Maß oder Masse
War das Bauhaus ableistisch?

Kurt Stolp im Unterricht. Aktzeichnen am Bauhaus Dessau, Künstler*in unbekannt, Silbergelatine auf Barytpapier, 6,8 x 5,4 cm, 1930
Text: Dirk Sorge
Kritik im Jubiläumsjahr
Das Jahr 2025 wird ein großes Jubiläumsjahr für das Bauhaus. Vor 100 Jahren ist es von Weimar nach Dessau umgezogen. Ein Anlass zum Feiern? Manche Politiker*innen wünschen sich eine kritischere Betrachtung des Bauhauses. Man solle es nicht „glorifizieren“. Seltsamerweise wird dafür kein politisches Argument vorgebracht, sondern ein ästhetisches: Durch das Bauhaus sei das menschliche Bedürfnis nach Behaglichkeit missachtet worden.1 Ich verstehe diese Anklage so, dass einfache Formen und moderne Materialien wie Stahl und Glas weniger gemütlich sind als stuckverzierte Decken, Plüsch und Eichenholz, die im deutschen Kaiserreich die Wohnungen dominierten. Das ist Geschmackssache. Mit kritischer Aufarbeitung hat das nichts zu tun. Wer „Behaglichkeit“ in einem politischen Kontext benutzt, disqualifiziert sich selbst und verdeckt seine eigentlichen politischen Absichten. Das Bauhaus war vor 100 Jahren vielen konservativen und rechtsextremen Politiker*innen ein Dorn im Auge, weil es als progressiv und in Teilen als kommunistisch galt. Daher lohnt sich eine kritische Aufarbeitung unter der Frage „Wie progressiv war das Bauhaus tatsächlich?“. Allerdings stelle ich die Frage aus einer anderen Perspektive als die der rechten Standspur.
Moderne ohne Ideologie?
Expert*innen können zu Recht einwenden, es gebe gar nicht „das Bauhaus“, da es je nach Direktion und Standort unterschiedlich ausgerichtet war. Es war auch kein einheitlicher Stil, da die Lehre von starken künstlerischen Persönlichkeiten ganz individuell war. Dennoch könnte man als Kern des Bauhauses versuchsweise folgende Prinzipien auflisten, die in ihrer Summe für „das Progressive“ im Bauhaus stehen:
- 1. Formen und Farben wurden reduziert und es wurde auf unnötige Schmuckelemente verzichtet. Unnötig meint dabei das, was keine Funktion hat.
- 2. Die Anforderungen des modernen Lebens in (Groß-)Städten standen im Fokus, d.h. neben der Kleinfamilie wurde auch das Leben von Singles in Betracht gezogen.
- 3. Es wurden neue Materialien verwendet – und zwar nicht nur aus ästhetischen Gründen, sondern aus praktischen.
- 4. Produkte sollten auch für eine breite Masse hergestellt werden und nicht nur für eine wohlhabende Elite.
- 5. Daraus folgten neue Produktionsmethoden, bei denen mehr standardisiert und maschinell gearbeitet wurde.
Insbesondere der vierte und fünfte Punkt waren nicht immer Teil des Bauhaus-Programms, prägen aber bis heute das kulturelle Gedächtnis. Punkt vier wurde vor allem unter dem Direktor Hannes Meyer ab 1928 prominent vertreten, während Punkt fünf ab 1923 von Walter Gropius formuliert wurde.2 1919 bei der Gründung des Bauhauses betonte Gropius noch die Bedeutung des Handwerks; das Bauhaus-Manifest wirkt fast schon anachronistisch. Das Handwerk spielte später eine untergeordnete Rolle und war eher Mittel zum Zweck. Es war nötig, um Prototypen zu entwickeln, die dann unter Berücksichtigung von Materialeigenschaften und möglichen Konstruktionsmethoden in die serielle Produktion gehen sollten.
