Besser machen!
Diversität und Machtkritik
Podcastfolge mit: Maryam Haschemi, Clementine Burnley, Marina Fischer, Hannah Lesser, Christina Schulz, Sonja Baltruschat
Das Gespräch im Wortlauf
[Anfang Intromusik]
„Ich finde eigentlich diese Aussage, dass man sagt, Kunst von Regisseurinnen ist schlechtere Kunst als von Regisseuren, das finde ich schon total kunstfeindlich. Und eigentlich kann man da gar nicht argumentieren, sondern muss sich ein dickes Fell zulegen und das ignorieren.“ [Yvonne Büdenhölzer]
„Es ist interessant, in Deutschland, Macht ist automatisch negativ konnotiert. Wenn ich sage Power auf Englisch, wenn ich rede von Empowerment zum Beispiel, haben Menschen ein ganz anderes Gefühl, als wenn ich Macht sage.“ [Clementine Burnley]
„Die Frage ist eigentlich: In welchem Verhältnis steht das, was die Institution durch ihr Ausstellungs- und ihr Veranstaltungsprogramm zu Fragen von Gender, politischer und sozialer Ungerechtigkeit, Rassismus oder Restitution verhandelt, zu ihren eigenen wirkungsmächtigen institutionellen Strukturen?“ [Anike Joyce Sadiq]
[Ende Intromusik]
Three Reasons Why – Ein Podcast von Diversity Arts Culture zu Diversität und Antidiskriminierungsarbeit im Kulturbetrieb
Was ist Diversität? Was hat sie mit Diskriminierung zu tun und warum ist Diversität so wichtig für den Kulturbetrieb? Darüber wollen wir reden – mit Künstler*innen und Kulturschaffenden, mit Wissenschaftler*innen, Jurist*innen und Aktivist*innen. Unter dem Titel „Three Reasons Why“ wollen wir uns in drei Folgen anschauen, wie Diversität sich rechtlich, moralisch und ästhetisch begründen lässt. Dabei tauchen wir in vielschichtige Debatten rund um Diversität in Kunst und Kultur ein. Wir stellen uns und unseren Gästen Fragen zu strukturellen Ausschlüssen, Gerechtigkeit, Ästhetik und Verantwortung.
Los gehts mit Folge 2 „Besser machen! – Diversität und Machtkritik“
In der ersten Folge unseres Podcasts haben wir uns angeschaut, welche Antidiskriminierungsgesetze für Kulturinstitutionen gelten. Dabei wurde deutlich, dass die Quote eine wirksame Positive Maßnahme sein kann, um gesellschaftlich benachteiligten Kulturschaffenden den Zugang zum Kulturbereich zu ermöglichen. Was die Quote jedoch nicht verändert, sind strukturelle Missstände wie Pay Gaps oder starke hierarchische Gefälle, also zum Beispiel zwischen Intendanz und Mitarbeiter*innen eines Theaters. Genauso wenig wie Machtmissbrauch.
Maryam Haschemi: Wenn das System nicht diversitätsorientiert arbeitet, diskriminierungssensibel arbeitet, dann werden viele Frauen oder Menschen mit Migrationsgeschichte, BIPoCs, die über so eine Quotenregelung reingegangen sind auch ganz schnell wieder rausgehen.
Deshalb schauen wir heute hinter die Kulissen und nehmen die Strukturen des Kulturbetriebs machtkritisch in den Blick. Wir, das sind Eylem Sengezer und Cordula Kehr von Diversity Arts Culture.
Wann sprechen wir von Machtmissbrauch, wann von Diskriminierung? Wie begünstigen verinnerlichte Vorstellungen von grenzenloser Kunstfreiheit oder prekäre Arbeitsbedingungen Machtmissbrauch? Wie sehen positive Vorstellungen von Macht aus, wie sie im Englischen in Empowerment und Powersharing anklingen? Außerdem interessiert uns, wie man an einem Theater weitermacht, wenn Machtmissbrauch vorgefallen ist und öffentlich wurde. Und wie Teams eine eigene machtkritische Arbeitspraxis entwickeln können, um Machtmissbrauch und Diskriminierung vorzubeugen.
Macht kommt selten allein: Machtapparat, Machtergreifung, Machthaber und Machtmissbrauch sind häufige Wortzusammensetzungen. Macht hat oft eine negative Bedeutung. Dabei hat Macht noch eine andere Seite. Sie beschreibt die Fähigkeit und das Vermögen einer Person, sich gegenüber anderen durchzusetzen und Vorhaben umzusetzen. Ohne Macht lässt sich nichts bewegen, nichts verwirklichen. Das Gegenteil von Macht ist schließlich Ohnmacht. Außerdem kennen wir die demokratisch legitimierte Form von Macht, also die Macht gewählter Vertreter*innen, die von den Wähler*innen Entscheidungsgewalt verliehen bekommen. Ein verantwortungsvoller Umgang mit Macht scheint also möglich, aber was braucht es dazu?
