Natalie Bayer und Paul Spies im Gespräch mit Sandrine Micossé-Aikins und Eylem Sengezer

 

Eylem Sengezer: Wir wollen euch zum Einstieg bitten, die jeweils andere Institution zu beschreiben. Welche Themen oder Ausstellungen fallen euch beispielsweise spontan ein? Wie würdet ihr den Auftrag der jeweils anderen Institution beschreiben?

 

Natalie Bayer: Eine konkrete Ausstellung, die mir einfällt, ist „Bizim Berlin“. Das war die erste Wechselausstellung des Stadtmuseums, die ich mir explizit angeschaut habe. Ich beobachte, dass es im Stadtmuseum eine neue Programmatik gibt. Das hat sicherlich mit der Leitung zu tun, aber auch damit, dass das Haus offensichtlich dynamisierungsbereit ist. Themen wie Migrationsgeschichte und Kolonialismus sind zum ersten Mal verhandelbar geworden. Gleichzeitig ist es interessant, dass das Stadtmuseum Teil des problematischen Humboldt Forums ist und sich der Situation stellt. Historisch betrachtet ist das Stadtmuseum eine klassische, langsame Institution aus dem späten 19. Jahrhundert, ein typisches bürgergesellschaftliches Museum.

 

Eylem Sengezer: Welchen Eindruck hat die Ausstellung bei dir als Migrationsforscherin hinterlassen?

 

Natalie Bayer: Das Konzept war eigentlich gut: Fotografien von Ergun Çağatay auszustellen und die Menschen, die auf den Fotos abgebildet sind, heute aufzusuchen, sie zu porträtieren und zusätzliche Einzelthemen aufzugreifen. Als Gesamtes hat die Ausstellung leider nicht ganz funktioniert, auch, weil ich beispielsweise erst mal in den Keller gehen musste. Symbolisch gesehen hätte ich erwartet, dass die Ausstellung schon im Eingangsbereich beginnt. Aber die Ausstellung hatte schöne Momente. Der Bildbestand ist gut, da bin ich richtig neidisch, das ist anerkennend gemeint.

 

Paul Spies: Ich kenne das Friedrichshain-Kreuzberg Museum schon viel länger, als ich in Berlin tätig bin. Es ist ein Museum, das wahr macht, was oft versprochen wird: Partizipation, Beteiligung der Gesellschaft, Migrationsgeschichte. Berlin ist sehr gut aufgestellt, wenn es um Bezirksmuseen geht. Das hat natürlich auch mit der Geschichte und der Struktur dieser Stadt zu tun. Vielleicht auch wegen der Nähe zur Gesellschaft sind diese Museen museologisch weit vorne, viel weiter als eine große Organisation mit einer langen Tradition. Mit Natalie hat das Museum jemanden, die diese progressive Institution in die nächste Generation führt. Das sieht man an den Projekten und Themen wie Migration, die noch immer wenige Museen gut umsetzen. Das Friedrichshain-Kreuzberg Museum ist ein Vorbild für viele Museen, die noch lernen, wie man mit solchen Themen der Gegenwart umgeht. Die politische Lage des Museums ist prekär. Es gibt immer wieder Unsicherheiten und Nicht-Finanzierungen. Politiker*innen wissen nicht, was für ein Gold sie hier haben. Genauso wie in Cape Town. Südafrika und Cape Town wissen nicht, was sie mit dem District Six Museum haben. Während das Museum international ein großes Vorbild ist, darf es noch immer kein Mitglied des Museumsvereins werden.

 

Eylem Sengezer: In Bezug auf Stadtteilmuseen wird oft das Paradigma „Kultur für alle“ oder „Museum für alle“ bemüht. Was bedeutet es für eure jeweilige Institution, eine Stadtgesellschaft zu repräsentieren, die sehr divers ist und deren Geschichte(n) durchaus im Konflikt zueinander stehen?

 

„Es ist erst mal unsere Aufgabe, den Anspruch zu haben, accessibility herzustellen.”