Die genannten fünf Punkte sind noch keine bestimmte Ideologie, sondern beschreiben eher allgemein unsere Vorstellung von der (westlichen) Moderne. Sie könnten die Grundlage für eine kommunistische Produktion sein oder für eine kapitalistische, die eine möglichst große Masse an Käufer*innen erreichen möchte. Sie sagen nichts darüber aus, wem die Produktionsmittel gehören, und auch nichts darüber, wer z.B. die versteckten, externalisierten Kosten trägt. Sie sagen aber indirekt etwas darüber aus, wo Ausschlüsse entstehen können. Denn wenn diese fünf Punkte in einer ableistischen Gesellschaft umgesetzt werden, tragen sie dazu bei, ableistische Strukturen zu verfestigen und Menschen mit Behinderung auszuschließen. Die Ursache dafür liegt in den Konzepten von Rationalisierung und Standardisierung.
Normproduktion
Die maschinelle Produktion für eine breite Masse beruht auf zwei Arten von Standardisierung oder Normierung. Erstens muss ein Produkt so gestaltet sein, dass es als Ganzes oder zumindest seine Einzelteile von Maschinen seriell hergestellt werden können. Aufwändige handwerkliche Arbeiten dauern zu lange und halten die betrieblichen Abläufe auf. Und zweitens muss das Produkt massentauglich sein. Maschinen für die Produktion zu entwickeln oder anzuschaffen lohnt sich nur dann, wenn man erwarten kann, dass eine ausreichend große Stückzahl produziert wird, d.h. die Gruppe der potenziellen Käufer*innen muss groß genug sein. Im Umkehrschluss heißt das aber auch: Wer in der Gruppe der potenziellen Käufer*innen nicht repräsentiert ist, für den passt der Standard der Produkte wahrscheinlich nicht. Die Produkte müssen möglichst praktisch und effizient sein und die Käufer*innen am besten auch. Im Gegensatz zu einem „maßgeschneiderten“ Produkt, das an ein bestimmtes Individuum angepasst werden kann, muss ein massenhaft hergestelltes Produkt für eine anonyme, abstrakte Allgemeinheit passen. D.h. die*der tatsächliche Nutzer*in eines Massenprodukts ist unbekannt und muss beim Entwerfen imaginiert werden. Die entscheidende Frage ist: Wer wurde imaginiert und für wen wird dann in der Folge etwas passend gestaltet?
Nina Wiedemeyer, Kuratorin am Bauhaus-Archiv Berlin, zeigt in ihrem Aufsatz „Bauhaus Gefäße“, dass in der Bauhaus-Töpferei zunächst ein spielerischerer experimenteller Ansatz verfolgt wurde, der auch nicht-symmetrische, nicht-normierte und nicht optimal handhabbare Gefäße hervorbrachte. Allerdings haben sich solche Ansätze nicht durchgesetzt.3 Sobald die Gefäße zu seriell produzierten Waren wurden, mussten sie nützlich sein und sich anpassen. Sie wurden für die Handhabung eines*einer imaginären Durchschnittsnutzer*in optimiert. Die wichtige Frage ist dann, welche Körper und welche Fähigkeiten hat so ein*e imaginierte*r Nutzer*in? Wer ist die Blaupause für den fiktiven Durchschnittsmenschen? Wer ist der menschliche Prototyp? Übersetzt für den Gestaltungsprozess heißt das z.B.: Wie groß und wie schwer soll eine Wasserkanne sein? Wie viele Henkel soll sie haben und wie sind die geformt? Diese Überlegungen sind keine akademische, theoretische Spielerei, sondern haben ganz konkrete Auswirkungen auf die Frage, wer durch welche Gebrauchsgegenstände im Alltag behindert wird. Wenn ich selbst und meine Testpersonen nur junge Studierende ohne Behinderung sind, entwerfe ich vermutlich andere Formen, als wenn ich eine diversere Gruppe einbezogen hätte. Die Fragen sind auch nicht auf die Gestaltung von Wasserkannen beschränkt, sondern betreffen jedes große und kleine