Um uns dieser Frage zu nähern, schauen wir uns zunächst an, was Machtmissbrauch ist. Wir haben Maryam Haschemi, Rechtsanwältin und Antidiskriminierungsberaterin, gefragt, ob es eine rechtliche Definition gibt, wann etwas als Machtmissbrauch bezeichnet werden kann.
Maryam Haschemi: Auf Gesetzesebene ist mir keine Regelung bekannt, die den Begriff des Machtmissbrauchs tatsächlich definiert oder die das irgendwie in Anschlag bringt. Es gibt natürlich unterschiedlichste gesetzliche Regelungen, die Machtmissbrauch mitdenken. Wo das Teil davon ist. Und an der Stelle haben wir tatsächlich eine, ich will es nicht unbedingt Schutzlücke nennen, aber die Frage ist, haben wir schon die Perspektiven darauf? Wir kennen Unternehmen und zum Beispiel in Hochschulen kenne ich das auch viel, dass es Richtlinien gibt, die die Hochschulen erlassen haben oder eben so Code of Conduct oder Dienstvereinbarungen, die große Unternehmen erlassen, wo dieses Thema Machtmissbrauch benannt wird. Oft auch tatsächlich in Zusammenhang mit Diskriminierung, also in Ergänzung zu Diskriminierung, weil wir in bestimmten Lebensbereichen natürlich immer wieder feststellen, das AGG hat eine bestimmte Gruppe von Diskriminierungsdimensionen als juristisch schützenswert eingestuft und es passiert aber im Arbeitsumfeld immer wieder etwas, was nicht ohne Weiteres auf diese Merkmale zurückzuführen ist.
Auch wenn Machtmissbrauch sich in manchen Fällen mit Diskriminierung deckt und deswegen teilweise im AGG, dem Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz, mitgedacht ist, fehlt es an einer gesetzlichen Bestimmung, betont Maryam Haschemi. Deswegen nähern wir uns jetzt von einer anderen Seite und nehmen Machtmissbrauch als soziales und gesellschaftliches Phänomen in den Blick. Denn Macht haben bedeutet, sich in ein Verhältnis zu anderen Personen zu setzen, zum Beispiel indem man für andere Entscheidungen trifft. Und damit sind wir bei der Frage, wie sich Macht in Institutionen oder Teams verteilt, wie sie sich in Hierarchien abbildet und wie Menschen trotz bestehender Machtverhältnisse gut zusammenarbeiten können. Darüber haben wir mit Clementine Burnley gesprochen, die als Konflikttrainerin und Mediatorin Teams und auch Kulturinstitutionen dabei begleitet, Machtmissbrauch aufzuarbeiten und Konflikte zu bearbeiten.
Clementine Burnley: Wenn es einen Konflikt zwischen Menschen gibt, die eine unterschiedliche formale Autoritätsebene haben und es keine Bereitschaft gibt, zuzuhören, Grenzen zu erkennen und zu setzen, zu kommunizieren oder Rahmenvereinbarungen darüber zu treffen, wie Menschen miteinander umgehen, dann können wir von Machtmissbrauch sprechen. Die Komplikation besteht darin, dass ich mit Konflikten zu tun habe, die sowohl in formellen als auch in informellen Arbeitsumgebungen stattfinden. Dass die Ebenen sehr oft sich vermischen. Macht ist nicht eine Sache. Es gibt eine Macht, ein Power, der von unten kommt. Es ist diese formelle Macht, die von oben nach unten geht. Diese Top-down-Hierarchie. Das kennen fast alle. Und sehr oft, wenn wir von Macht reden, wir meinen so diese formelle, hierarchische, obergeordnete Position.
Und deshalb unterscheide ich zwischen formeller Macht, die mit einer hierarchischen Position assoziiert wird und informeller Power. Es ist nur wichtig, weil in unseren kapitalistischen Strukturen mit prekären Lebenssituationen und prekären Arbeitssituationen sind sehr sehr viel Menschen damit konfrontiert, dass die eigentlich formelle Positionen nicht haben. Die haben keinen Zugang sehr oft und auch keine Regelung. Und da will ich nicht außer acht lassen, Menschen die in informalisierten Arbeitsumgebungen sind und die die gleichen Mittel nicht haben, sich durchzusetzen, gesetzlich zum Beispiel.
