Crip Magic
Keynote von Petra Kuppers beim Disability Arts Meet Up
Der vorliegende Text ist die redigierte Version einer Live-Mitschrift. Live-Transkript Delfinterpret: Daniela Eichmeyer-Hell, Marie Weber
Vielen Dank, dass ihr diese Veranstaltung organisiert und mich eingeladen hat. Ich bin sehr glücklich, euch zu sehen. Ich finde es großartig, über Disability Arts in Deutschland und über unsere Arbeit zu sprechen. Es ist wirklich großartig und berührt mich, heute mit euch zu arbeiten.
In meiner Keynote werde ich zuerst darüber sprechen, wer ich bin. Viele Leute wissen nicht, wer ich bin und was ich mache. Ich werde einige Informationen darüber geben. Ich wurde am Niederrhein geboren. Als Kind hatte ich immer viele Schmerzen und Probleme mit der Bewegung. Ich wollte immer Tänzerin und Choreografin werden, aber ohne ärztliches Attest konnte ich mich nicht an den Tanzschulen bewerben, also habe ich meinen Weg selbst gefunden. Und das habe ich in meiner Karriere als behinderte Tänzerin immer gemacht.
Ich habe in Köln studiert. Dort habe ich auch angefangen, Regie zu führen. Meine ersten Arbeiten waren Frankenstein und Woyzeck. Das sind beides Figuren des Schmerzes und der Isolation. Wenn ich an meine ersten deutschen Arbeiten denke, dann sind das frühe Disability Arts Stücke.
Mein Hauptaugenmerk lag darauf, ein Ensemble aufzubauen, lange in einer Gruppe zusammenzuarbeiten. Und der zweite Schwerpunkt ist das, was wir heute Somatik nennen, das Arbeiten in Trance und Meditation und anderen Realitäten, nicht nur in dieser Welt.
Ich wurde besonders von Pina Bausch beeinflusst, die nicht weit von mir in Wuppertal arbeitete, und von Joseph Beuys in Düsseldorf. Ihn kannte ich schon sehr lange, denn damals hörte man viel von dem „Kunst-Irren“. Ein großer Teil meiner Arbeit in Tanz, Theater und Film wurde von Antoine Artaud beeinflusst, so dass ich ihn und Pina Bausch meine Wahlvorfahren nenne.
Irgendwann wurde der Rollstuhl Teil meiner Körperlichkeit. Das war schwierig in einer Universität, die nicht barrierefrei war. Ich war nicht in der Lage, mit dieser deutschen Realität zu leben. Die Krüppelgruppen habe ich nicht gefunden. Ich kam vom Land. Mit 24 Jahren zog ich nach Großbritannien und lebte dort 10 Jahre lang. Ich habe in der Disability Arts Welt gearbeitet. Viele Leute kennen das, es gab eine Menge Möglichkeiten.
Dann zog ich in die USA. Nach Abstechern in Neuseeland und Australien ließ ich mich in den USA nieder, wo ich immer noch lebe. Seit meiner Zeit in Wales gibt es „The Olimpias“. Das ist eine Gruppe von Künstler*innen. Der Name kommt von einer deutschen Geschichte, die in den USA nicht viele Leute kennen. Es kommt vom „Sandmann“ (aus Hoffmanns Erzählungen). In der Geschichte gibt es eine Puppe, die tanzt und die die Projektionsfigur für die Männer ist. Und das ist für mich immer noch interessant in meiner Arbeit. Projektion und unheimliche Lebendigkeit.
Ich arbeite gerne mit anderen Menschen zusammen, ich spreche nicht gerne nur für mich.
Das ist ein Bild von meiner Arbeit. Es ist aus „Salamander“. Ich würde es gerne gemeinsam mit euch beschreiben. Vielleicht könnt ihr euch dabei auf den Inhalt und auf eure Assoziationen beziehen.
„Träume, die im Wasser fliegen“ – sehr schön!