Element, das von Menschen gestaltet wird. Nach den Ideen von Walter Gropius reicht die Gestaltung in der Architektur von der Türklinke bis zur Form des ganzen Gebäudes und schließlich bis zur Stadtplanung als Ganzes, in der typisierte Häuser seriell gebaut werden sollen. Wie hoch und breit soll eine Treppenstufe sein? Auf welcher Höhe ist der Handlauf? Welche visuellen Kontraste sollen die Farben und Materialien haben? Benötigt ein mehrstöckiges Gebäude immer einen Aufzug oder erst, wenn es mehr als drei Obergeschosse hat? Das sind alles keine trivialen Fragen und sie gestalten das tägliche Leben von Menschen über mehrere Generationen. Die Verantwortung der Gestalter*innen ist also enorm und ihre Entscheidungen sollten auf möglichst objektiven, wissenschaftlichen Grundlagen beruhen und nicht auf einer spontanen künstlerischen Eingebung. Das scheinen auch die Lehrenden am Bauhaus geahnt zu haben. So versuchen z.B. Gertrud Grunow4 und Paul Klee5 , allgemeingültige, elementare Regeln aufzuspüren, die nicht nur das Verhältnis von Formen unter einander beschreiben, sondern auch zwischen Formen, Farben und Tönen. Beide gehen davon aus, dass diese Regelmäßigkeiten kulturunabhängig existieren und durch menschliche Wahrnehmung entdeckt werden müssen. Sie ziehen nicht in Betracht, dass körperliche und geistige Unterschiede diese Verhältnisse verändern. Die Regeln sind folglich auch sehr unspezifisch, damit sie den universalistischen Status beanspruchen können.6
- 1Vgl. „Die AfD, das Bauhaus und die Moderne“ (https://www.deutschlandfunkkultur.de/afd-bauhaus-landtag-sachsen-anhalt…), abgerufen am 20.11.2024.
- 2Vgl. Bauhaus-Archiv (Hrsg.): „Das Bauhaus 1919–1933“ (https://www.bauhaus.de/de/das_bauhaus/48_1919_1933/), abgerufen am 20.11.2024.
- 3Vgl. Nina Wiedemeyer (2023): „Bauhaus Gefäße“. In: Elementare Gefäße. Schriftenreihe des Mies van der Rohe Hauses, Band 9, S. 153-164.
- 4Vgl. Gertrud Grunow (1923): „Der Aufbau der lebendigen Form durch Farbe, Form, Ton“. In: Walter Gropius: Staatliches Bauhaus Weimar 1919 bis 1923, S. 20–23.
- 5Vgl. Paul Klee: „Wege des Naturstudiums“. In: Walter Gropius: Staatliches Bauhaus Weimar 1919 bis 1923, S. 24–25.
- 6Detaillierter kann ich hier nicht darauf eingehen. Es lohnt sich, die Originaltexte zu lesen. Sie verbinden einen wissenschaftlichen Anspruch mit einer Haltung, die wir heute (vielleicht zu vorschnell) „esoterisch“ nennen würden.

Menschliches Skelett, anatomische Studie, rückseitig weiblicher Akt, Alma Siedhoff-Buscher, Bleistift auf braunem Papier, 43,3 x 34,5 cm, um 1922
Studium der Natur
Teil der Ausbildung am Bauhaus waren auch sogenannte Naturstudien, zu denen auch das Zeichnen von Gegenständen und menschlichen Körpern gehörte. Im Bauhaus-Archiv Berlin finden sich einerseits Fotografien, die das Aktzeichnen dokumentieren und andererseits viele Ergebnisse oder Übungen aus dem Aktzeichenkurs. Es zeigt sich hier eine große Bandbreite von Ansätzen und Stilen. Manche sind eher klassisch und versuchen, durch Licht und Schatten Volumen der Körper darzustellen. Andere sind eher linear und vereinfachen die Körper. Manche sind schematisch und verdeutlichen wie bei Bewegungen Spannungen und Kräfte entstehen, z.B. bei Bewegungen, die aus dem Sport oder Tanz entlehnt sind. Bei manchen Zeichnungen sind die dargestellten Figuren auch in Interaktion mit Objekten. Sie sitzen in verschiedenen Posen auf Stühlen, tragen eine Kiste, halten einen Stab oder ziehen etwas. Vereinzelt finden sich auch anatomische Zeichnungen.