Im Kulturbereich gibt es viele solcher informellen und prekären Arbeitsverhältnisse. Deswegen fühlen sich Künstler*innen und Kulturschaffende oft eher machtlos. Sie sehen ihre Aufgabe häufig darin, Kritik zu üben an den Mächtigen und Widerstand zu leisten gegen gesellschaftliche Missstände. Und das gelingt auch immer wieder – Kunst kann Gesellschaft verändern!
Doch verschleiert diese Rollenaufteilung, die Macht zu allererst als Gegenspielerin von Kunst versteht, dass Macht auch im Kulturbereich ausgeübt und missbraucht wird. Das liegt daran, dass Macht geradezu tabuisiert wird, findet Clementine Burnley.
Clementine Burnley: Vor allem in links gerichteten, künstlerischen und kulturellen Kontexten [wird es] automatisch als problematisch angesehen, Macht zu haben oder zu nutzen. Sodass Menschen ihre eigene Macht oft verbergen oder verleugnen. Weil wer will dann automatisch als problematisch gelten? Fast keiner. Sehr oft aber und wo Macht dann sich verknüpft an soziale Privilegien, ist dass Menschen nicht bewusst [ist], dass sie tatsächlich in der Lage sind, zu kontrollieren und zu beeinflussen, was die Menschen um sie herum tun. Weil Macht so tabuisiert wird und so unsichtbar dann die Macht wird. Es heißt, in diesen informellen Situationen kommt es sehr oft zu Machtmissbrauch, weil Macht nicht erkannt wird oder verleugnet wird. Und wenn wir akzeptieren, dass wo Menschen sind, Macht immer ausgehandelt [wird]. Ob das gesagt wird oder nicht. In Situationen, wo Macht nicht ganz klar und transparent gemacht wird, führt es zu krassem Machtmissbrauch.
Im Kulturbetrieb wird deswegen meist erst dann öffentlich über Macht gesprochen, wenn es um Machtmissbrauch geht. Das zeigen die jüngsten prominenten Fälle an der Berliner Volksbühne, am Maxim Gorki Theater, dem Staatsballett Berlin oder am Schauspielhaus Düsseldorf. Und nicht selten geht es dann auch um sexistische oder rassistische Diskriminierung.
In den meisten Fällen sehen Betroffene sich gezwungen, an die Öffentlichkeit zu treten, um auf Missstände in ihren jeweiligen Häusern aufmerksam zu machen. Denn nach wie vor ist die Schwelle der Anerkennung von Diskriminierung oder Machtmissbrauch sehr hoch und das Wissen darum relativ gering. So wird rassistische Diskriminierung beispielsweise häufig weder als solche erkannt noch anerkannt.
Seit der #MeToo Debatte um sexualisierten Machtmissbrauch, die ursprünglich von der Schwarzen Frauenrechtsaktivistin Tania Burke initiiert wurde, gibt es auch in Deutschland eine verstärkte Sensibilität für sexuelle Belästigung und sexualisierte Gewalt in der Kulturbranche. Als Reaktion auf #MeToo wurde 2018 Themis, die unabhängige und überbetriebliche Vertrauensstelle gegen sexualisierte Belästigung und Gewalt in der Film-, Theater- und Medienbranche, gegründet. Marina Fischer und Hannah Lesser, die beide als Psychologinnen bei Themis Betroffene beraten, können aus ihrer Beratungspraxis die Dynamiken und Äußerungen von Machtmissbrauch in der Kulturbranche beschreiben. Sie wissen, welche Auswirkungen Machtmissbrauch auf Betroffene hat. Marina Fischer beschreibt das so:
Marina Fischer: Machtmissbrauch zeigt sich bei Betroffenen meistens in Form von Hilflosigkeit, von Ausweglosigkeit, von Angst und dazu kommt noch, dass natürlich das Machtgefälle, was vorliegt, auch diese Empfindung oder die Reaktion immer verstärken kann. Also sozusagen je größer das Machtgefälle, desto meistens auch größer auch das Gefühl der Machtlosigkeit.
Hannah Lesser ergänzt, dass Themis sich in der Beratung auf sexualisierten Machtmissbrauch konzentriert und hier das AGG zur Grundlage nimmt:
Hannah Lesser: Aber das, worauf wir zurückgreifen, ist die Definition von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz, die ja im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz definiert ist. Dass eben sexuelle Belästigung jedes sexualisierte Verhalten ist, was von der betroffenen Person nicht erwünscht ist und was die Würde der betroffenen Person verletzt. Dabei finde ich es noch ganz wichtig, dass es nicht beabsichtigt sein muss. Also dass niemand sich damit rausreden kann zu sagen, ach, das war nicht so gemeint, sondern, dass, wenn es das bewirkt, dass das dann als sexuelle Belästigung gilt.
