Text: Sandrine Micossé-Aikins und Eylem Sengezer

 

Is the era and the goal of „cultural diversity“ in the arts now over? Has the globalisation of the art world – „let a thousand biennales bloom“ – „solved“ the problem? Stuart Hall (2010)

 

Dass die Institution Kunst schon seit jeher ein Unbehagen auslöst, zeigt ein Blick in die Geschichte: Seit den 1960er Jahren sind immer wieder neue Formen der künstlerischen Institutionskritik entstanden, die vor allem Galerien und Museen adressierten. Dabei war die Kritik zunächst gegen jene Instanzen gerichtet, die die Entscheidungsmacht darüber haben, was als Kunst anerkannt wird. In den 1990er Jahren wurde diese Kritik um kapitalismuskritische und feministische Positionen von zum Beispiel den Guerrilla Girls, Andrea Fraser oder Sonia Boyce erweitert, die bis heute in ihren künstlerischen Arbeiten auf Machtstrukturen, Abhängigkeitsverhältnisse und Ausschlüsse im Kulturbetrieb hinweisen. Und doch verbleibt diese berechtigte Form der Institutionskritik auf einer ästhetischen Oberfläche. Sie vermag es nicht, Strukturen zu verändern oder läuft Gefahr, von der Institution angeeignet und vermarktet zu werden.

 

Gleichzeitig fordern seit den 60er Jahren Bewegungen wie das Disability Arts Movement oder das Black Arts Movement gleichberechtigten Zugang und Repräsentation in der Kulturlandschaft. Die gegenwärtige Institutionskritik bezieht sich auf diese Bewegungen und einen daraus hervorgegangenen intersektionalen und diskriminierungskritischen Diversitätsbegriff, der die Erfahrungen von denjenigen in den Vordergrund stellt, die von Ausschlüssen betroffen sind. Dass die Positionen von Kunst- und Kulturschaffenden, die beispielsweise Rassismus oder Ableismus im Kulturbetrieb erleben, im Diskurs unterrepräsentiert sind, darauf verweist Richard Appignanesi in seinem Essay „What is to be done“. Appignanesi führt in dem Essay, der im Zuge des Creative Case for Diversity des Arts Council England erschienen ist, aus, dass weiße künstlerische Positionen als grundlegend für die kunsthistorische Genealogie angesehen werden, während Positionen von Künstler*innen of Colour meist ignoriert oder nur als ergänzendes Material (als Teil der „kulturellen Vielfalt“) wahrgenommen werden – als hätten sie nichts mit der britischen Geschichte zu tun. Appignanesi plädiert dafür, dass die institutionelle Priorität nun darin bestehen müsse, diese beiden Geschichten in einer integrierten Erzählung zusammenzuführen.

 

Welches Potenzial birgt dieser ganzheitliche Blick auf Kunstgeschichte? Welche Kunstformen könnten entstehen, wenn marginalisierten Perspektiven mit genuinem Interesse begegnet wird?

 

Eine vergleichbare diskriminierungskritische Debatte ist in etablierten Kontexten in Deutschland kaum sichtbar. Zwar sind in den letzten Jahren verschiedene Programme und Initiativen zur Diversifizierung des deutschen Kulturbetriebs entstanden – dennoch ist er weit entfernt von einem echten Strukturwandel, der Diversitätsentwicklung mit Antidiskriminierungsarbeit verknüpft. „Öffnungsprozesse“ finden auf freiwilliger Basis statt. Diversitätsarbeit bleibt im Kultur- und Kunstbetrieb meist die Aufgabe oder Bürde von einzelnen Mitarbeitenden. Wie herausfordernd und komplex Diversitätsarbeit ist, beschreibt Sara Ahmed in ihrem Buch „On being included“. Ahmed verweist auf ausschließende, historisch gewachsene Prozesse und Handlungen, die sich in Institutionen kollektiv wie individuell verhärten. Diese nahezu unumstößlichen „Mauern der Macht“ entstehen allerdings nur für diejenigen, die diese Normen nicht akzeptieren oder versuchen, die Institutionen zu verändern.

 

Institutionen diskriminierungskritisch verändern

Im Rahmen der Arbeit von Diversity Arts Culture beobachten auch wir wiederkehrende Muster, wenn es darum geht, institutionelle Praktiken zu hinterfragen oder zu verändern. Neben der Tendenz, Diversitätsarbeit in den Bereich der Vermittlung oder in kurzfristige Projekte zu verlagern, die kein strukturelles Veränderungspotenzial haben, weil sie nicht mit weitreichender Entscheidungsmacht ausgestattet sind, wird Bemühungen um diskriminierungskritische Veränderung beispielsweise in Fragen des Personals nicht selten mit der Sorge vor einem wissenschaftlichen oder künstlerischen Qualitätsverlust begegnet. Institutionen bekennen sich in Leitbildern und Selbstverpflichtungen zu mehr Vielfalt, handeln aber selten entsprechend, in dem sie zeitliche und finanzielle Ressourcen bereitstellen oder Strukturen für diese Veränderungen schaffen.

