Ein geschlachtetes Sparschwein liegt am Boden, eine Person hält in einer Hand ein paar Cent, in der anderen ein Handy. Man sieht, dass Mama anruft und verspricht, Geld zu schicken.

Ein biografischer Essay zur möglichen Verschränkung von Ableismus und Klassismus

Klass...was?

Klassismus, das meint die Benachteiligung von Personen aufgrund ihrer Klassenzugehörigkeit. Ungefähr seit Anfang der 2000er Jahre wird auch in Deutschland dieser Ismus mehr diskutiert, bisher maßgeblich in gesellschaftswissenschaftlichen Zusammenhängen. In diesen Diskussionen wird oftmals die prekäre Lage von Alleinerziehenden oder Sorge- und Pflegepersonal, die Stigmatisierung von Hartz-4-Empfänger*innen oder die aus dieser Prekarität resultierende Bildungsbenachteiligung (nachkommender Generationen) verhandelt. Klassismus, das ist ein noch immer sehr „verhochschulter“ Diskurs, eine Art soziale Ungleichheitsforschung.

Dabei wird er oft für seine grundsätzliche begriffliche Schwammigkeit kritisiert, inklusive eines zweifelhaften Klassen- oder Schichtenkonstruktes. Darüber hinaus warnen Kritiker*innen davor, dass mit der Thematisierung von Klassismus letztlich die Verhältnisse des Kapitalismus bekräftigt, statt grundlegend hinterfragt und tatsächlich abgeschafft würden.1

Für manche Akademiker*innen scheint Klassismus allerdings DAS neue Analysetool zu sein, mit dem sich ein antikapitalistisches Gegenkonzept von Gesellschaft und Staat entwickeln ließe und das mit einem zunehmend intersektionalen Anspruch.

 

Behinderung, wo bist du?

Auffällig unterrepräsentiert im derzeitigen Klassismus-Diskurs ist jedoch die Diskriminierungsdimension Behinderung. Dabei finden sich innerhalb der Community behinderter Menschen längst Überlegungen zu möglichen Intersektionen, Schnittstellen von sozialer Herkunft und behinderten Körpern.2 Ein „multiperspektivischer Ansatz“ innerhalb der gegenwärtigen Ungleichheitsforschung könnte für die Anschlussfähigkeit aller förderlich sein, stellte bereits 2014 Anne Waldschmidt fest, Professorin der Disability Studies an der Universität zu Köln.3

Doch fern der Disability Studies ist die Perspektive der Behinderung noch immer ein seltener Zaungast innerhalb der aktuellen Debatte. So veranstaltete 2021 das Autonome Referat für antiklassistisches Empowerment an der Universität zu Köln ein Podiumsgespräch zu Ableismus und Klassismus. Im Rahmen von „Klasse und Behindert“ sprachen behinderte Personen mit Hochschulabschlüssen zu den ihnen aufgrund ihrer sozialen Herkunft und Behinderung widerfahrenen Diskriminierungen. Sie legten einen bewegenden Biografiebericht hin und schilderten ihre Erfahrungen hinsichtlich der Hürden innerhalb des Bildungssystems, der universitären Arbeitswelt. So erlebte das mehrheitlich nichtbehinderte Publikum hautnah, wie mühselig sich eine Klassenreise mit Behinderung gestalten kann, welcher erhebliche körperlich-psychischer Mehraufwand zu leisten ist, um dem gesellschaftlich vorgegebenen Schicksal individuell zu entrinnen. Aufgrund der bisher gegebenen Unterrepräsentanz von behinderten Personen innerhalb der aktuellen Klassismus-Debatte haben solche Annäherungen zum Thema Behinderung jedoch noch immer unweigerlich einen Beigeschmack von inspiration porn4 , einer Form von Ableismus.5

 

Able...was noch einmal?