Natalie Bayer: „Kultur für alle“ ist eine Programmatik aus den 70er Jahren, die unter anderem Hilmar Hoffmann geprägt hat und die zwar Schwächen hatte, gleichzeitig trotzdem progressiv war. Ich war sehr erstaunt, wie viel Hoffmann in seinem gleichnamigen Buch schon vorgedacht hat – aber die Migration wurde fast komplett ausgeblendet. Auf Fachtagungen der Museumswelt wird oft gesagt, „Kultur für alle“ geht nicht. Ich finde es falsch, das im Proklamieren bereits einzuschränken. Es ist erst mal unsere Aufgabe, als Leiter*innen eines Museums, das von Steuergeldern finanziert wird, den Anspruch zu haben, accessibility herzustellen. Dabei geht es auch um die Frage, wie die soziale Verteilung in der Stadt aussieht. Meine Zuständigkeit ist primär der Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg, in dem fast so viele Menschen wie in Augsburg leben. Und die soziale Streuung ist enorm breit. Deswegen versuche ich auf unterschiedliche Arten die Frage der Zugänglichkeit einzulösen: Was, wen und wie zeigen wir für wen? Mit welchen Personen und Methoden arbeiten wir? In den Diskussionen der Museumswelt wird „Kultur für alle“ gleichgesetzt mit einem Absenken des Niveaus. Das sehe ich nicht so. Der Anspruch ist, dass man gemeinsam mit den Menschen vor Ort großartige Dinge macht. Wir haben kürzlich die Ausstellung „Labor 89. Neue Perspektiven auf die Wendezeit“ eröffnet, die aus einer antirassistischen und feministischen Perspektive auf die Wendezeit blickt. Würde ich hier etwas machen, das nichts mit der Lebensrealität der Menschen zu tun hat, dann könnte ich das Museum dicht machen.

 

Paul Spies: Die School of Museum Studies von David Fleming, der später die Leitung des State Museum in Liverpool übernommen hat, ist für mich aus museologischer Sicht ein Vorbild. Er hat ein Museum über die Geschichte der Versklavung gegründet und später das neue Stadtmuseum entwickelt. Dann hat er die Museum Group für das Museum of Justice gegründet. Ich fand den Anspruch des Museums, ein Museum für alle zu sein, interessant. Man kann eigentlich nicht alle erreichen, muss man vielleicht auch nicht, weil nicht alle wollen. Die Bildungsbürger für das Museum zu gewinnen, ist leicht: Man hängt ein paar schöne Bilder an eine weiße Wand und schon kommen sie. Aber es wird schwieriger, wenn man zusätzliche Perspektiven einbinden will. Trotzdem ist das der Anspruch – auch für das Stadtmuseum. Jeder Euro, den wir verdienen, kommt von der Gesellschaft. Wir sollten jeden Tag darüber nachdenken, ob wir unsere Arbeitszeit der Gesellschaft widmen.

In den 90er Jahren ging es darum, quantitativ mehr Leute zu erreichen. Heute geht es eher um Community, Marketing, Teilnahme und Teilen. Dabei ist das Storytelling wichtig, das heißt: Menschen abholen, nicht selbst Storys erzählen. Ich bin neugierig, was passiert, wenn wir das Humboldt Forum eröffnen. Ob die Belegschaft sagt, toll, das möchten wir weiter machen, oder ob sie sagen: „Was ist das eigentlich genau?“ Ich bin zuversichtlich, dass es klappt, weil wir immer mehr Leute in die Programmgestaltung einbinden … Das wird anders als das, was man vom Märkischen Museum gewohnt ist. Es sind wirklich alle in der Berlin Ausstellung im Humboldt Forum gemeint. Vieles dort sieht erst mal wie ein Klischee aus und wird dann kritisch befragt: It ain‘t what you think it is. It‘s much more.

 

Sandrine Micossé-Aikins: Die meisten Kulturschaffenden, die zu uns kommen und etwas verändern wollen, sind aus dem Mittelbau. Nur selten kommen Leitungen, und bei ihnen beobachten wir, dass sie am wenigsten das Gefühl haben, etwas bewirken zu können. Ihr beide seid Leitungen, die sich vorgenommen haben, die Diversität ihrer jeweiligen Institution zu entwickeln. Was seht ihr als euren Spielraum, und an welchen Stellen ist es auch als Leitung schwierig, die Institution zu verändern?

