigerndes Bildungssystem von kultureller Teilhabe weitgehend ausgeschlossen wurden und deren Freizeitinteresse zwangsläufig außerhalb des kulturellen Angebots orientiert ist.“16

 

Teilhabeorientierung in einer Einwanderungsgesellschaft

Bis weit in das 21. Jahrhundert wurde die intersektionale Ungleichheit von Erwerbs- und Sorgearbeit und damit auch von Freizeit in der Kulturpolitik kaum beachtet, obwohl die schlecht bezahlte Erwerbsarbeit seit den 1970ern in (West-)Deutschland millionenfach von prekarisierten Arbeitsmigrant*innen übernommen wird. Dass weiße Kulturpolitik trotz aller Kritik an der Dominanz (groß-)bürgerlicher ‚Hochkultur‘ bis weit in das 21. Jahrhundert vornehmlich an soziokulturellen Formatentwicklungen interessiert ist, zeigt sich an einer Publikation anlässlich Hilmar Hoffmanns 85. Geburtstags: In der vom Hildesheimer Professor Wolfgang Schneider herausgegebenen Festschrift „Kulturelle Bildung braucht Kulturpolitik: Hilmar Hoffmanns Kultur für alle reloaded“ findet sich unter zwei Dutzend Beiträgen nur einer, der sich der Einwanderungsgesellschaft widmet. Sina Haberkorn schrieb einen kurzen Beitrag „Zum Kulturverständnis und zur Kulturnutzung von Menschen mit Migrationshintergrund“ mit dem Titel „Ein neues Publikum von Kunst und Kultur?“17 Dennoch werden selbst hier nach über 50 Jahren Einwanderungsgeschichte migrantisierte Menschen als „neu“ dargestellt und auf die Rolle des Publikums reduziert. Insofern ist die Kritik, dass die Neue Kulturpolitik von Vertreter*innen wie Hoffmann die Rolle von (Arbeits-)Migration als Faktor für Teilhabegerechtigkeit übersehen hat, gerechtfertigt. Dass dieses Versäumnis von vielen Kulturpolitiker*innen in den folgenden Jahrzehnten weiter verschleppt wurde, scheint die Kritik postmigrantischer Theorie zu bestätigen, dass die verspätete Anerkennung der Realität Deutschlands als Einwanderungsgesellschaft in den letzten Jahren erhöhten Reformdruck schaffe.18

Wenig bekannt ist heute allerdings, dass Hoffmann selbst sich Gedanken darum machte, wie sich auch die Kulturpolitik der Verantwortung stellen konnte, als klar wurde, dass Millionen sogenannter Gastarbeiter*innen in Deutschland bleiben würden (und neue Migrations- und Fluchtbewegungen bereits folgten): 1985 veröffentlichte Hilmar Hoffmann das weit weniger bekannte Buch „Kultur für morgen. Ein Beitrag zur Lösung der Zukunftsprobleme“, in dem er sich vor allem um die damalige Krise des Arbeitsmarkts und damit einhergehende Knappheit öffentlicher Mittel, aber auch den Neuen Medien (damals waren noch eher Videos als Computer gemeint) beschäftigte. Im Kapitel „Kulturelle Identität“ widmet er sich auf sechs Seiten der „Gastarbeiter-Kultur“. Seine Ausführungen sind zeittypisch für die Perspektive vermeintlich progressiver weißer Deutscher. Sie schwanken zwischen Anerkennung der gesamtgesellschaftlichen Bedeutung von Arbeitsmigration und paternalistischen Klischees, wenn er über „‚die Dritte Welt‘ im eigenen Land“19 schreibt. Immerhin wusste Hoffmann die migrantisierten Arbeiter*innen und ihre Verdienste in einer Zeit zu würdigen, in der die CDU-geführte Bundesregierung offensiv versuchte, Migration zu begrenzen, und Rassismus in der weißen Bevölkerung massiv zunahm:

„Wenn wir nicht nachfühlen können, was es heißt, für wenig Geld in den Schächten der U-Bahn zu malochen, anderer Leute Müll einzusammeln und die Abende in miesen Behausungen zu verbringen, oder wenn niemand mehr darüber klagt, wie schlimm Fließbandarbeit ist, dann können sich Politiker leicht […] über die Belastungen ausschweigen, die sie für andere mit sich bringen.“20

 

