Ungleichheiten innerhalb der Arbeiter*innenklasse.
Über die Ausstellung „Mehmet Berlin’de. Mehmet kam aus Anatolien“
Vortrag zum Nachlesen
Die Ausstellung „Mehmet Berlin’de. Mehmet kam aus Anatolien“ von 1975 ist außergewöhnlich: Sie ist ein wichtiges Beispiel für kulturelle Selbstorganisation von Migrant*innen aus der Türkei.
Ich habe die Folie gewechselt. Das Bild ist ein Foto aus einem Stadtumfeld, in dem das Poster der Ausstellung als Plakataufsteller an einen Baum gelehnt zu sehen ist. Das Foto ist schwarzweiß.
Die Ausstellung findet im Rahmen der 25. Berliner Festwochen am Mariannenplatz in den Räumen des Kunstraums Kreuzberg statt. Sie läuft vom 5. September 1975 bis zum 31. Januar 1976. Sie ist begleitet von vielen Veranstaltungen. Hierzu zählen Konzerte, Tanz, aber auch ein Kinderzirkus und Ringkämpfe.
Der Ausstellungskatalog lässt sich heute zwar nicht in den Beständen der großen kunsthistorischen Bibliotheken - wie dem Zentralinstitut für Kunstgeschichte, dem Deutschen Forum für Kunstgeschichte oder der Bibliotheca Hertziana - finden, aber in ihrer Zeit erfuhr sie eine große mediale Resonanz.
Ich habe die Folie gewechselt. Man sieht einen Screenshot von der Seite der New York Times. Auf dieser sieht man eine Zeitungsseite und etwas weiß hervorgehoben ist ein Artikel.
Die Ausstellung wird am 14. Oktober 1975 in der New York Times rezensiert. Die Zeitung lässt die Besprechung der Berliner Festwochen mit der Ausstellung beginnen. Für den Journalisten Craig Whitney vollbrachte die Ausstellung ein kleines Wunder, „has managed to bring off a small miracle“, weil sie - so meine Zusammenfassung und sprachliche Anpassung - die Arbeitsmigrant*innen aus der Türkei und die weißen West-Berliner*innen über die Kultur zusammenführte. Whitney stellt fest, dass Migrant*innen aus der Türkei die Mehrheit der Ausländer*innen in Kreuzberg darstellen und dass sie benachteiligt sind. Sie zahlen höhere Mieten, aber verdienen weniger als ihre deutschen Nachbar*innen. „Sie fühlen sich hier isoliert und unerwünscht, getrieben von der drückenden Armut in ihrem eigenen Land, die sie zu ihren Jobs und zu einer fremden Lebensweise treibt“, so die Zusammenfassung von Whitney [übersetzt von Doğtaş].
Seine Empathie vermischt sich mit Stigmatisierung: Das Viertel um den Mariannenplatz ist für ihn ein türkisches „Ghetto“, er schreibt: „Um die Ausstellung in einem alten Krankenhaus am Mariannenplatz zu besuchen, muss das Publikum von der Hochbahn oder der U-Bahn aus durch den dichtesten Teil des türkischen Ghettos in Berlin laufen.
Ich wechsle die Folie. Man sieht das Cover des Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“, Nr. 31 vom 29.07.1973. Auf diesem ist eine Familie zu sehen, mit Kleinkindern im Fenster, die als türkisch gelesen werden. Auf dem Cover steht: „Ghettos in Deutschland, eine Million Türken“.
Der Begriff „Ghettos“ kursiert schon einige Jahre zuvor in den deutschen Medien. In der Titelgeschichte „Die Türken kommen. Rette sich wer kann“ des Spiegels von Juli 1973 heißt es gleich im Teaser: „Städte wie Berlin, München oder Frankfurt können die Invasion kaum noch bewältigen. Es entstehen Ghettos und schon prophezeien Soziologen Städteverfall, Kriminalität und soziale Veränderungen wie im Harlem.“
Craig versteht die Ausstellung „Mehmet Berlin’de. Mehmet kam aus Anatolien“ als eine kulturelle Erneuerung. Auch im Hinblick auf Klassenfragen ist die Ausstellung sehr aufschlussreich. Sie führt nicht nur - wie die New York Times schreibt - die Arbeitsmigrant*innen aus der Türkei und die weißen Westberliner*innen über die Kultur zusammen, sondern zeigt auch Differenzen auf: Die Arbeitsmigrant*innen sind gegenüber den deutschen Arbeiter*innen benachteiligt.