Ableismus meint im Kern das In-Beziehung-Setzen der vermeintlich körperlich-geistigen Beeinträchtigung einer Person zu einem allgemeinen Maßstab an körperlich-geistiger Fähigkeit. Letzterer wird in der Gesellschaft mehrheitlich immer noch von einem normativen Wert an zu leistender Arbeit abgeleitet. So betrifft Ableismus nicht ausschließlich Menschen mit Behinderung. Denn jeder Körper unterliegt dem Kapitalismus bzw. dessen Verwertungsideologie. Aufgrund des weit verbreiteten Ableismus werden behinderten Personen jedoch von vornherein die Rollen als autonome gesellschaftliche Akteur*innen, als Arbeiter*innen abgesprochen. Der direkte Zugang zum ersten Arbeitsmarkt wird ihnen so verwehrt. Um überhaupt am Arbeitsmarkt teilnehmen zu können, sind viele von ihnen auf persönliche Assistenz oder Leistungen der Wiedereingliederungshilfe angewiesen. Ableismus markiert letztlich die kapitalistische Wertschöpfungslogik, in der die vermeintlich normierte Arbeitskraftleistung eines Menschen in Kapital übersetzt wird. Alle, die nicht innerhalb dieser Logik „funktionieren“ können, werden „aussortiert“, um dann durch die beschriebenen Leistungen „so gut es geht“ und unter restriktiven Bedingungen wieder in diese Logik integriert werden zu können.6

Auffällig oft fällt in der Debatte um Klassismus der Begriff der Arbeit. Auch in dieser scheint der Klassenbegriff wesentlich verknüpft mit der individuellen körperlich-geistigen Möglichkeit der Einzelnen Arbeit zu leisten.
Deshalb stellt sich die Frage, ob der derzeitige Diskurs zu Klassismus ableistisch geprägt ist, weil der Kapitalismus an sich und die Arbeitsbedingungen, die sich daraus ergeben, kaum in Frage gestellt werden. Stattdessen stehen oftmals die erschwerten Aufstiegsbedingungen im Vordergrund der Diskussion. Doch wie kann Klassismus diskutiert werden, ohne Ableismus zu reproduzieren? Sind Menschen mit Behinderung eigentlich auch von Klassismus betroffen? Lassen sich Ableismus und Klassismus eventuell sogar in den gegenwärtigen Disability Arts verorten? Und was braucht es, um beide Diskriminierungsformen im Bereich der Kunst und Kultur abzubauen?

 

Wer spricht eigentlich? Ein Arbeiter*innenkind, oder nicht?

1984 wurde ich in einer Kleinstadt in der ehemaligen DDR mit einer Behinderung geboren, die sodann von den zuständigen Behörden als „Schwerbeschädigung“ eingestuft wurde.
Mit der sogenannten Wende verlor meine Mutter ihre Arbeit, wie so viele Ex-DDR-Bürger*innen. Zudem ließ sie sich von meinem leiblichen Vater scheiden. So lebten meine Mutter und ich eine Weile allein, während sie als Kindergärtnerin jobbte. Schließlich schulte sie um und lernte meinen Stiefvater kennen. Der hatte bereits zu DDR-Zeiten an einer polytechnischen Oberschule unterrichtet.

Für manche liest sich dieses familiäre Setting, ein Elternpaar im öffentlichen Dienst, sicherlich nicht unbedingt als ein sozialer Hintergrund, der kontinuierlich von Klassismus betroffen scheint. Vielleicht aber auch nur dann, wenn auf die soziale Herkunft aus rein westdeutscher Perspektive geblickt wird. Nach wie vor fühlen sich meine Eltern wenig privilegiert. Möglicherweise lässt sich dies damit begründen, dass beide aus teilweise bäuerlichen Elternhäusern stammen oder aus den noch immer gegeben Unterschieden bezogen auf die finanzielle, die soziale Anerkennung bestimmter Berufsgruppen in Ost und West. Wahrscheinlich liegt es auch daran, dass meine Eltern mit der Erzählung des einstigen „Arbeiter- und Bauernstaates“ groß geworden sind, dass es im DDR-Staat formal keine Klassen(-unterschiede) gab. Deshalb galt in diesem so ziemlich jede*r als Arbeiter*in. Noch heute lautet ein Glaubenssatz in meiner Familie: Wir sind keine großen Fische, darum müssen wir uns stets ein wenig mehr anstrengen als andere, immer arbeiten! Vielleicht ist mein Leben daher von einer Ambivalenz geprägt, einem vagen Gefühl von (materieller) Sicherheit und einer gleichzeitig nicht abzuschüttelnden Existenzangst. Womöglich fällt es mir bis heute deshalb so schwer zu sagen, aus welcher Klasse ich eigentlich komme, obwohl ich mich jedoch schon als ein Arbeiter*innenkind mit Behinderung begreife.