Hoffmann gestand den Migrant*innen entgegen dem Zeitgeist „hier ein Heimatrecht“ und ein „Recht auf ihre Kultur“21 zu. Anders als vielen Kulturprojekten ging es ihm dabei nicht nur um Folklore, sondern um die Entwicklung einer eigenständigen transnationalen Identität:

„Wer lediglich von der Bewahrung einer kulturellen Identität spricht, sei es der Deutschen oder der Ausländischen, verkennt den dynamischen Charakter dieses Kulturprozesses – Es kommt in erster Linie darauf an, daß die Ausländer ihre Lebenssituation [gemeint ist die eigene oder familiäre Migrationsgeschichte, Anm.d.V.] selber verarbeiten können; sie brauchen ein materielles und personelles Fundament, um eine Kultur zu entwickeln, die ihnen Zukunft verspricht.“22

 

Dabei gelang es Hoffmann aber nicht, zeittypische rassistische Stereotype zu vermeiden, etwa die besonderen Integrationshürden türkischer „Gastarbeiter*innen“. Dazu gehört auch der Bezug auf türkische Intellektuelle, die die (Pop-)Kultur der nach Deutschland ausgewanderten Arbeiter*innen klassistisch als Kitsch abwerteten, ebenso wie der explizite Verweis auf die Gleichwertigkeit der türkischsprachigen Hochkultur.23

Dennoch beobachtete Hoffmann sehr genau die Versuche der 1980er Jahre, eingewanderte Kulturproduzent*innen aktiv an kulturellen „Synthese“-Prozessen zu beteiligten, etwa in West-Berlin und Nürnberg. Weitgehend in Vergessenheit geraten ist, dass in Hoffmanns eigenem Frankfurter Verantwortungsbereich ein frühes kulturelles Beteiligungsprojekt stattfand, aber auch hier lässt sich die paternalistische Denkweise nicht von der Hand weisen. 1981 wurde von der Frankfurter Kulturverwaltung zum ersten Mal die geringe Summe von 30.000 DM für fünfzehn „bereits bestehende Ausländerorganisationen“ zur Verfügung gestellt. Die damalige Projektmanagerin Alexa Gade berichtet von einem regen und inklusiven migrantischen Vereinsleben, daher erkannte Hoffmann an, „dass der partielle Rückzug auf die kulturelle Infrastruktur Überlebensfunktion“ besitzt. Dennoch zielte die Kulturverwaltung bei der Zusammenarbeit mit den Vereinen nicht in erster Linie auf die kreative Eigenständigkeit dieser Vereine, sondern auf dominanzgesellschaftliche Integrationsziele (wie Spracherwerb). Ein Perspektivwechsel in der historischen Aufarbeitung migrantisierter Kunst- und Kulturarbeit wird es leider schwer haben: In den Archiven der öffentlichen Verwaltungen sind Dokumentationen dieser frühen postmigrantischen Annäherungen wegen vermeintlich mangelnder Relevanz kaum noch zu finden, eigene Archivierungen durch die Vereine konnten zur damaligen Zeit kaum professionalisiert werden. Für eine kunst- und kulturhistorische Würdigung (post-)migrantischer Kulturproduktion dieser Zeit gibt es also noch viel zu tun. Und die Zeit drängt: Viele Zeitzeug*innen sind inzwischen hochbetagt.

Hilmar Hoffmanns Verdienste für kulturelle Teilhabegerechtigkeit sind nicht von der Hand zu weisen, Vordenker einer tatsächlich diskriminierungskritischen Kulturpolitik ist er aber nicht. Seine Politik war zu sehr daran orientiert, die aus ungerechter gesellschaftlicher Arbeitsteilung resultierende Ungleichheit zu kompensieren, ohne Arbeitsmigration als hierfür entscheidenden Faktor zu thematisieren. Vielleicht kann die heutzutage stark identitätspolitische Agenda trotzdem ein klein wenig von Hoffmanns Programm lernen, in dem sie Erwerbs- und Sorgearbeit und damit ungleiche Freizeitbudgets neu thematisiert: Klassismus und klassistische Diskriminierung kommen in den aktuellen Diversitätsdebatten leider bislang zu kurz, vor allem im Kulturbereich.