Der türkische Akademiker- und Künstlerverein erläutert dies im Vorwort des Ausstellungskatalogs wie folgt:
Die Forderung der Ausstellung „Mehmet Berlin’de. Mehmet kam aus Anatolien“ für gleiche soziale und demokratische Rechte ist auch eine Reaktion darauf, dass die Arbeitsmigrant*innen in ihren Kämpfen von ihren deutschen Kolleg*innen allein gelassen worden sind.
Ich habe die Folie gewechselt. Zu sehen ist ein Schwarzweißfoto, im Vordergrund steht ein Mann mit einem Megafon, im Hintergrund stehen weitere Männer mit einem Protestbanner, es zeigt eine Protestsituation, einen Streik.
Wie im August 1973 bei den Streiks in den Ford-Werken in Köln Niehl: Die etwa 12.000 Arbeiter*innen aus der Türkei solidarisieren sich mit Arbeiter*innen, die verspätet aus den vierwöchigen Werksferien zurückkamen. Erst entzog die Gewerkschaft und der Betriebsrat der Ford Werke dem Streik die Legitimation, dann wurde die Polizei gerufen, die auf dem Werkgelände die Mitglieder des Streikkomitees verhaftete. Zudem organisierten die deutschen Arbeiter*innen eine Gegendemonstration zu dem Streik und riefen: „Wir wollen arbeiten!“
Ich wechsle die Folie. Zu sehen ist erneut ein Protestbild in schwarzweiß. Dieses Mal sind es Frauen.
Das neu gegründete „Türk İşçi Korosu“ (Türkischer Arbeiterchor) tritt auf dem Mariannenplatz auf. Sie tragen Nâzım Hikmets Gedichte wie zum Beispiel „Asker kaçagı“ (Der Deserteur) oder „Türkiye işçi sınıfına selam“ (Gruß an die Arbeiter*innenklasse der Türkei) als Lieder vor. Insgesamt bildet der Dichter Hikmet für die Ausstellung eine wichtige Referenz. Der Chor setzt sich aus Arbeiter*innen zusammen und verbindet sich mit den gewerkschaftlichen Aktivitäten der Föderation Türkischer Sozialisten in Europa ATTF (Avrupa Türkiyeli Toplumcular Federasyonu).
Die nächste Folie zeigt drei Fotos mit gleichen Motiven, die sich ein bisschen wandeln. Es sind Folklore-Tänzerinnen vor einem Gebäude.
Auch die Volkstanzgruppe hat sowohl Aufführungen in den Anfangswochen der Ausstellung auf dem Mariannenplatz und später auch in der Symphonie. Sie nimmt ihren Anfang noch unter dem Dach des türkischen Akademikervereins, aus dem später der türkische Akademiker- und Künstlerverein wird. Ihr Ziel war es, die Lücke an kulturellen Angeboten der Arbeitsmigrant*innen in West-Berlin zu schließen. Der Verein wie auch die Volkstanzgruppe wollen soziale Spannungen zwischen den deutschen und Arbeitsmigrant*innen aus der Türkei abbauen.
Die dritte und letzte Komponente der Ausstellung Mehmet Berlin’de. Mehmet kommt aus Anatolien ist das Konzert Die betrübte Freiheit/Bir hazin hürriyet.
„Der türkische Arbeiter ist da“, schreibt der türkische Akademiker- und Künstlerverein im Katalog. Im öffentlichen Diskurs werden die Menschen nicht allein wegen ihrer Herkunft, sondern auch wegen ihrer politischen Herkunft diskriminiert. Das ist tatsächlich das Neue für mich.