 

Kunst vs. Ableismus?

Jene Behinderung wurde mir nach der  deutschen Wiedervereinigung vom zuständigen Versorgungsamt aberkannt. Für mich und mein soziales Umfeld war dies zunächst wenig problematisch. Zwar fehlte mir persönlich in bestimmten Situationen meiner Kindheit nicht nur körperlich etwas, aber erst mit dem Besuch der Realschule kam es zu prägenden Übergriffen, physischer wie psychischer Art seitens meiner nichtbehinderten Mitschüler, angehenden Neonazis. Mehr und mehr zog ich mich deswegen zurück, in die Kunst und Kultur, die mir der Unterricht der Realschule bot. Ich begann zum Beispiel zu schreiben. Doch eine wirkliche Förderung meines künstlerisch-kreativen Interesses sah dieser Schultyp nicht vor. In dessen Mittelpunkt stand primär die Vorbereitung der Schüler*innen auf eine anschließende Ausbildung und den sich daraus ergebenden Beruf, auf die Sicherheit eines bürgerlichen Lebens. Dass in meiner Familie irgendwer einmal auf die Idee kommen sollte Künstler*in zu werden, war im Grunde allseits unvorstellbar. Dabei wäre es arrogant, meine Familie als komplett kulturfern abzustrafen.

Obwohl ich mit 16 längst nicht mehr gesetzlich als behindert galt, empfahl mir das Arbeitsamt nach Beendigung der Realschule eine Ausbildung in einem westdeutschen Berufsbildungswerk für behinderte Menschen (BBW). Mit meiner Behinderung hätte ich angeblich auf dem ersten Ausbildungs- und Arbeitsmarkt keine Chance. Angesichts dieser Einschätzung waren meine Eltern deutlich verunsichert hinsichtlich meiner Ausbildungsmöglichkeiten. Eine Ausbildung im Westen, innerhalb eines betreuten Rahmens, das hörte sich für sie nach einer sicheren Zukunftsperspektive für mich an. Doch für mich sollte eine Zeit beginnen, in der ich aufgrund der vielen schmerzvollen Begegnungen mit Westdeutschen versuchen würde, allmählich meine Herkunft zu kaschieren, z.B. indem ich mir den Ostdialekt abtrainierte.

Darüber hinaus glaubten in jenem BBW noch nicht einmal die Ausbilder*innen daran, dass irgendwer von uns „Rehabilitand*innen“ jemals einen Job auf dem Arbeitsmarkt bekommen würde. Noch heute gleicht jene Berufsausbildung einem Sonderschulabschluss. Das Personal vermittelte uns offen unsere Perspektivlosigkeit. Dazu kamen der oftmals übergriffige Umgang der behinderten Auszubildenden miteinander sowie die omnipräsente Depressivität in diesem abgeschotteten Paralleluniversum, was für mich schwer zu ertragen war. Ich flüchtete mich in Alkohol und Drogen, schrieb Prosa und Lyrik, las auf offenen Bühnen. In mir wuchs langsam eine unaussprechliche Wut, die ich versuchte in Punkbands wegzuspielen. Längst hatten Ableismus, und andere Formen sozialer Ausgrenzung ihre Spuren in meiner Psyche hinterlassen. Nach Ausbildungsende fiel ich in die erste depressive Episode meines Lebens. Meine Familie konnte nicht verstehen, warum ich im erlernten Beruf nicht arbeiten wollte, an meinen künstlerischen Tagträumereien festhielt, dabei letztlich stagnierte. Sie versuchten mich zu unterstützen, soweit es ihr eigener Erfahrungshorizont zuließ, manchmal auch finanziell. Dabei entwickelte ich gegenüber ihnen Schuldgefühle, weil ich einfach nicht die bürgerliche Kurve kriegen wollte. Dass ich aus dem segregierten System der Behindertenhilfe wieder herausgekommen bin, ist statistisch gesehen relativ ungewöhnlich.