 

Handlungsspielraum für Leitende von Kultureinrichtungen

Natalie Bayer: Aus meiner Erfahrung im Projekt „Migration bewegt die Stadt“ am Münchner Stadtmuseum, das eine Öffnungsmaßnahme war, kann ich nur sagen: Hätte die Leitung das nicht gewollt, hätte das niemals stattgefunden. Ursprünglich war das Projekt auf vier Jahre befristet. Migrationsgeschichte sollte als Bestandteil der Stadtgeschichte gesammelt, ausgestellt und methodologisiert werden. Es wurde dann aber entfristet. Das wäre auch nicht passiert, wenn die Leiterin des Museums sich dafür nicht ins Zeug gelegt hätte. Zudem hätte mir damals kaum jemand in der Deutschen Museumswelt einen Job gegeben, auch weil ich 2012 auf einer Konferenz dem Deutschen Museumsbund einen Rassismusvorwurf gemacht habe. Aber die Leiterin in München wollte dennoch, dass ich dieses Projekt konzipiere. In der Institution war ich trotzdem letztlich allein. Am Friedrichshain-Kreuzberg Museum habe ich den Vorteil, nicht nur Leiterin zu sein, sondern auch mit einem überschaubaren Team zu arbeiten. Ich kann Öffnungsprozesse von oben organisieren, aber meine Mitarbeiter*innen müssen sie auch umsetzen – das heißt, sie sollen und müssen es verstehen und einen eigenen Teil dazu beitragen. In einer großen Institution wie einem Stadtmuseum ist das schwieriger. Gleichzeitig gibt es für Leitende von Kultureinrichtungen einen nicht zu unterschätzenden kulturpolitischen Handlungsspielraum. So habe ich einen direkten Draht zur Amtsleitung, zum Fachbereichsleiter sowieso zur Kulturstadträtin – dabei kann ich die Themen einbringen, die gesellschaftsrelevant sind. Gleichzeitig darf man den Spielraum auch nicht überschätzen, also das sind immer nur Millimeterchen Fort- und oftmals auch Rückschritte, da Veränderungsprozesse auch mit der Notwendigkeit für Zeit, zum Teil Personal und andere Ressourcen verbunden sind, die fehlen.

 

Paul Spies: Politisch habe ich sehr viel Spielraum. Klaus Lederer und ich sind uns eigentlich in 90 Prozent einig darüber, worum es geht, und er lässt mir viel Freiraum. Ich kann auch mutig sein in solchen Momenten, weil ich immer noch das Gefühl habe, dass ich nach Holland zurückgehen kann. Ich muss hier nichts beweisen.

Im Stadtmuseum habe ich zum Beispiel flache Hierarchien eingeführt, die nicht immer verstanden werden. Aber weil der Direktor es so will, machen meine Mitarbeitenden das. Ich beobachte, dass es in Deutschland eine besondere Beziehung zu Autorität und Hierarchien gibt, die ich so nicht kenne. Oft denken die Leute über mich, er kann nichts dafür, er ist Holländer. Das benutze ich so viel wie möglich, um Themen voranzubringen wie flache Hierarchien, Verantwortung, Mut zum Entwickeln, offene Kommunikation, eine wertschätzende Haltung miteinander. Flurfunk zum Beispiel ist grauenhaft. Wenn wir über Diversität sprechen, ist erst einmal Verschlossenheit da, weil es Konsequenzen haben könnte. Jedes Mal, wenn ich eine Innovation vorschlage, ist die erste Reaktion nicht selten defensiv: „Aha, bislang haben wir es falsch gemacht?“ Und wenn es zum Beispiel um Antirassismus geht, dann wird erst mal gesagt: „Wir sind keine Rassisten!“ Dabei habe ich nur gesagt, wir müssen über ein Problem in unserer Gesellschaft sprechen.

 

Natalie Bayer: Das hat nichts mit deinem Haus zu tun. Solche Reaktionen habe ich bisher fast überall gesehen.

 

Paul Spies: Ich sehe nur alles, was es nicht gibt an Entwicklungen, weil ich noch so viel zu tun habe. Und da fühle ich mich oft eingeschränkt. Nicht politisch, nicht finanziell, nicht durch die Presse oder von außen. Nein, das manchmal fehlende Vertrauen in der Belegschaft schränkt mich ein.