Man sieht eine Folie, die ich schon einmal gezeigt habe: Es ist der Mann mit dem Megafon.
Die Arbeiter wählen Baha Targün ins Streikkomitee bei den Ford-Streiks. Er kam 1970 nach Deutschland, um zu studieren. 1973 arbeitete er erst einmal als Dolmetscher, danach als Angestellter der Dresdner Bank und schließlich bei Ford. Auf dem Berghof ruft er durchs Megafon: „Sechs Wochen Urlaub und eine Mark mehr.“ Für die Boulevardpresse ist klar, in die Streiks haben sich Kommunist*innen wie Baha als Mitarbeiter*innen auf das Werksgelände eingeschlichen. Die Boulevardpresse fragt sich besorgt, ob die Gastarbeiter die Macht übernehmen. Als Polizisten mit ihren Knüppeln den Streik beenden, ist für „die Bild“ die Sache klar: Deutsche kämpfen ihre Fabrik frei und das sind keine Gäste mehr. Der türkische Spion, der ein System infiltriert, ist eine wiederkehrende Trope.
Die Nähe des türkischen Akademiker- und Künstlervereins zur Türk Toplumcular Ocağı (Türkische Sozialistengemeinschaft/TTO) ruft beim Berliner Senat im Vorfeld der Ausstellung Vorbehalte hervor, da dieser die TTO als marxistisch-kommunistisch einstuft. Der Axel Springer Verlag, damals die Berliner Morgenpost, fordert zusammen mit der CDU die Absetzung des Konzerts in der Philharmonie. Der Arbeiterchor, also die ATTF, wird verdächtigt, in der Türkei als linksextremistisch verboten zu sein. Dem widerspricht der Bezirksrat Rainer Gericke in einer Pressemitteilung. Der Axel Springer Verlag und die CDU kolportieren darüber hinaus, die Einschätzung des Bundesministeriums des Inneren unterfüttere scheinbar die ideologische Gefährlichkeit des Chors. Das Konzert findet trotz solcher Störungsversuche statt. Die Migrant*innen aus der Türkei erleben somit eine mehrfache Einengung ihrer Selbstentfaltung.
Auf unterschiedliche Weise zeigen sich auch die Klassenunterschiede zwischen den Akteur*innen der Ausstellung und dem Publikum. Die Unterschiede zwischen den Künstler*innen, Akademiker*innen und den Arbeiter*innen. Denn was sich so verändert, ist die Vorstellung in der deutschen Wahrnehmung von „dem Türken“, das allmählich aufweicht und Differenzen entlang Ethnie, Politik, Religion und Ähnlichem erfahrbar macht.
Im Gespräch
Du hast ein oft unausgesprochenes Thema besonders hervorgehoben: Diskriminierung aufgrund politischer Herkunft. Kannst du darauf mehr eingehen?
Das ist mir erst während der Recherchen aufgefallen. Es gibt in der Fontane-Apotheke einen Ordner zur Ausstellung, der für alle Personen zugänglich ist. Dort ist mir aufgefallen, dass die Menschen, die aus der Türkei gekommen sind, hier arbeiten und sich für die Arbeiter*innen einsetzen, oft verdächtigt werden, marxistisch-sozialistisch zu sein. Und das in beiden Ländern: in der Türkei, aus der sie fliehen und in Deutschland. Sie als Spione, als Kommunist*innen wahrzunehmen und damit zu brandmarken, fand ich ein ungewöhnliches Phänomen. Das setzt sich an verschiedenen Stellen fort.
Hanefi Yeter zum Beispiel kommt 1972 nach Berlin und hat 1973 seine erste Ausstellung in Ost-Berlin bei einer Art Grafik-Biennale, bei der er seine Arbeiten zeigt. Der türkische Arbeiterchor hat 1980 ein Friedenskonzert in Ost-Berlin. Also zwischen der Gruppe der (Arbeits)migrant*innen aus der Türkei und den Ostdeutschen gibt es einen Austausch und dieser ist auch erwünscht, aber er wird auch als Problem wahrgenommen während des Kalten Krieges.