Ich sehe zwei Personen, sie tragen Badebekleidung. Eine davon bin ich, ich habe ein australisches Oberteil, es sieht aus wie ein braunes Zebra, ich habe sehr kurze Haare.
Jemand von euch sieht in diesem Bild, „halten und gehalten werden“. Sehr schön.
„Ich sehe zwei schwimmende Personen, die nichts wiegen.“ Danke euch allen.
Die Differenz, das Unheimliche, das in die „normale“ Welt kommt. Das sind nur zwei Personen zusammen in einem Schwimmbecken. Aber es ist anders, wenn man mit der Kamera arbeitet. Das sind also die Themen, zu denen ich arbeite: Kunst / Leben. Soziale Bildhauerei, nach Joseph Beuys – das ist ein anderer Ansatz in der Kunst. Der Ansatz von Künstler*innen alles anders zu sehen. Das wird weiterentwickelt zur Magie, zu Crip Magic. Fantasie, um zu überleben, und eingebettet – verwurzelt in der Gesellschaft und im Ort.
Auf dem nächsten Bild sieht man ein Haus mit einem Schild: Nietzsche-Archiv. Ich befinde mich davor, in meinem gelben Rollstuhl, mit brauner Hose und Sonnenbrille. Es ist ein sehr schöner sonniger Nachmittag.
Ich wäre nicht in der Lage, dieses Haus zu betreten. Wie fühlt ihr euch beim Betrachten dieses Bildes? Das Haus steht in Weimar; ich wurde dorthin eingeladen, um in der Bauhaus-Universität zu arbeiten. Ich habe dort einen Workshop bei einem Tanzsymposium gegeben.
Der Kurator dieses Hauses erzählte mir, dass Nietzsche in den letzten Jahren seines Lebens, die er dort verbrachte, ein Krüppel war. Er hatte am Ende seines Lebens zwei Schlaganfälle. Und das ist ein sehr interessantes Crip-Gerücht: Die Familie nahm Eintrittsgeld von Leuten, ließ sie herein, damit sie den großen Philosophen krank sehen konnten! Wusstet ihr das?
Wenn Nietzsche länger gelebt hätte und nicht schon 1900 gestorben wäre, hätte er von seinem Balkon aus Buchenwald gesehen – eines der größten Konzentrationslager im Dritten Reich. Seine Schwester hat Hitler und andere Nazi-Leute in dieses Haus eingeladen.
Ich verließ das Haus so schnell ich konnte, um zurück zum Bauhaus zu kommen, und dort tanzten wir.
Das Bild ist in New York City aufgenommen. Ich sehe drei Personen. Eine Person hat eine wunderbar lange Krücke. Das Ende der Krücke wird von einer anderen Frau gehalten. Sie hat einen Oktopus auf ihrem Shirt. Die dritte Frau trägt ein wunderschönes lila T-Shirt. Es sieht aus, als würde sie etwas für die Frau in der Mitte halten.
„Tanzen“, „Unterstützung füreinander“, das sind einige eurer Kommentare. „Brücken bauen“. „Die Verbindung zwischen den Menschen und der Straße“, „Gleichgewicht“, „eine Linie von einer Person zur anderen“, „geteiltes Gewicht“.
Das sind schöne Emotionen. Die Frau rechts ist meine Partnerin, Stephanie Heit. Sie ist bipolar und arbeitet selbst als Behindertenaktivistin. Ich wollte sie vorstellen, weil für mich Intimität und Eros stark miteinander verbunden sind. Die Menschen, mit denen ich arbeite, sind oft Freunde, sie werden Freunde, oder zumindest werden sie Freunde für den Moment, in dem wir zusammenarbeiten.
Das Bild zeigt eine soziale Struktur, den Moment einer sozialen Skulptur. Sie findet im öffentlichen Raum statt. Wir sind auf dem Weg von einem Ballsaal in New York City zu einem Park. Der Park liegt an der Ostseite, neben dem Fluss, der durch New York City fließt. Wir sind auf dem Weg dorthin und zwischendurch tanzen wir, wir machen Bewegungen. Und die Leute sehen uns. Sie schauen zu und sehen, wie behinderte Menschen miteinander umgehen; und eine Krücke baut eine Brücke.