Im Bauhaus gab es absichtlich keine Trennung von angewandter und freier Kunst. Wenn also in den Naturstudien bestimmte Proportionen und Körpernormen der Modelle beobachtet wurden, könnten diese bewusst oder unbewusst den Entwurfsprozess in den praktischen Werkstätten beeinflusst haben. Das nachzuweisen, ist schwer und bleibt spekulativ. Es würde aber zum ganzheitlichen Lehrverständnis am Bauhaus passen, dass die Erkenntnisse aus dem einen Kurs, die Arbeit in einem anderen Kurs informierten. Es wäre in diesem Zusammenhang interessant zu wissen, ob Menschen mit Behinderung als Aktmodelle fungierten bzw. was genau bei den Naturstudien als Natur präsentiert wurde. Insbesondere durch die Folgen des Ersten Weltkriegs gab es im öffentlichen Raum in Deutschland mehr Menschen mit sichtbaren Behinderungen. Haben sie in der Ausbildung am Bauhaus eine Rolle gespielt oder wurden sie ausgeblendet? Waren Wasserkannen für Nutzer*innen von Handprothesen ein Thema am Bauhaus?
Wenn etwas maschinell in großer Stückzahl hergestellt werden soll, kann es wenig an individuelle Bedarfe angepasst werden. Für Dinge, die „aus einem Guss“ sind, gibt es eine Gießform, die das Ideal ist, und tausende gegossene, möglichst exakte Kopien davon. Es gibt hier wenig Spielraum für Abweichungen. Eine Abweichung gegenüber der Vorlage wird nicht als künstlerische Handschrift oder geniale Idee verstanden, sondern einfach als Fehler. Das gilt nicht nur für das Produkt, sondern auch für die Nutzer*innen. Je stärker ich vom Durchschnitt abweiche, desto unbequemer oder unpassender sind die gestalteten Dinge, die mich umgeben. Es sei denn, es sind Maßanfertigungen, die eigens für mich hergestellt oder angepasst wurden. Am deutlichsten zeigt sich diese Korrelation von standardisierter Massenware und standardisierter Nutzer*in im Bereich der Bekleidung. Alles außerhalb der Konfektionsgrößen muss in Spezialläden gekauft oder eigens angefertigt werden. Beides bedeutet meistens finanziellen und zeitlichen Mehraufwand. Und auch innerhalb der Konfektionsgrößen nimmt die Auswahl ab, je weiter man sich vom Durchschnitt entfernt. Hier zeigt sich auch die Intersektion von Behinderung und Klassismus: Wenn ich über die nötigen finanziellen Ressourcen verfüge, bin ich eher in der Lage, meine Behinderung zu kompensieren, als wenn ich günstige, aber unpassende Dinge „von der Stange“ kaufen muss.

Stehender männlicher Akt mit Stock in: „Zeichenblock mit 26 Akt- und Figurenstudien“, Egon Gürtler, Bleistift auf Papier, 62,6 x 44,9 cm, ohne Datierung
Wer ist der Durchschnitt?
Wenn ich als Designer*in nicht nur meine eigene Lebenserfahrung in den Entwurfsprozess einfließen lassen will und meine Kommiliton*innen und die Aktmodelle nicht die Vielfalt der Gesellschaft abbilden, könnte ich zusätzlich statistische Daten einbeziehen. Anstatt also selbst zu überlegen oder aus dem Bauch heraus zu entscheiden, wie hoch und wie breit eine Tür sein muss, könnte ich mich auf statistisch ermittelte Körpermaße berufen, die einen Querschnitt der Gesellschaft repräsentieren sollen. Zum Glück gibt es eine „Wissenschaft“, die sich mit den Körpermaßen und Proportionen des Menschen beschäftigt, nämlich die Anthropometrie.