Insgesamt sechs Jahre sollte ich dafür brauchen. In diesen holte ich unter anderem mein Abitur auf dem zweiten Bildungsweg nach, während viele meiner heutigen nichtbehinderten Kolleg*innen längst ihr FSJ Kultur, ein Praktikum bei einem Verlag oder wenigstens einen kulturellen Jugendaustausch absolvierten. Am Abend nach der Abifeier telefonierte ich mit meinen Eltern und eröffnete ihnen meinen Plan, mich auf ein künstlerisch-ästhetisches Studium zu bewerben. Die Freude und der Zuspruch waren verhalten, vielmehr baten sie mich, meine Lebensplanung zu überdenken.

 

Elefant*in im Elfenbeinturm?

Nichtsdestotrotz bekam ich mit 26 tatsächlich einen Platz für ein Studium der praktischen Kulturwissenschaften. Schnell fühlte ich mich in diesem fehl am Platz. Meine Kommiliton*innen schienen längst so viel mehr Künstler*innen zu sein. Scheinbar über jeden (Selbst-)Zweifel erhaben, bewarben sie sich wie selbstverständlich auf Förderung, initiierten Theaterfestivals oder schrieben Buchkritiken und schauten optimistisch in die Zukunft. Und ich? Ich wusste noch nicht einmal, in welcher künstlerischen oder kulturpolitischen Disziplin ich überhaupt einmal arbeiten sollte. Die vermittelten Studieninhalte schienen von meiner Lebenswelt meilenweit entfernt und die Kommiliton*innen oftmals eine andere Sprache zu sprechen. Selbst wenn sie empörte Kritik übten, schienen sie dabei immer so konstruktiv. Ein Beispiel dafür ist die sogenannte Kesslerdebatte, in der einst der Kulturjournalist und Lektor Florian Kessler in Feuilletons der Republik als selbstloser Klassenkämpfer gegen die Reproduktion des weißen Bildungsbürgertums im Literaturbetrieb stilisiert wurde.7 Kritik an der fehlenden Diversität im Literaturbetrieb wurde allerdings schon lange zuvor von marginalisierten Communities geäußert.8 Ich, ich fühlte mich angesichts meiner Wut oftmals so prollig wie ein*e Elefant*in im Elfenbeinturm. Zu ihr gesellte sich das Hochstapler*innen-Syndrom9 , ich versuchte unter einem unglaublichen Druck stehend, all das fehlende Wissen aufzuholen. Einmal mehr isolierte ich mich, verbrachte meine Zeit überwiegend im stillen Kämmerlein. Dabei gilt es doch gerade im kulturellen Bereich, sich innerhalb der Studienzeit ein gewisses soziales Kapital zu erarbeiten, Kontakte und Netzwerke zu knüpfen, um im späteren Berufsleben auf diese zurückgreifen zu können. Ich? Ich schien mich zu verrennen, überschritt die Regelstudienzeit, die BAföG-Förderungshöchstdauer und meine eigenen Grenzen. Von einer Recherchereise für meine Bachelorarbeit kam ich infolge totaler Überforderung mit einer depressiven Episode zurück. Aufgrund dieser Episode musste ich letztlich drei Studiendarlehen aufnehmen, um das Studium nicht vorzeitig abzubrechen.