Und nun gehen wir zum nächsten Bild. Wir verlassen den öffentlichen Raum. Das letzte Bild war von den Olimpias. Das ist diese Gruppe von Künstler*innen, die mit Skulpturen im öffentlichen Raum arbeiten. Das hier ist das Gegenteil. 2017 haben wir mit Turtle Disco (auf Deutsch: Schildkröten-Disko) angefangen.
Fünf Menschen, die meisten von ihnen liegen auf dem Boden, zwei von ihnen sitzen auf dem Boden. Alle sind in Kontakt miteinander. Das ist auch eine Möglichkeit, ein Gewicht oder eine Last gemeinsam zu tragen und sich auf dem Boden zu entspannen. Nähe, Intimität. Um sie herum liegen Yogamatten, „das übliche Zeug“. Das hier ist in unserem eigenen Zuhause. Stephanie und ich haben damit 2017 begonnen, am Jahrestag der Pulse-Tragödie. Pulse war ein Club in Florida, in dem viele queere Menschen ihr Leben verloren, als ein Terrorist sie erschoss. Einer der vielen Terroranschläge.
Ein Jahr nach diesem schrecklichen Angriff auf queere Menschen haben wir die Turtle Disco gegründet, einen queer/crip salon, einen somatischen Schreib- und Bewegungssalon. Das ist in unserem Haus. Es ist immer geöffnet. Die meisten Leute kommen zu Fuß oder mit dem Fahrrad zu uns, manche mit dem Auto. Aber es soll lokal sein. Es ist für Menschen, die Zeit miteinander teilen und zusammen leben wollen. Die Olimpias gibt es schon seit 25 Jahren. In den ersten Jahren bin ich um die Welt gereist. Aber heutzutage lässt sich das nur schwer erklären und rechtfertigen wegen des Klimawandels usw. Also haben wir uns für lokalere Projekte entschieden.
Zu Corona-Zeiten haben wir statt der Turtle Disco einen Online-Kaffeeklatsch gemacht. Das war eine der Möglichkeiten, um zu überleben. Ich habe mich sehr allein gefühlt, obwohl ich mit meiner Frau zusammen lebe. Wir waren wegen Corona räumlich voneinander isoliert. Diese Kaffeeklatsch-Treffen waren eine Möglichkeit, über andere Herangehensweisen an die Kunst und das Leben als Künstler*in zu sprechen. Das haben wir jede Woche gemacht. Es fing im März an und wir machen es immer noch. Nicht wöchentlich, weil das normale Leben wieder begonnen hat, aber vier bis fünf Monate lang haben wir uns jede Woche getroffen, immer mit anderen Leuten.
Nun kommen wir zum letzten Bild, das wieder die Performance „Salamander“ zeigt. Es ist ein Bild, das nicht einfach zu beschreiben ist. Die Person, die im Wasser schwimmt, hat eine Gesichtstätowierung und einen auf den Oberarm tätowierten Greifen. Man will diese Figur mit Worten einfangen, aber die Figur will nicht eingefangen werden. Die Figur ist Neve Mazique, eine Rollstuhltänzer*in. Neve ist „eine Meerjungfrau“, die die Welt der Menschen entdecken will. Neve Mazique ist eine femme Choreograf*in.
Fragen
Was inspiriert dich?
Ich bin jetzt im Norden von Michigan. Dieser Ort gibt mir eine Menge Inspiration; ich spreche gerne mit den Bäumen und dem Wasser. Aber ich untersuche auch, was ältere Gebäude mir zu erzählen haben. Ich entdecke, was vor einiger Zeit an diesem Ort passiert ist. Ich schaue in den Archiven nach und spinne dann eine Geschichte daraus. Aber normalerweise arbeite ich in der Gruppe. Wir setzen das gemeinsam in eine Fantasie um.