Orte, an denen solche anthropometrischen Daten systematisch erfasst wurden und werden, sind insbesondere das Militär und der Sportkontext. Unglücklicherweise sind aber gerade diese Orte auch solche, an denen Menschen mit Behinderung prinzipiell weniger vorkommen, da sie von vornherein ausgeschlossen werden. In der Folge davon sind sie dann auch in der statistischen Erhebung unterrepräsentiert. Wenn meine These stimmt, ist die anthropometrische Messung also verzerrt und bildet die Gesellschaft nicht realistisch ab. Wenn die anthropometrischen Messergebnisse dann als Grundlage für Gestaltung herangezogen werden, führt das wiederum zu Ausschlüssen. Je nachdem, wo die Messungen durchgeführt werden, sind auch andere Bevölkerungsgruppen unterrepräsentiert z.B. Frauen und alte Menschen. Auf die Problematik der schlechten Datengrundlage wies z.B. 1998 die Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin hin, die den Versuch unternahm, die Körperwerte des „Europamenschen“ [sic] zu erfassen.1
Bei einem Online-Workshop im Jahr 2021 stellen internationale Expert*innen für Ergonomie-Normen und Design-Standards ernüchtert fest: „Worldwide, no standard exists for the anthropometric measurement of people who cannot assume the standard standing or seated measurement postures. Therefore, no global database of anthropometric and functional characteristics is available to inform Design for All standards.”2 („Weltweit gibt es keinen Standard für die anthropometrische Messung von Menschen, die nicht die Standard-Messhaltungen im Stehen oder Sitzen einnehmen können. Daher steht keine weltweite Datenbank mit anthropometrischen und funktionalen Merkmalen zur Verfügung, um die Standards für ‚Design for All‘ zu informieren.“ (Übersetzung des Verfassers)
Da es also in der Anthropometrie für behinderte Körper keine einheitliche Messmethode gibt, fehlen auch die Daten, auf die sich Design for All Standards stützen könnten. Heute kritisieren wir, dass der männliche, weiße, nicht-behinderte Körper in Europa lange als der „Normalfall“ und alle anderen als Abweichungen angesehen wurden. Diese Kritik ist keine linke Fantasie, sondern hat in den Messungen der Anthropometrie eine ganz handfeste statistische Grundlage. Wie sich Vorstellungen von Körpernormen konkret in Bildern und Objekten erkennen lassen, habe ich 2021 anhand der Sammlung des Bauhaus-Archiv Berlin in einem Video-Essay gezeigt.3
Andere Ausschlüsse beruhen auf Konventionen und Regeln bei der Kulturproduktion selbst. Am Bauhaus waren z.B. viele Werkstätten für weibliche Studierende nicht zugänglich bzw. diese dort nicht erwünscht. Es gab sexistische Vorurteile des männlich besetzten Werkstattrats, die nicht weiter begründet wurden.4 Durch höhere Studiengebühren für weibliche Studierende sollte deren Anzahl am Bauhaus insgesamt reduziert werden.5 So wurde die Weberei der Ort, an dem die Studentinnen und Gunta Stölzl (die einzige weibliche Formmeisterin in der Geschichte des Bauhauses) tätig waren.6 Die Frage, wer überhaupt Kunst, Design und Architektur studieren darf, stellt sich bis heute, da es keine objektiv überprüfbaren Kriterien gibt. Gropius war sich bewusst, dass die Meister*innen, die am Bauhaus über die Zulassung entschieden, nicht unfehlbar sind, hielt aber aus pragmatischen Gründen an dem Verfahren fest: „Bewerber um die Lehre im Bauhaus werden auf Grund eingereichter eigener Arbeiten nach ihrer wahrscheinlichen werklichen und formalen Beanlagung (historisch für Veranlagung) ausgewählt. Die Auswahl durch die Meister ist subjektiv und daher Irrtümern unterworfen, denn es gibt kein anthropometrisches System, das die Fähigkeit und Entwicklungsmöglichkeit des lebendig sich verändernden Individuums sicher vorausbestimmt. Schon die Beschränkung an Raum- und Arbeitsmitteln fordert aber den Entschluss zur Auswahl.“7
- 1Vgl. AWE 108 „Internationale anthropometrische Daten“, S. 6 (https://www.baua.de/DE/Angebote/Publikationen/AWE/AWE108.pdf?__blob=pub…), abgerufen am 20.11.2024.
- 2Gunther Paul et al. (2022): „Design for All – Design for Disabled: How important is anthropometry?“ In: WORK, 73(s1), S. 57-565, hier S. 558.
- 3Bauhaus-Archiv (Hrsg.): „bauhaus_guests #2 mit Dirk Sorge: Wie inklusiv war das Bauhaus?” (https://www.youtube.com/watch?v=WIeZpz80ka0), abgerufen am 20.11.2024.
- 4Vgl. Sandra Hofmeister: „Meister und Weberinnen. Zur Rolle der Frauen in der Werkstatt der Moderne“ (https://bauhauskooperation.de/kooperation/jubilaeumsarchiv/magazin/vers…), abgerufen am 20.11.2024.