 

Wie diskriminierungskritische Öffnungsprozesse aussehen können, zeigen die in dieser Broschüre versammelten Beispiele, die mit unter schiedlichen Ansätzen institutionelle Normen hinterfragen und Zugänge für Marginalisierte schaffen. Was sie gemeinsam haben, ist, dass Leitungspersonen dabei eine unverzichtbare Rolle einnehmen. In ihrem Essay verweist Sue Emmas auf die zentrale Frage, wessen Standards in Institutionen über den Ein- und Ausschluss entscheiden: Wer definiert Standards und Qualitätskriterien in Bezug auf Personal und programmatische Leitlinien? Wie demokratisch können Prozesse der Standardisierung und Kanonisierung sein, wenn sie in hierarchischen und meist homogenen (personellen) Strukturen stattfinden? Welches Potenzial geht verloren, wenn ausschließende Praktiken nicht hinterfragt werden? Aushandlungsprozesse, die Privilegien, Dominanzverhältnisse und Diskriminierung benennen, setzen ein hohes Maß an Selbstkritik und positiven Gestaltungswillen voraus.

 

Perspektivwechsel

Während auf kulturpolitischer Ebene bisher keine verbindlichen Strukturveränderungen im Sinne einer Diversitätsentwicklung umgesetzt worden sind, wurden in den letzten Jahren Ressourcen in Projekte investiert, die ohne klare Leitlinien die „Öffnung“ von Kulturinstitutionen voranbringen sollen – zuletzt in das 360°-Programm der Kulturstiftung des Bundes. Gleichzeitig gab es bisher kaum Bemühungen, von Ausschlüssen betroffene (potenzielle) Kulturschaffende nachhaltig und gemäß ihrer Bedürfnisse so zu unterstützen, dass sie einen Werdegang im Kulturbetrieb beginnen und/oder weiterführen können. Diese Ausschlüsse umfassen häufig unausgesprochene, jedoch vorherrschende Vorstellungen von „Hochkultur“, „künstlerischer Qualität“ oder „Talent“ genauso wie die häufig daraus resultierenden Zugangsbarrieren zu Förderstrukturen und zum Arbeitsmarkt.

 

Darüber hinaus sorgen Erfahrungen von Alltagsdiskriminierung für erschwerte Bedingungen in einem ohnehin prekären Arbeitsfeld. Nicht selten führt dies zu einem Rückzug aus dem Kulturbetrieb. So kommt es, dass unter anderem Kunst- und Kulturschaffende mit Behinderung oder mit Rassismuserfahrungen sowie sozial und finanziell prekär gestellte Menschen im Kulturbetrieb derzeit stark unterrepräsentiert sind.

 

Eine diversitätsorientierte Öffnung von Kulturinstitutionenkann nur gelingen, wenn gleichzeitig positive Maßnahmen durchgeführt werden, die sicherstellen, dass sich Repräsentationsverhältnisse insgesamt verändern können.

 

2018 führten „Citizens for Europe. Vielfalt Entscheidet – Diversity in Leadership“ eine fokusgruppenbasierte Studie durch, die Handlungsbedarfe aus Sicht von Diskriminierungserfahrenen erhob. Darin kristallisierten sich die folgenden zentralen Handlungsfelder für eine nachhaltige Diversifizierung des Kulturbetriebs heraus:

 

  • 1. Diskriminierungsschutz

Alle Teilnehmenden der Studie waren mit unterschiedlichen Formen direkter oder indirekter Diskriminierung im Kulturbetrieb konfrontiert worden.

 

  • 2. Förderung

Teilnehmende benannten Hürden in der Förderstruktur, die zum einen mit den vorherrschenden Machtstrukturen und der homogenen Besetzung von Entscheidungsgremien zusammenhängen und zum anderen aufgrund fehlender Zugangsmöglichkeiten entstehen. Als Bewerber*innen begegneten den Befragten unter anderem eurozentrische Vorstellungen von „richtiger Kunst“ sowie die Einschätzung, unterrepräsentierte Perspektiven seien nicht relevant und somit nicht förderwürdig.

 

  • 3. Der Kulturbetrieb als elitärer Raum

Die derzeitigen Strukturen des Kulturbetriebs begünstigen den Erfolg von Menschen, die bereits über verschiedene Ressourcen (zum Beispiel familiär bedingtes professionelles Netzwerk, Insiderwissen, finanzielle Absicherung) verfügen. Da Menschen mit Rassismuserfahrung und Menschen mit Behinderung überproportional häufig auch aus strukturellen Gründen ökonomisch benachteiligt sind, arbeiten sie im Kulturbetrieb überdurchschnittlich oft unter erschwerten Bedingungen.

Ein Kulturbetrieb, der den Anspruch hat, „für alle“ offen zu sein, muss sich dringend auch mit diesen Handlungsfeldern auseinandersetzen und Diskriminierungserfahrene als Expert*innen und Rezipient*innen stärker einbinden.