 

Über den Autor

Michael Annoff arbeitet anthropologisch, kuratorisch und performativ. Von 2016 bis Januar 2022 hatte Michael eine Akademische Mitarbeit für Kultur & Vermittlung im Studiengang Kulturarbeit der FH Potsdam inne. Gemeinsam mit Nuray Demir dokumentiert Michael seit 2018 im Projekt „Kein schöner Archiv“ das immaterielle Erbe der postmigrantischen Gesellschaft. 2022/23 waren sie gemeinsam Artists-in-Residence an der Bundeskunsthalle und kuratierten das Performative Festival „DAS[neue]WIR. Die Kunst und ihre Institutionen werden uns allen gehören“.

  • 1 Citizens for Europe (Hrsg.): Wer nicht gezählt wird, zählt nicht. Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten in der Einwanderungsgesellschaft – eine anwendungsorientierte Einführung. Vielfalt entscheidet – Diversity in Leadership, Citizens For Europe (Hrsg.), Berlin: 2018. Online unter: https://cloud.citizensforeurope.org/index.php/s/nPPLaPBBC4rG72d [Letzter Zugriff am 1.3.2023].
  • 2vgl. Bayer, Natalie/ Kazeem-Kaminski, Belinda/ Sternfeld, Nora (2017): Wo ist hier die Contact-Zone?! Eine Konversation. In: dies. (Hrsg.): Kuratieren als antirassistische Praxis. curating.ausstellungstheorie & praxis, Bd. 2. Berlin: De Gruyter, S. 23-47.
  • 3Hilmar Hoffmann (1979): Kultur für alle. Perspektiven und Modelle. Frankfurt am Main: S. Fischer, S.11.
  • 4Hilmar Hoffmann (2018): Generation Hitlerjugend. Reflexionen über eine Verführung. Frankfurt am Main: dielmann.
  • 5Oliver Scheytt/ Norbert Sievers (2010): Kultur für alle! In Kulturpolitische Mitteilungen (130), S. 30.
  • 6Wolfgang Schneider (Hrsg.) (2010): Kulturelle Bildung braucht Kulturpolitik: Hilmar Hoffmanns "Kultur für alle" reloaded; [Festschrift anlässlich des 85. Geburtstages von Hilmar Hoffmann]. Hildesheim: Universitätsverlag.
  • 7Jürgen Kaube (2018): Ein Mann seiner eigenen Gründerzeit. Zum Tod von Hilmar Hoffmann. In Frankfurter Allgemeine Zeitung. Online unter: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/zum-tod-von-hilmar-hoffmann-15621075.html. Letzter Zugriff: 1.März 2023.
  • 8Dazu in polemischer Form: Michael Annoff/ Nuray Demir: Hello White Diversity! Online unter: https://kupoge.de/blog/2021/03/11/hello-white-diversity/. Letzter Zugriff: 1.März 2023.
  • 9Hilmar Hoffmann (1979): Kultur für alle. Perspektiven und Modelle. Frankfurt am Main: S. Fischer, S.12.
  • 10ebd., S.17.
  • 11Hoffmann bezieht die Äußerung konkret auf das Historische Museum Frankfurt, seine Überlegungen sind aber durchaus auf Geschichtsmuseen im Allgemeinen bezogen.
  • 12ebd., S.114.
  • 13ebd., S.241.
  • 14ebd., S.263.
  • 15ebd., S.321.
  • 16ebd., S.328.
  • 17Haberkorn, Sina (2010: Ein neues Publikum für Kunst und Kultur? Zum Kulturverständnis und zur Kulturnutzung von Menschen mit Migrationshintergrund. In: Schneider, Wolfgang (Hrsg.): Kulturelle Bildung braucht Kulturpolitik. Hilmar Hoffmanns Kultur für alle reloaded, 2010. Hildesheim: Universitätsverlag S.221-230.
  • 18 vgl. Foroutan, Naika (2018): Die postmigrantische Perspektive: Aushandlungsprozess in pluralen Gesellschaften. In: Hill, Marc/ Yıldız, Erol (Hrsg.): Postmigrantische Visionen. Erfahrungen – Ideen – Reflexionen. Postmigrantische Studien Band 1. Bielefeld: transcript, S. 15-28.
  • 19Hilmar Hoffmann (1985): Kultur für morgen. Ein Beitrag zur Lösung der Zukunftsprobleme. Frankfurt am Main: S.Fischer, S.120.
  • 20ebd., S.124.
  • 21ebd., S.121.
  • 22ebd., S.122.
  • 23ebd., S.123.