- 5Vgl. Ebd.
- 6„Die Geschichte der einflussreichsten Bildungseinrichtung für Architektur, Kunst und Design des 20. Jahrhunderts“ (https://www.bauhaus-entdecken.de/die-story/), abgerufen am 20.11.2024.
- 7Walter Gropius (1923): „Idee und Aufbau des Staatlichen Bauhaus“. In: Ders. (Hg.): Staatliches Bauhaus Weimar 1919 bis 1923, S. 7-18, hier: S. 11.

Sitzender männlicher Akt, Ima Breusing, Kohle über Graphit auf Transparentpapier, 49 x 30,5 cm, 1921–1922
Ableistisches Design – und wie weiter?
Aus aktivistischer Sicht ist es sehr leicht zu sagen, dass das Bauhaus ableistisch war und Design bis heute ableistisch ist. Das ist zwar richtig, aber es ist auch viel zu allgemein, zu grob und die Aussage bringt keinen Erkenntnisgewinn. Die schwierige Aufgabe besteht darin, konkret zu zeigen, wie ableistische Strukturen sich vermittelt durch Praktiken (z.B. an Kunsthochschulen) in Objekte eingeschrieben haben und wie diese Objekte wiederum ableistische Strukturen verfestigen. Das muss kleinteilig und historisch belegbar gezeigt werden, damit die Kritik ernst genommen wird und Strukturen sich wirklich verändern können. Das ist die mühsame kritische Aufarbeitung des Bauhaus-Erbes, die ich mir wünsche und die von autoritär-populistischen Parteien nicht gewollt und nicht geleistet wird. Diese bleiben auf einem subjektiven Geschmacksurteil stehen, das ihre Ideologie legitimiert.
Das 100-jährige Jubiläum des Umzugs von Weimar nach Dessau kann uns auch in Erinnerung rufen, wie kulturelle Institutionen durch politische Veränderungen bedroht sind und wie schnell sie abgewickelt werden können. Der Wegzug des Bauhauses aus Weimar war damals die Folge einer unsicheren Finanzierung durch die neu gewählte konservative thüringische Landesregierung. Durch ausbleibende finanzielle Mittel kann auch heute kulturpolitisch Einfluss genommen werden, ohne explizit bestimmte inhaltliche Vorgaben zu machen oder die Kunstfreiheit im juristischen Sinn anzugreifen. Im ganzheitlichen Ansatz des Bauhauses steckt ein progressiver Kern, den wir heute wieder gebrauchen können. Wir sind wieder mit Kürzungen im Kulturbereich konfrontiert, die dafür genutzt werden können, unbequemen, kritischen Stimmen die Grundlage zu entziehen. Walter Gropius kritisierte die Idee, dass Kunst überflüssiger Luxus sei und mit dem Leben nichts zu tun habe: „Die verbreitete Ansicht, Kunst sei Luxus, ist die verderbliche Folge des gestrigen Geistes, der die Erscheinungen isolierte (l'art pour l'art) und ihnen so das gemeinsame Leben nahm.“1 Kunst bedeutet mehr, als einmal im Jahr in die Oper zu gehen.
Was das Bauhaus betrifft, haben bürgerliche Parteien vor 100 Jahren in kleinen Schritten das vorangetrieben, was dann ab 1933 auf systematische Weise faschistisch umgesetzt wurde: die Abschaffung eines zukunftweisenden und am Menschen orientierten Designs und die Verbindung von Kunst und Alltag.
- 1Ebd., S. 7.
Über den Autor
Dirk Sorge studierte Bildende Kunst an der Universität der Künste Berlin und Philosophie an der Technischen Universität Berlin. Als Bildender Künstler beschäftigt er sich mit den Themen Technisierung, Ableismus und Irrationalität. Er arbeitet seit über 10 Jahren als Kulturvermittler und Berater zu Fragen der Inklusion und Barrierefreiheit für verschiedene Museen in Berlin und Sachsen. Dirk Sorge hat im Jahr 2021 die Ausstellung „Norm und Form. Design für alle?“ im bauhaus temporary co-kuratiert und von 2014 bis 2016 an einem Forschungsprojekt zu Prothetik in Kooperation mit dem Deutschen Hygiene-Museum Dresden gearbeitet.