Aber ist die Definition von sexueller Belästigung im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz und Berliner Landesantidiskriminierungsgesetz, kurz LADG, ausreichend? Maryam Haschemi plädiert für eine erweiterte Perspektive auf die gesetzliche Definition von sexueller Belästigung, um jene Fälle, die im Grenzbereich von sexualisierter Belästigung und Machtmissbrauch stattfinden, juristisch besser erfassen zu können. Denn vor Gericht wird nicht selten der sexualisierte Inhalt einer Handlung oder Äußerung in Frage gestellt, sofern dieser nicht explizit ist. Der zugrundeliegende Machtmissbrauch wird dann häufig ausgeblendet.
Maryam Haschemi: Und dann haben wir den Moment der sexuellen Belästigung und hier glaube ich, dass in der gängigen Definition des Begriffs, auch so wie er in den gesetzlichen Regelungen des AGGs und des LADGs benannt ist, sehr darauf fokussiert wird, dass die handelnde Person ein sexuelles Bedürfnis befriedigen möchte. So liest sich das. Es geht um sexualisierte Äußerungen, es geht um sexuelle Berührungen, es geht um Zeichen, um Zeigen sexualisierter Darstellungen, also all das wird benannt und was da natürlich ganz stark gerade im Arbeitskontext drinsteckt ist aber, dass sexuelle Belästigung mit Machtausübung einhergeht.
Wenn ein männlicher Kollege eine weibliche Kollegin in sein Büro zitiert, um zum Beispiel mit ihr zu besprechen, dass er gerne eine Beziehung mit ihr hätte, dann gibt es Jurist*innen, die sagen, da ist ja nicht dieser sexualisierte Inhalt gewesen. Er wollte ja in dem Augenblick keinen Sex von ihr, sondern es ging um eine Beziehung, die er mit ihr haben wollte, eine Beziehungsklärung. Der Machtmissbrauch in der Situation ist aber, dass er den Arbeitsplatz dafür nutzt.
Für den Kulturbereich mit seinen prekären Arbeitsbedingungen beobachten Marina Fischer und Hannah Lesser von Themis außerdem, dass neben der Würde der Betroffenen immer auch die Existenz auf dem Spiel steht. Denn prekäre Beschäftigungsverhältnisse führen nicht selten dazu, dass Betroffene aus Angst vor Jobverlust Belästigung und Diskriminierung über lange Zeiträume aushalten.
Auch Thomas Schmidt geht in seiner Studie „Macht und Struktur im Theater. Asymmetrien der Macht” auf die prekären Arbeitsbedingungen ein, die Mitarbeitende an Theatern besonders gefährden. Er kritisiert die Doppelmoral des Theaters, das sich nach außen progressiv und gesellschaftskritisch gibt, dem aber der selbstkritische Blick auf die eigenen Strukturen und Produktionsbedingungen fehlt. Knapp 2.000 Theatermitarbeiter*innen wurden für die Studie zu ihren Arbeitsbedingungen befragt. Im Fokus standen dabei Fragen rund um Macht und Machtmissbrauch, körperlichen und sexualisierten Missbrauch, Arbeitszeiten, Bezahlung und sozialen Status. Die Studie zeigt, dass Machtmissbrauch im Theater durch die bestehenden Strukturen begünstigt wird. Dazu zählen unter anderem die prekären Arbeitsverträge, die starke Abhängigkeiten verursachen, das Ein-Intendanten-Modell oder fehlende Kontrollgremien. Betroffen sind insbesondere weibliche Mitarbeiterinnen auf niedrigen Hierarchieebenen – eine Verschränkung unterschiedlicher Diskriminierungsdimensionen, wie beispielsweise Geschlecht und sozialer Status, deutet sich folglich an.
Erst in den letzten Jahren werden vermehrt Studien zu Diskriminierungserfahrungen und Machtmissbrauch im Kulturbetrieb durchgeführt. Die Ergebnisse sind aber immer recht eindeutig. So zeigt die Studie „Vielfalt im Film”, die 2021 Gleichstellungs- und Antidiskriminierungsdaten in der Filmbranche erhoben hat, dass die Hälfte der befragten Filmschaffenden in den letzten zwei Jahren am Arbeitsplatz diskriminiert wurde. Auch in der Interviewstudie „Grenzen der Grenzenlosigkeit”, die Themis 2019 durchgeführt hat, wird deutlich, dass die Arbeitsbedingungen in den Darstellenden Künsten bzw. in Film und Medien Machtmissbrauch begünstigen.
Wir fragen noch einmal bei Themis nach, was in dieser Branche besonders zu Machtmissbrauch beiträgt.