Die wirklich sehr wichtige Referenzfigur, Nâzım Hikmets, muss ich an dieser Stelle noch einmal kurz ausführen. Nâzım flieht 1950 aus der Türkei, nachdem er mehrmals im Gefängnis war und geht nach Moskau ins Exil. Er ist ein Kommunist und kam deshalb in der Türkei ins Gefängnis. Bis zu seinem Tod lebt er in Moskau und reist in die damaligen Bruderländer, unter anderem auch Deutschland, wo er kurz in Leipzig lebt und zwei Gedichte über die Stadt schreibt. Weil er so eine wichtige Referenzperson für die Arbeitsmigrant*innen aus der Türkei ist, gibt es auch immer wieder die Verbindung zu Ostdeutschland, und eben auch zu Osteuropa.
Es gibt in Deutschland beispielsweise dieses Bild des migrantischen Arbeiters, der nicht besonders gut gebildet und kulturfern ist. Das hat auch etwas damit zu tun, wer die Deutungshoheit hat. Es ging viel um diese eine Ausstellung, die ein namhaftes Beispiel dafür ist, wie falsch dieses Bild ist. Gibt es weitere Ausstellungen, die du aus deinen Recherchen kennst, in denen diesem Bild entgegengearbeitet wurde?
Diese Ausstellung und die zwei weiteren, die ich erwähnte, sind eine Reaktion auf den Anwerbestopp. Darüber hinaus gibt es weitere Ausstellungen, aber ich habe sie nicht erwähnt, weil sie anders funktionieren. Die Stärke von „Mehmet Berlin’de. Mehmet kam aus Anatolien“ liegt darin, dass sie wie ein Festival gedacht wurde und von vornherein an das Publikum dachte und überlegte, wie sie ein bestimmtes Publikum in die Ausstellung und Feierlichkeiten integrieren kann.
1975 gab es im Kunstverein München eine Ausstellung, die hieß „Gastarbeiter“. Dort gab es Künstler*innen, die an der Akademie in München studiert haben und sie zeichneten Menschen am Fließband bei BMW, dessen Sitz in München ist. Dann gab es 1975 die Ausstellung „Gastarbeiter – Fremdarbeiter“ von Vlassis Caniaris, einem griechischen Künstler, der vor der Diktatur in Griechenland geflohen und über ein DAAD-Stipendium nach Berlin gekommen ist. Er macht Arbeiten, wo er das Thema Gastarbeit aufgreift. Beispielsweise Skulpturen, die das Thema Kindheit aufgreifen oder kopflose Menschen mit Koffern, bei denen klar ist, dass es um Exil und Migration geht. Ein weiterer sehr wichtiger Künstler ist Drago Trumbetaš in Frankfurt. Er kommt aus dem ehemaligen Jugoslawien und ist selbst Arbeiter. Ihn finde ich tatsächlich sehr besonders, weil er aus der Kategorie der anderen Künstler*innen fällt, weil er sowohl Arbeiter als auch Künstler ist. Er zeichnet seine Alltagssituationen und seine Werke sind zum Beispiel in der Bundeskunsthalle Bonn zu sehen, die die ganze Serie zeigt. Es gibt also einiges und die Unterschiede sind wichtig im Hinblick darauf, wer spricht und für wen wie gesprochen wird.
Gürsoy Doğtaş, Kunsthistoriker, arbeitet para-kuratorisch an den Schnittpunkten von Institutionskritik, strukturellem Rassismus und Queerstudies. Neben vielen Ausstellungen verantwortete er „Gurbette Kalmak / Bleiben in der Fremde“ (2023) im Taxispalais Innsbruck, „The kültüř gemma! issue“ des Parabol Art Magazines (2021) und ko-kuratierte das Symposium Das Recht auf Erinnern und die Realität der Städte in Nürnberg (2021). 2022/23 lehrte er als Gastprofessor im Institut Kunst in Kontext an der Universität der Künste Berlin.