 

Natalie Bayer: Sandrine, du hast vorhin gesagt, zu euch kommt vor allem der Mittelbau mit diesen Wünschen nach Veränderung und nicht so sehr die Leitung. Ich kenne aber einen großen Teil des Mittelbaus, der das überhaupt nicht will. Außerdem sind für Veränderungsprozesse auch die Mitarbeiter*innen der Verwaltung wichtig; das wird fatalerweise häufig vergessen.

Ich glaube, der Handlungsspielraum ist groß für eine Leitung, und gleichzeitig muss aber auch der Wille des Durchziehens da sein. Es müssen Vorüberlegungen erfolgen, wie es funktionieren kann. Bei dem 360°-Programm der Bundeskulturstiftung zum Beispiel gab es ein paar Agent*innen am Anfang, die mich informell für Rat und bei Problemen angesprochen haben. Einige Häuser haben sich scheinbar nicht ausreichend Gedanken gemacht, was dieses Programm in der Umsetzung für ihr Haus bedeutet, wie die Agent*innen da drin verortet werden müssen.

 

Eylem Sengezer: Meine nächste Frage geht in Richtung Sammlungs- und Archivpolitiken: Mit welchen Leitlinien arbeitet ihr jeweils in Bezug auf eure Sammlungen?

 

Natalie Bayer: Unser Haus ist eine Fusion aus zwei Museen: Das Heimatmuseum Friedrichshain, das in den 1980ern entstanden ist, und das Kreuzberg Museum, das 1990 gegründet wurde. Das heißt, die Geschichte des Friedrichshain-Kreuzberg Museums ist sehr jung und baut nicht auf Sammlungen vor den Weltkriegen auf. Das hat auch etwas mit der sozialen Struktur des Bezirks zu tun, es gab keine klassischen Geschichtsvereine. Insbesondere das Kreuzberg Museum hat ohne Sammlungsbestand begonnen. Das ist ein großer Luxus, weil viele problematische Strukturen der nationalbürgerlichen Entwicklungen erst gar nicht etabliert wurden. Gleichzeitig wurde das Museum schnell aufgebaut, mit zu wenig Platz und Konzept. Meinen Vorgänger, der das Museum gegründet hat, sehe ich wie einen genialen Dilettanten: Er hat quasi alles, aber mitunter eben auch unsystematisch gesammelt.

 

Paul Spies:…wie eine Privatperson und nicht wie ein Museum.

 

Natalie Bayer: Genau. Wir haben tatsächlich – und das ist wirklich eine problematische Situation – ein tolles Team, aber viele kommen aus fachfremden Jobs und sind zudem keine Angestellten. Es gab zwar kein richtiges Sammlungskonzept, aber es haben sich thematische Schwerpunkte herausgebildet wie Migrationsgeschichte, Schule und Bildungssystem, Stadtplanung, behutsame Stadterneuerung, soziale Bewegungen. Wir sind dabei, im Team ein Sammlungskonzept zu erarbeiten und auch zu „entsammeln“. Und wir fangen aktiv an zu sammeln und noch nicht gesammelte Themen zu erarbeiten, wie etwa zur Teilung und zur Wende.

 

„'Decolonizing the Collection' ist ein Thema. Es gibt eine Riesenlücke, wenn es um Migrationsgeschichte geht”

Paul Spies: Vor der Gründung des Stadtmuseums gab es 16 Museen, davon sind noch fünf übrig, aber es gibt noch 16 Sammlungen. Und es gab mindestens 16 Kuratoren für diese Sammlungen. 1995 wurden die Museen zusammengeführt. Es ist wirklich wie in einem Museum für Angewandte Kunst, es gibt eine Möbelsammlung, eine Grafiksammlung und eine Skulpturensammlung – die Sammlung repräsentiert damit zu wenig den Charakter eines historischen Museums. Wenn ich in den Sammlungen etwas verändern will, werden meine Mitarbeiter*innen nervös. Das Wort „entsammeln“ kann ich überhaupt nicht erwähnen. Es ist schwierig: Mit viereinhalb Millionen Objekten haben wir nicht eine relevante Sammlung für das Stadtmuseum der Zukunft. Wir haben eine relevante Sammlung für das Stadtmuseum der Geschichte oder der Vergangenheit. Im Zuge des Projekts „Decolonize the Collection“ werden wir daran arbeiten, uns mit neuen Fragestellungen zu beschäftigen: Unter welchen Umständen sind die Sammlungsobjekte gewonnen und transportiert worden? Wer hat sie benutzt? Wer hat daran verdient? Unter welchen Umständen ist gearbeitet (worden) und von wem?