Marina Fischer: Da ist zum Beispiel die total informelle Kommunikationskultur, also dass man sehr informell netzwerkbasiert miteinander interagiert, dass man ganz selbstverständlich nach der Probe ein Bier trinken geht, dass es eher die Ausnahme ist, wenn das nicht passiert. Und so eine grundsätzliche Deregulierung der Arbeitskultur, also dass Wert darauf gelegt wird, dass man wenig Vorgaben hat im Miteinander. Das wird ja dann auch oft begründet mit einer gewissen Freiheit der Kunst oder der Kreativität. Und dann haben wir natürlich auch eine ganz starke Ungleichverteilung von Macht. Also die ist einerseits gegendert und andererseits verläuft die ganz deutlich auch entlang von Diskriminierungsdimensionen und das ist eben Macht, die sich dann zum Beispiel in Form von unterschiedlich verteilter Entscheidungsgewalt zeigt oder auch schlicht der Repräsentation von bestimmten Gruppen.
Und außerdem wichtig zu nennen ist auch die starke Bedeutung von Körperlichkeit. Also in den meisten Gewerken, in den meisten künstlerischen Berufen, ist der Körper einfach das Werkzeug, ist sehr präsent, sehr stark im Fokus, unterliegt auch einer bestimmten Bewertung und das wird auch in der Forschung tendenziell als ein Einfallstor für Grenzüberschreitung oder für sehr fluide Grenzen wertet.
Für Hannah Lesser ist auch die hohe berufliche Identifikation als Künstler*in eine Ursache, warum Kulturschaffende mehr Grenzüberschreitungen akzeptieren.
Ein weiterer wichtiger Punkt, erklärt Marina Fischer, ist, dass emotionale und physische Grenzen im Miteinander nicht als scharfe Trennlinien gesetzt werden und Grenzüberschreitungen für Betroffene deswegen oft schwer zu benennen sind.
Marina Fischer: Ihr habt ja gefragt: Was für Grenzüberschreitungen passieren im Alltag der künstlerischen Tätigkeit. Wichtig ist da, glaube ich, mitzudenken, dass Grenzüberschreitungen nicht immer so offensichtlich sind und nicht so direkt zu erkennen, gerade wenn sie sehr in dieser Identität als freischaffende, freidenkende Menschen auch mit auf eine Art involviert sind, positiv geframed: Grenzen überschreiten, über Grenzen gehen, Neues erkunden. Und aus der Arbeit mit Betroffenen wissen wir und auch aus der Studie, das war auch ein wichtiges Ergebnis der Studie, dass es sozusagen ein Kontinuum der Grenzüberschreitung gibt.
Es gibt also spezifische strukturelle Ursachen in der Kulturbranche, die zu Machtmissbrauch führen. Vorfälle von Diskriminierung und Machtmissbrauch sind keine Einzelfälle, auch wenn natürlich einzelne Menschen für ihr missbräuchliches Verhalten Verantwortung tragen. Trotzdem wollen wir uns jetzt einem konkreten Beispiel zuwenden.
Am Berliner Theater an der Parkaue, einem der größten Theater für Kinder und Jugendliche in Deutschland, wurden 2019 – unter der Leitung des damaligen Intendanten Kay Wuschek – Machtmissbrauchsvorfälle und ein Rassismusvorfall publik.
Seit der Spielzeit 2021/22 wird das Haus von einem neuen Leitungsduo, von Christina Schulz und Alexander Riemenschneider, geleitet. Wir sprechen mit Christina Schulz und Sonja Baltruschat, die als Referentin für Diversitätsentwicklung am Haus arbeitet. Uns interessiert, wie es ist, ein Haus mit dieser Vorgeschichte zu übernehmen und wie sich Diskriminierungsfälle auf das Arbeitsklima und die Kunstproduktion auswirken. Christina Schulz beschreibt ihre Erfahrung so:
Christina Schulz: Dann trifft man auf ein Haus in seiner Verfasstheit, wo schon eine Phase der Erschütterung hinter einem Haus liegt und das ganz viel auslöst bei Mitarbeiter*innen aber auch bei Menschen, die wir vielleicht wiederum gewinnen wollen, um in diesem Haus zu arbeiten und die eben auch diese Außenperspektive auf so ein Haus haben und teilen, dass sie erstmal Vorbehalte haben und nicht gleich ja sagen und sagen, mit euch geh ich dahin. Sondern eben auch ganz viele Fragen daran haben, wie wir uns dem annähern wollen, in so eine Leitungsaufgabe einzusteigen. Deshalb war es für uns zum Beispiel eine Entscheidung auf keinen Fall uns alleine auf eine Leitung zu bewerben, sondern eine geteilte Verantwortung zu suchen, indem wir einfach ein Team sind oder ein Duo, was sich beworben hat, also zwei Menschen und nicht eine Person. Und das auch dezidiert mit unterschiedlichen Kompetenzen. Bei Alexander Riemenschneider in dem Fall viel mehr noch die künstlerische Perspektive, auch wenn dieser ganze Diskurs um Machtkritik und Diversitätsorientierung auch für ihn ein Thema ist und bei mir eher die strukturelle Ebene, die nach Formaten und Beteiligung und Zugängen sucht. In diesem Bewusstsein haben wir gesagt, können wir uns auf dieses Haus bewerben.