 

Ausblicke/Forderungen

Die 2016 von „Citizens For Europe. Vielfalt Entscheidet – Diversity in Leadership“ verfasste Expertise „Handlungsoptionen zur Diversifizierung des Berliner Kultursektors“ fasst Erkenntnisse und Forderungen zusammen, aus denen sich notwendige Maßnahmen der Diversitätsentwicklung ableiten lassen sowie wiederkehrende Fehler und falsche Prämissen bei der selbigen. Auf dieser Basis und auf Basis der Erkenntnisse aus anderen, in Bezug auf Diversität im Kulturbetrieb fortgeschrittenen Kontexten wie zum Beispiel der Arbeit des Arts Council England, aber auch durch die Modellprojekte und Maßnahmen von Diversity Arts Culture, die seit 2017 durchgeführt und empirisch begleitet werden, lassen sich folgende Maßnahmen ableiten, um einen strukturellen Wandel im Berliner Kulturbetrieb voranzutreiben:

 

  • 1. Erhöhung von Diversitäts- und Antidiskriminierungskompetenz

Eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Diversität im Kulturbetrieb bedeutet, den Antidiskriminierungs- und Arbeitnehmer*innenschutz massiv in Förderprogrammen, Zuwendungen und institutionellen Strukturen zu verankern. Hierfür müsste eine diskriminierungskritische Beschwerde- und Beratungsstruktur aufgebaut werden, die den spezifischen Bedingungen des Kulturbetriebs gerecht wird. Bereits existierende, gute Strukturen wie THEMIS, die Vertrauensstelle gegen sexuelle Belästigung und Gewalt, könnten dabei als Grundlage dienen, müssten jedoch entlang der AGG-Dimensionen ausgebaut werden. Diversitäts- und Antidiskriminierungskompetenzen müssen durch verpflichtende Fortbildungen vor allem in der Verwaltung, in Gremien und beim Leitungspersonal erweitert werden.

 

  • 2. Diversifizierung von Förderstrukturen

Es gilt, ungleiche Ausgangsbedingungen durch positive Maßnahmen auszugleichen und unterrepräsentierte künstlerische Perspektiven gezielt zu fördern. Die im Februar 2020 eingeführte Impact-Förderung ist ein wichtiges Förderinstrument, das einen ersten Beitrag leistet. Gleichzeitig müssen alle Förderprogramme auf ihre Ausschlüsse untersucht und so verändert werden, dass ein gleichberechtigter Zugang gewährleistet werden kann. Es handelt sich hierbei keinesfalls um Zugeständnisse, sondern um die Anwendung geltender rechtlicher Vorgaben und daraus resultierende Pflichten. Diese sollten nicht auf Freiwilligkeit beruhen oder von der Durchsetzung durch Klageverfahren abhängig sein, sondern von Politik und Verwaltung aktiv und verbindlich von Zuwendungsempfänger*innen eingefordert werden.

 

  • 3. Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten

Wir benötigen darüber hinaus ein besseres Verständnis der durch Diskriminierung entstehenden Zugangsbarrieren zu Ausbildung, Arbeitsmarkt und Fördersystemen des Kulturbetriebs. Belastbare Daten sind nicht nur eine Argumentations- sondern auch eine Konzeptionsgrundlage für die weitere Diversitätsentwicklung. Die Erhebung von Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten, die sich eng an den bestehenden Gesetzgebungen (Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz, Landesgleichstellungsgesetz, Landesantidiskriminierungsgesetz) orientiert, hat sich bewährt, müsste aber in einem viel größeren Ausmaß durchgeführt werden.

 

  • 4. Nachwuchsförderung

Darüber hinaus gilt es, unterrepräsentierten Kulturschaffenden die Möglichkeit zu geben, sich zu qualifizieren und ihre künstlerische, kuratorische und kulturwissenschaftliche Expertise zu entwickeln, ohne dabei diskriminierenden Zwängen ausgesetzt zu sein.

 

  • 5. Aktionspläne

Das Beispiel der Equality Action Plans des Arts Council England zeigt, wie Aktionspläne Kulturinstitutionen ohne allzu starre Vorgaben verpflichten können, Diversität im eigenen Betrieb umzusetzen.

Für Berlin könnte die Einführung von verbindlichen Aktionsplänen zur Diversitätsentwicklung der Kulturverwaltung einen Rahmen geben, gemeinsam mit ihren Zuwendungsempfänger*innen messbare Ziele zu definieren und zu erreichen.

 

In diesen Zeiten des krisenbedingten gesellschaftlichen Umbruchs liegen auch Chancen, eingefahrene Strukturen zu überdenken. Es ist zu früh zu sagen, wie sich die kulturelle Landschaft in Berlin verändern wird. Abzusehen ist, dass Diversitätsentwicklung an vielen Stellen dem „Kerngeschäft“ der Institutionen weichen wird, wenn sie kulturpolitisch nicht weiter und verstärkt gefordert wird. Gerade beim Wiederaufbau und der weiteren Förderung, die der Berliner Kulturbetrieb in der nächsten Zeit brauchen wird, ist es wichtig, nicht einfach die bestehenden Strukturen „wiederzuholen“, sondern neue und gerechtere Strukturen zu schaffen.