Erst voriges Jahr, mit 36, absolvierte ich meinen Master of Arts. Seitdem arbeite ich im Akkord, ohne längere Pausen, im Bereich der Disability Arts, gegen Tilgungsraten und die Panik vor einer eventuell drohenden Privatinsolvenz. Der Existenzdruck wiegt stetig schwer, so dass ich manches Mal die von mir geleistete Arbeit noch nicht einmal wertschätzen kann. Ich arbeite scheinbar immer mehr als andere, ganz nach dem familieneigenen Glaubenssatz. Doch fern jeglicher Existenzängste scheint mein vermeintlicher Arbeitseifer mit dem eigenen verinnerlichten Ableismus verknüpft. Die aufgrund meiner Behinderung erlebten Diskriminierungserfahrungen haben bei mir über die Jahre massive Minderwertigkeitskomplexe hinterlassen. Diese lassen mich oftmals in dem Glauben, dass wenn ich mich nur noch mehr anstrengen, noch mehr leisten würde, ich schließlich die mir fehlende Anerkennung und Aufmerksamkeit fände. Bin ich ein*e Künstler*in mit Behinderung? Bin ich glücklich? Häufig scheine ich haarscharf am nächsten depressiven Loch vorbeizuschrammen. Offenbar fällt das auch meinem sozialen Umfeld auf. Gelegentlich bekomme ich von meiner Mutter eine E-Mail mit Stellenanzeigen. Die versprechen zumindest ihr die Sicherheit eines bürgerlichen Lebens. Nicht nur dann empfinde ich eine gewisse Scham, über mein Scheitern, die Umwege, meine Ängste und Perspektiven, über den erfahrenen Ableismus und Klassismus zu sprechen.

 

Privilegiencheck in der Community mit Behinderung und den Disability Arts?

Bisher werden im Feld der Behinderung eigene Privilegien auffällig wenig diskutiert. Vielleicht weil die Thematisierung von Klassismus in puncto Behinderung immer die Gefahr birgt, dass körperliche Beeinträchtigungsarten gegeneinander aufgerechnet werden. Doch strukturelle Veränderungen können nur durch intersektionale Kritik erreicht werden, die das Zusammenspiel von verschiedenen Diskriminierungsdimensionen mitberücksichtigt.

So verwundert es nicht, dass aus dieser Community aktuell maßgeblich weiße cis-Personen aus akademischen und staatsverbeamteten Haushalten im mehrheitsgesellschaftlichen Diskurs über Behinderung sichtbar werden. Manche von ihnen fungieren als professionelle Disability-Mainstreaming-Aktivist*innen oder als Inklusionsinfluencer*innen. Ihre Kritik beschränkt sich oft auf die fehlende strukturelle Repräsentation von Akteur*innen/ Kulturakteur*innen und Künstler*innen mit Behinderung. Als erfolgreiche, vermeintlich positive Vorbilder suggerieren sie unumgänglich der Mehrheit mit Behinderung, dass jede*r es schaffen kann, innerhalb der mehrheitlich nichtbehinderten Gesellschaft sichtbar zu werden. Mensch mit Behinderung muss sich bloß ein wenig mehr anstrengen, natürlich immer konstruktiv. Doch auch Optimismus und Konstruktivität müssen gelernt werden. Beides sind Privilegien, die mensch sich erst einmal leisten können muss! Dabei haben die meisten dieser Vorbilder ein Hochschulstudium oder eine äquivalente Ausbildung absolviert, die ihnen fraglos den Weg ihrer Klassenreise wenigstens ein bisschen geebnet haben. Unbenannt bleibt auch im Diskurs um Behinderung oft das sozio-ökonomische Kapital, mit dem sich viele ableistische Benachteiligungen ausgleichen lassen.