Uns war klar, dass wir das Theater nicht neu denken können, ohne auch die Struktur zu hinterfragen und uns dabei auch selbst immer kritisch zu hinterfragen. Unsere Privilegien im Blick zu haben und uns in Geduld zu üben. Prozesse nachhaltig zu gestalten, sich Zeit zu geben. Und auf die Expertise, die im Haus ist zu bauen und die zu erweitern um die Perspektiven und Expertisen, die wir nicht mitbringen als wiederum auch ein weißes Leitungsduo.
Sonja Baltruschat kam 2019 als Diversitätsagentin im Rahmen des Förderprogramms 360° der Kulturstiftung des Bundes an das Haus. Unmittelbar, als das damals noch von Kay Wuschek geleitete Theater wegen eines Rassismusvorfalls in der Kritik stand.
Sonja Baltruschat: Wir wären nicht hier, wenn die Presseaufmerksamkeit nicht so groß gewesen wäre und wir immer wieder Nachfragen bekommen hätten. Dann wären wir als Haus nicht so weit. Dann wären wir nicht da, wo wir jetzt sind, dann hätten wir nicht diese Schritte gehen können. Weil das natürlich Themen sind, die erstmal zugemacht werden, wo in der Regel der Deckel draufgehalten wird. Die passieren ja jeden Tag an Theatern oder an Kulturinstitutionen. Wir reden ja von strukturellen Problemen und nicht von plötzlichen Einzelfällen, was jetzt auch nochmal deutlicher wurde, als diese verschiedenen Häuser auch während Corona jetzt nochmal mit ihren Themen deutlich mehr wahrgenommen wurden und öffentlich verhandelt wurden. Und wir brauchen diese Außenwahrnehmung, wir brauchen dieses Feedback, damit wir in Bewegung kommen. Das ist für mich ein wichtiger Punkt. Und auf der anderen Seite da aber auch ein sensibles Herangehen, mit dieser Vielstimmigkeit am Haus, die ja oft als pauschal das Haus die Parkaue verurteilt wird dann auch. Und da im Arbeiten zu merken, mit wie vielen verschiedenen Formen von Betroffenheit da umgegangen werden muss, von eigener Involvierung und auch eigenem an die Wand Laufen mit Bedürfnislagen formulieren, mit Hilfestellungen geben wollen oder Hilfe suchen und nicht gehört werden.
Die Aufarbeitung eines Diskriminierungsvorfalls dauert lange. Und sie zieht immer auch die Frage nach sich: Wie können wir verhindern, dass das nochmal passiert? Was können wir an den Strukturen verändern, um Machtmissbrauch und Diskriminierung vorzubeugen? Für Sonja Baltruschat trägt die Kulturpolitik dabei eine große Verantwortung, weil sie für die Neubesetzungen von Intendanzen an den öffentlich-rechtlichen Kultureinrichtungen zuständig ist. Diese Praxis wurde 2018 bei der Ernennung von Chris Dercon als Intendant der Volksbühne heftig kritisiert und wird heute noch mit Blick auf Parität und Diversität sehr kritisch diskutiert.
Sonja Baltruschat: Ich finde, dass es total wichtig ist, dass die politischen Entscheidungsträger*innen mehr in die Verantwortung gehen, die sie haben und da auch sich selber in dieser Verantwortung nochmal begreifen und tätig werden. Was eigene Schulungen und Weiterbildungen und Auseinandersetzungen mit Themen angeht. Was eine Neuverhandlung auch angeht von wie gehe ich mit Führungspersonen um, die politische Entscheidungsträger*innen installieren und auf diese Häuser loslassen. Das empfinde ich als wahnsinnig wichtigen Punkt auch da anzusetzen und Auswahlverfahren zu gestalten. Nicht einfach Leute da reinzuholen und reinzusetzen, sondern ganz klare Auswahlverfahren mit Kriterien zu haben, mit Findungsgremien zu arbeiten, die auch tatsächlich eine diverse Besetzung haben. Gleiche Leute holen sich die gleichen Leute wieder rein. Leitungskompetenz muss endlich Anerkennung finden. Es geht in Kultur- und Kunstinstitutionen nicht nur um Kunst und Künstler*in sein, es geht um Leiten von Häusern, von Institutionen. Es geht da um Diversitätskompetenz, um eine soziale Kompetenz, die für mein Gefühl ganz schön oft außer acht gelassen wird.