Jüngere Leute verstehen das und setzen das auch um. Es ist kein Problem, eine Spielzeugabteilung zu leiten und gleichzeitig das Hochpolitische, das in einer Spielzeugsammlung enthalten ist, herauszustellen: Frauengeschichte, Ungleichheit, Wirtschaftsgeschichte. Das ist alles möglich, nur die Leute sind es nicht gewohnt, einen Gegenwartsbezug zu denken.

 

Eylem Sengezer: Inwiefern braucht es ein Außen, um Sammlungspolitiken zu verändern? Ein gutes Beispiel ist das Projekt „Homosexualität_en“, eine Kooperation zwischen dem Schwulen Museum und dem Deutschen Historischen Museum, das auch eine Auseinandersetzung mit (Un)Sichtbarkeiten queerer Kultur in einem repräsentativen Museum wie dem Deutschen Historischen Museum aufgeworfen hat. Inwiefern sind solche Archiv- und Sammlungsfragen in dem berlinweiten Projekt „Decolonize“ angelegt?

 

Paul Spies: Für das „Decolonize“-Projekt wünsche ich mir diesen frischen Blick und die Expertise von außen – und dass diese auch angenommen wird. „Decolonizing the Collection“ ist ein Thema. Es gibt eine Riesenlücke, wenn es um Migrationsgeschichte geht. Die Fotos von Ergun Çağatay, die in der Ausstellung „Bizim Berlin“ zu sehen waren, waren ein Zufallsfund. Es kam jemand auf uns zu, der diese Fotos ausstellen und sie einer deutschen Institution vermachen wollte. Die zuständige Fotokuratorin hatte diese Idee erst mal abgelehnt, weil die Qualität der Fotos sie nicht überzeugte. Aber wir sind ein Geschichtsmuseum und hatten hier die goldene Chance, eine Zielgruppe zu erreichen, die wir bisher nicht angesprochen haben, die marginalisiert ist. Wir haben eigentlich wenig Mitarbeitende in der Sammlung, die diesen Gegenwartsbezug herstellen. Das sind hochpolitische Fragen.

Wir können nicht alles tun. Und da ist auch wieder die Zusammenarbeit in der Stadt total wichtig, damit wir das nicht doppeln. Die Fotos von Çağatay sind zwar bei uns, aber sie sind nicht von uns. Sie sind für uns alle. Wir sammeln für die Gesellschaft, nicht für das Museum.

 

Sandrine Micossé-Aikins: Ich stelle mir vor, dass viele Zeugnisse auch gar nicht als relevant eingestuft wurden. Wie stellt man sicher, dass diese Ausschlüsse nicht fortgeführt werden?

 

Natalie Bayer: Auf der Sammlungsebene ist das postkoloniale Erinnerungsprojekt für unser Museum nicht relevant, weil unsere Bestände eigentlich schwerpunktmäßig die 1980er und 1970er Jahre umfassen. Daher müssen wir erst mal viel über den Kolonialismus in der Bezirksgeschichte forschen und vielleicht neue Sammlungsbestände aufbauen. Tatsächlich ist es so: Wenn das Wissen darüber fehlt, kannst du es auch nicht darstellen. Aber unsere Bestände ermöglichen einen neuen Blick auf die Effekte globaler postkolonialer Bewegungen. Ich denke, dass für die stadtgeschichtliche Arbeit der Moment kommen muss, einen anderen Begriff zum Kolonialismus zu entwickeln, um anders auf die bereits vorhandenen Bestände oder auf das vorhandene Wissen zu schauen. Es geht um mehr als die Restitution von Objekten; es geht vielmehr um einen neuen, postkolonialen Blick auf die Geschichte und Gegenwart der ganzen Stadt.