Wie arbeitest du in Amerika; kannst du dich auf Förderung und finanzielle Unterstützung bewerben?
Der öffentliche Raum ist hier vergleichsweise zugänglich. In Weimar konnte ich zum Beispiel kein einziges Restaurant betreten. Ich saß draußen und man brachte mir einen Döner und gab mir die Cola umsonst, weil ich das Restaurant nicht betreten konnte. In den Staaten gibt es mehr Barrierefreiheit, aber ich bekomme keine spezielle Förderung. Als Professorin bekomme ich Fördermittel, aber was meine Arbeit als Künstlerin betrifft, ist es dasselbe wie in Europa.
Die meisten Projekte, die ich mache, erfordern nicht viel Geld. Die Turtle Disco kostet nichts. Die meisten der Leute, die daran teilnehmen, haben nicht das Geld dafür.
Wir müssen uns überlegen, wie ich die Mittel, die ich von der Universität bekomme, nutzen kann, um die Reisen der Leute zu bezahlen, die mit mir an einem Projekt arbeiten. Oder für Untertitelung und Schriftverdolmetschung – das sind die höchsten Kosten, die ich im Moment habe. Amerika ist sehr kompliziert; es ist sehr schwierig, Geld zu bekommen. Es ist viel schwieriger als in Mitteleuropa, Großbritannien usw. Hier, mit diesem Präsidenten [Trump], funktioniert nichts!
Beim Thema Turtle Disco sprachst du von der „Lokalität“ und dem „In-der-Nähe-Sein“. Nahe sein – was bedeutet das vor und während Corona?
Ich glaube, Intimität ist für uns alle sehr schwierig. Bei Zoom sehe ich viel mehr Privaträume als früher. Privaträume sind überhaupt nicht zugänglich. Viele Leute wohnen im Obergeschoss und haben keinen Aufzug. Bei Zoom sehe ich viel mehr Intimität, ich bin mit den Leuten in ihren Wohnzimmern zusammen. Normalerweise gehe ich nicht zu den Leuten nach Hause, weil ich die Treppe nicht hochkomme.
Anfang März habe ich einen Gedichtband veröffentlicht. Er wurde am 3. März 2020 veröffentlicht – seither konnte ich keine öffentlichen Lesungen mit Publikum mehr machen. Ich hatte 18 Buchvorstellungen geplant, aber es war nicht möglich. Und das ist bei vielen Künstler*innen der Fall. Alle unsere Pläne sind zusammengebrochen. Die Pläne, die man hatte, wurden alle verschoben.
Es war eine schwere Zeit. Auf der anderen Seite finden viele Zoom-Veranstaltungen wie diese hier statt, an denen man teilnehmen kann. Normalerweise ist das für behinderte Menschen sehr schwierig.
Intimität kann auf sehr unterschiedliche Weise geschehen. Die meisten Menschen, mit denen ich arbeite, wissen, dass man mit Intimität experimentieren muss. Für uns ist es nicht automatisch wie für den Rest der Welt. Wir alle haben unterschiedliche Arten von Behinderungen und wir haben unterschiedliche Arten, uns an Dinge anzupassen, zu experimentieren und mit dem Leben umzugehen. Unterschiedliche Wege, um zu überleben, sich zu finden, miteinander Spaß zu haben, durch Fantasie Freiheit zu erleben und zu erkämpfen.
Das ist das Wichtigste, sowohl auf lokaler Ebene als auch bei Zoom: Wir müssen neu erfinden, wie wir miteinander umgehen. Aber ich bin sehr froh, dass wir das irgendwie hinbekommen haben. Und es ist besser als das, was wir vor 20 Jahren hatten, als wir angefangen haben. Nur eine Handvoll von uns, vielleicht fünf oder sechs, reisten um die Welt und hielten Workshops. Aber das war nur eine kleine Anzahl von den Leuten, die miteinander in Kontakt sein wollten. Hier sind wir heute 40 Leute.