Außerdem kritisiert Sonja Baltruschat, dass künstlerische Qualität häufig absolut gesetzt wird und Häuser bzw. Leitungen kaum an anderen Erfolgskriterien gemessen werden.
Sonja Baltruschat: Es braucht klare Zielvereinbarungen, die auch immer wieder überprüft werden und die nicht nur in Kunst enden können. Ich finde das wichtig und richtig, aber das ist halt nicht alles. Der NV Solo ist natürlich ein krasses Tool auch mit Blick auf Machtmissbrauch. Auch hier wieder, dass Kunst und künstlerische Bewertung das einzige Bewertungstool sind oder das, ist total absurd und absolut nicht in Ordnung.
Christina Schulz sieht das in Bezug auf die Spielplangestaltung ganz ähnlich. Auch sie findet, dass es weitere Kriterien neben der künstlerischen Qualität für das Programm braucht.
Christina Schulz: Auch, wenn man anfängt, über das künstlerische Programm, über die Vision eines Hauses, wie soll der Spielplan aussehen und welche Menschen wollen wir beteiligen, nachdenkt, dann wird ganz oft das Wort Kriterium nicht gerne in den Mund genommen, weil das was technokratisches hat und ich glaube aber, dass wir nicht darum herumkommen für uns Qualitätskriterien, künstlerische Kriterien und vielleicht auch nochmal welche, die mehr in Richtung Zugänge überlegt sind, zu definieren, damit wir uns selbst immer wieder überprüfen können.
Als Leitung kann Christina Schulz viele künstlerische Entscheidungen treffen und mitgestalten. Da sie ganz bewusst angetreten ist, um eine machtkritische und diversitätorientierte Arbeitspraxis zu entwickeln und umzusetzen, hat sie dabei eine Doppelrolle. Christina Schulz findet,
Christina Schulz: ... dass man auch immer abwägen muss, ist man jetzt Teil einer Machtstruktur und das ist man ja in einer Leitungsposition zweifelsohne und man hat da eine Verantwortung und an welcher Stelle ist man aber auch eher auf der Seite der intervenierenden und moderierenden Funktion. Und auch die ist ja nicht losgelöst von einer Machtposition. Das finde ich auch ein schwieriges Verhältnis, wo man auch in so einer verantwortlichen Position permanent sich selbst überprüfen muss und glaube ich auch gut beraten ist, sich so etwas wie eine Supervision oder Mentor*innenschaft oder irgendwas an die Seite zu holen, da man oft auch an sich selbst zweifelt. Ich meine das jetzt gar nicht so schwer an sich selbst zweifelt, aber doch immer in Situationen kommt, wo man seiner eigenen Begrenztheit gewahr wird und das überwinden muss und einen Weg finden muss, trotzdem einen Schritt zu machen.
Ein bewusster Umgang mit der eigenen Macht und den eigenen Privilegien scheint also entscheidend, um Machtmissbrauch zu verhindern. Nur wer sich seiner eigenen Privilegien bewusst ist, kann diese auch gezielt dafür nutzen, sich solidarisch zu verhalten und mit der eigenen Macht verantwortungsvoll umzugehen. Das Konzept des Powersharings verweist auf dieses Potential und wird komplementär zu Empowerment gedacht. Die Verantwortung für Konflikte, Machtmissbrauch oder auch Diskriminierung wird von der betroffenen Person verschoben.
Wie eine solche Praxis des bewussten Umgangs mit Machtverhältnissen, Ressourcenteilung und einer Praxis kollegialer Solidarität aussehen kann, erklärt Clementine Burnley. Aus ihrer Erfahrung in der Begleitung von Teams und Institutionen weiß sie, welche Konsequenzen das Beschweigen von Machtstrukturen auf das Miteinander hat.
Clementine Burnley: Es ist sehr wichtig, in Teams auf die Kommunikation zu achten. Es gibt wirklich sehr, sehr viele Werkzeuge, was [es] in Teams sehr oft nicht gibt, ist eine Praxis in der Verwendung von Tools, die eigentlich ganz gut bekannt sind von uns allen. Zum Beispiel einfach dass [es] in Teams zur Gewohnheit wird, dass alle Menschen im Team dann die Möglichkeit haben, authentisch zu kommunizieren. Dass eine Feedback-Struktur definiert wird und dann wirklich eingesetzt wird. Dass Menschen eine regelmäßige Möglichkeit haben, deren Meinung zu sagen über wichtige Änderungen und Geschehen im Team, in Organisationen. Dass Menschen Lob bekommen, dass Menschen das Gefühl haben, in diesem Team werde ich wahrgenommen so wie ich bin. Dass meine Arbeit gesehen wird, dass ich Credits bekomme, dass meine Leistung gesehen wird. Und eigentlich erfinde [ich] kein Rad neu. Was sehr oft fehlt, ist eine Praxis. Und auch denke ich, was mehr geübt werden soll, ist wirklich in Konflikt zu gehen. Einfach anzuerkennen, dass eine Differenz da von Meinungen ist, von Interessen ist, und interessiert und neugierig und offen davon zu reden und auch tatsächlich von Macht zu reden.