„Jeder Mensch ist ein Künstler!“, beuyst10 es mittlerweile aus allen Ecken des bundesdeutschen Kunst- und Kultursektors, auch in Bezug auf behinderte Personen. Zwar wird diesen seit einiger Zeit im Kunstbetrieb immerhin ein kreativ-künstlerisches Potenzial sowie das Recht zugestanden, innerhalb der Gesellschaft als Künstler*innen wahrgenommen zu werden. Doch letztlich kommt Kunst nun einmal von Können. Diese Haltung findet sich zumindest überwiegend in den Kreisen der nichtbehinderten Kulturakteur*innen, die gegenwärtig noch immer die „Inklusionsdebatte“ um Menschen mit Behinderung im Kulturbereich bestimmen. Auffällig wenig fällt auch in dieser der Ableismusbegriff. Nach wie vor fühlen sich die nichtbehinderten Akteur*innen wenig bemüßigt, sich mit ihrer internalisierten ableistischen Haltung auseinanderzusetzen. „Ich weiß, ich bin ganz schön privilegiert!“ Dieser halbherzige Alibisatz, der auf jedem Inklusionsnetzwerktreffen fällt, macht mich jedes Mal so wütend. Eine grundsätzliche Kritik an den gesellschaftlichen Bedingungen, die auf Ableismus fußen, von denen die einen profitieren und die andere ausschließen, bleibt so oftmals auf der Strecke. Viele der mehrheitlich weißen studierten cis-Personen haben oftmals ihre Netzwerk- und Vereinsstrukturen von ihren Eltern geerbt. Selbst Privilegienchecks fungieren in der Regel als Lippenbekenntnisse. So bleibt es trotz allen inklusiven Anspruchs letztlich beim altbekannten abledsplaining11 und inspiration exploitation12 , wenn Nichtbehinderte nicht endlich ihre Leitungs- und Entscheidungspositionen an behinderte Kulturakteur*innen abgeben. Gleichzeitig brauchen Künstler*innen mit Behinderung eben dann doch einen Hochschulabschluss, eine professionelle Ausbildung, um in den großen Sälen und auf großen Bühnen als professionelle Akteur*innen sichtbar zu werden. Letztlich bleiben Bildungsprivilegien weiterhin bestehen. Möglichkeiten zur Qualifizierung und zum Quereinstieg sind für behinderte Personen bisher selten gegeben.

 

Fazit: Fragen und Impulse

Doch was tun angesichts der noch zahlreichen Barrieren im (akademischen) Bildungs- und Kulturbereich, angesichts des allgegenwärtigen Ableismus? Wo beginnt Ableismus und wo trifft er auf Klassismus? Was machen beide mit der Sichtbarkeit und Teilhabe behinderter Menschen innerhalb der Gesellschaft?

Diese Fragen muss sich auch die Disability Arts Community stellen, will sie tatsächlich die Zugänge aller zu Kunst und Kultur fördern.

Darüber hinaus könnte eine antiklassistische Position mit Behinderung, die sich mit antiableistischen, feministischen, antirassistischen Perspektiven solidarisch verknüpft, empowernde Impulse in die jetzige Debatte um Klassismus geben und den Weg öffnen für Perspektiven von Mehrfachdiskriminierten. Mit unseren diversen Erfahrungen der De-/Privilegierung, unseren Biografien, Hintergründen, unseren Träumen und Ideen müssen wir viele innerhalb des Diskurses um Klassismus werden.
Gleichzeitig müsste die Klassismusdebatte für Menschen mit Behinderung tatsächlich geöffnet und barrierefreier gestaltet werden. Nur so ließe sich der Vorwurf von tradiertem Ableismus in der Debatte entkräften. Behinderung muss anhand des sozialen Modells von Behinderung als soziales Konstrukt verstanden werden, als eine Form sozialer Benachteiligung und so als Teil von Klassismus, die jede*n von uns betrifft oder betreffen könnte. Eine Verschränkung der Perspektiven könnte ganz sicher an den Grundfesten eines Systems rütteln, das das Leben Einzelner anhand individueller körperlicher Leistungsfähigkeit kategorisiert.

„The time will come when wealth will be redistributed, when workers of the world will once again unite …“, schreibt bell hooks in „where we stand: class matters“.13 Davon abgesehen ist es aus der Sicht von behinderten Menschen in jedem Fall an der Zeit über den gängigen Arbeitsbegriff zu reden und zwar kritisch aus antikapitalistischer Sicht. Let‘s do this, ob wütend oder konstruktiv, immer solidarisch.

 

Steven Solbrig (er / they), weiß, mit Behinderung, wuchs in der ehemaligen DDR auf. Seit mehreren Jahren fotografiert, moderiert, schreibt, spricht und performt Steven freiberuflich u.a. zur Sichtbarkeit von (Kunst und) Behinderung und dies teilweise mit aktivistischer Haltung. Derzeit lehrt Steven an der Stiftungsuniversität Hildesheim u.a. zu Kunst und Behinderung aus der Sicht der Disability Studies.

 

Anmerkung: Diesem Essay geht ein längerer Austausch mit Lisa Scheibner (Diversity Arts Culture) voraus, ihr sei an dieser Stelle deshalb ganz besonders gedankt!