Hannah Lesser von Themis findet außerdem, dass zur Verhinderung von Machtmissbrauch viel mehr gezielte Präventionsarbeit gemacht werden muss und ihre Kollegin Marina Fischer hält kollegiale Solidarität für eine zentrale Ressource für Betroffene.
Hannah Lesser: Also ich würde auf jeden Fall sagen, dass es viel mehr Räume braucht der Sensibilisierung und des Austausches und überhaupt Räume, in denen informiert wird, über dieses Thema. Also dass es noch viel mehr zur Selbstverständlichkeit wird, dass Führungskräfte ihre Pflichten kennen und dass Menschen, die dort arbeiten, wissen, was ihre Rechte sind.
Marina Fischer: Selbst wenn Grenzüberschreitungen stattgefunden haben macht es einen Unterschied, ob Solidarität im Prozess oder hinterher erfahren wurde oder nicht. Wirklich, um alle zu ermutigen, sich trotz der Schwierigkeiten, die man überwinden muss, sich vielleicht wirklich mitverantwortlich zu fühlen und genau hinzugucken, damit eben Betroffene nicht alleine bleiben mit dem Erlebten. Was immer hilft ist, Trockenübungen zu machen, sich vorzubereiten auf mögliche Grenzüberschreitungen, die vielleicht noch gar nicht passiert sind, aber sich zu überlegen, was würde ich denn tun, wenn ich mitbekomme, dass meine Kollegin auf eine seltsame Art angesprochen wird, dass sie vielleicht angefasst wird und sie das nicht möchte und vielleicht auch, wenn ich einfach unsicher bin, was passiert.
Und wenn alle Stricke reißen, wenn eine Beschwerde bei Führungskräften und zuständigen Gremien kein Gehör findet oder die kollegiale Solidarität ausbleibt? Maryam Haschemi empfiehlt, immer sich selbst zu schützen und das Erlebte zu dokumentieren, damit Betroffene im Zweifel vor Gericht das Erlebte nachweisen können.
Maryam Haschemi: Das heißt eine wichtige Sache bei dem Thema Machtmissbrauch und Mobbing und diskriminierender Belästigung ist tatsächlich immer neben der Dokumentation dieser ganzen Systeme, die ich da sehe, die Vorfälle zu melden. Und zwar auch als solche, wie ich sie wahrnehme. Und wenn dann die vorgesetzten Personen nicht handeln, dann gibt es vor Gericht schon eine andere Rechtfertigungsnotwendigkeit, warum die Vorgesetzten an dieser Stelle nicht interagiert haben und dafür gesorgt haben, dass bestimmte Mechanismen aufhören. Aber Mobbingfälle sind sehr, sehr schwierig juristisch vor Gericht zu lösen. Man sollte auch an dieser Stelle immer schauen, gibt es in den Arbeitsorganisationen Beschwerdemechanismen und Ansprechpersonen, die hier vorbeugend intervenieren können, bevor ich in eine Situation komme, dass zum Beispiel meine Gesundheit durch so etwas geschädigt ist und ich meine Tätigkeit nicht mehr ausüben kann.
Aber die Hoffnung bleibt natürlich, dass sich durch kulturpolitische Leitlinien, das solidarische Engagement von Leitungen sowie Kolleg*innen und durch Modellprojekte wie z.B. Fairstage, ein Berliner Projekt für diskriminerungsfreie und gerechtere Arbeitsbedingungen am Theater, die Strukturen im Theater und generell im Kulturbetrieb so verändern, dass Mitarbeitende am Arbeitsplatz vor Machtmissbrauch und Diskriminierung gut geschützt sind.
Das wars von uns zum Thema Machtmissbrauch. In der nächsten und letzten Folge unseres Podcasts soll es dann endlich ganz viel um Kunst gehen, also um den Zusammenhang von Diversität und ästhetischer Praxis und um Diversität als Label in der Kulturförderung und beim Kuratieren. Wie stehen marginalisierte Künstler*innen zum Diversitätsbegriff? Wer bestimmt, was künstlerische Qualität ist? Das wollen wir beantworten – aber nicht selbst, sondern wir übergeben für die letzte Folge das Mikrofon an die Kurator*in Kathy-Ann Tan und die Künstlerin Laia Ribera Cañénguez. Wir hoffen, ihr seid dann wieder dabei.