Text: Hassan Mahamdallie

Übersetzung: Almut Meakin

 

Der Kampf gegen tief verwurzelte Ungleichheiten und das Streben nach Gleichberechtigung für alle werden immer eine politische Frage bleiben. In welchem Bereich auch immer, diese Aufgabe ist äußerst politisch, weil sie deutliche Fragen zum Wesen der Gesellschaft und ihrem Anspruch, wahrhaftig demokratisch zu sein, aufwirft. Ungleichheit kann sich gesellschaftlich und wirtschaftlich ausdrücken und analysiert werden, aber im Kern geht es um Macht, darum, wer Zugang zu ihr hat und welches Privileg damit verbunden ist.

 

Ich habe schon immer verstanden, dass die Künste da nicht anders sind; die Aufteilung in diejenigen, die über die Mittel der kulturellen Produktion verfügen, und diejenigen, denen sie verweigert werden, ist ein politischer Ausdruck der Macht. Deshalb muss der Kampf um Diversität, Gleichberechtigung, Inklusion, kulturelle Demokratie – welche Begriffe man auch immer verwenden möchte – auf politischer Ebene geführt werden. Schließlich haben Demokratiebewegungen stets die Meinungs- und Ausdrucksfreiheit als zentrale Forderung erhoben und in ihren Kämpfen die Künste und Kreativität als Mittel genutzt. „Der Macht die Wahrheit sagen“ ist eine bedeutungsschwere Aussage.

 

Aber jeder Schauplatz hat seine eigenen Ausgangspunkte, Argumente und Ziele – und das gilt auch für den Kampf um Gleichberechtigung in den Künsten.

 

Ich habe erkannt, dass die Kunst- und Kulturlandschaft mit ihren prägenden Strukturen und Institutionen, ihrer Ausdrucksweise von Macht und Privilegien, mit ihren Traditionen und Denkweisen, den herrschenden Ideen und Weltanschauungen, bestimmte Antworten, Strategien und Taktiken von denjenigen verlangt, die sie grundlegend verändern wollen. Ich habe auch festgestellt, dass diejenigen, die einen graduellen Wandel in winzigen Schritten predigen, in Wirklichkeit eine Agenda verfolgen, in der keinerlei Veränderung vorgesehen ist.

 

Im September 2011 veröffentlichte ein Team von Diversitätsexpert*innen, die für den Arts Council England arbeiteten, den sogenannten „Creative Case for Diversity and Equality in the Arts“. Wir haben diesen radikalen Wandel in der Kulturpolitik so definiert:

Dem ‚Creative Case‘ liegt die Beobachtung zugrunde, dass Diversität im weitesten Sinne ein wesentlicher Bestandteil des künstlerischen Prozesses ist. Sie ist ein wichtiges Element in der Dynamik, die die Kunst vorantreibt, erneuert und sie einem tief greifenden Dialog mit der zeitgenössischen Gesellschaft näherbringt.

Aber um voll und ganz zu verstehen, wie wir zu dieser Erklärung gekommen sind, muss man auf ein tragisches und schreckliches Ereignis zurückblicken, das viele Jahre zuvor stattgefunden hat. Aus einem rassistischen Mord im Jahr 1993 brach eine nationale politische Krise hervor. Der Schwarze Londoner Teenager Stephen Lawrence wurde von einer rassistischen Jugendbande erstochen. Obwohl die Polizei die Identität der Mörder kannte, gelang es ihr nicht, sie zu verhaften und vor Gericht zu bringen. Eine anschließende Untersuchung der Regierung ergab, dass das Versagen der Polizei, Gerechtigkeit zu üben, auf institutionellen Rassismus zurückzuführen ist. Die Litanei der Ermittlungsmängel, rassistische (und korrupte) Einstellungen und Handlungen der Polizei gegenüber einem Schwarzen Opfer rassistischer Gewalt zwang die britische Nation, sich selbst ins Gesicht zu sehen, und viele schämten sich für das, was sie sahen. Aus der vernichtenden Untersuchung ging eine Regierungsverordnung hervor, die alle öffentlich finanzierten Institutionen gesetzlich verpflichtet, strukturelle rassistische Diskriminierung zu bekämpfen, die Gleichberechtigung zu fördern und jährlich über ihre Fortschritte zu berichten.

 

Der Arts Council England, der vom Kulturministerium der Regierung finanziert wird, um Subventionen zu verteilen, war an diese Gesetzgebung gebunden. Er reagierte darauf mit der Einrichtung eines kleinen zentralen Diversitätsteams, für das ich eingestellt wurde. Das Team wurde zunächst beauftragt, eine Reihe umfassender Programme zu anti-rassistischer Gleichstellung auszuarbeiten und umzusetzen, die zum ersten Mal in der Geschichte des Arts Council England vertragliche Verpflichtungen für hunderte von Organisationen vorsahen, die regelmäßig von ihm finanziert wurden. Dies ersetzte verschiedene bruchstückhafte und kurzfristige Initiativen, die der Arts Council bis dato erprobt hatte. Das erste Programm wurde 2004 eingeführt und später zu einem einzigen Gleichstellungsprogramm erweitert, das Diskriminierung aufgrund von Rassismus, Behinderung, Geschlecht, Glauben und sexueller Orientierung umfasst.

 

Die vertraglichen Verpflichtungen aller laufend vom Arts Council England geförderten Organisationen zur Unterstützung von Diversität und Gleichstellung bestehen auch heute noch. In den Vereinbarungen des Arts Council sind die Organisationen verpflichtet nachzuweisen und zu belegen, wie sie ihre Angebote diversifizieren und weiterentwickeln. Wie bei allen Verträgen gibt es Sanktionen für den Fall, dass diese nicht eingehalten werden. Der Arts Council England erklärt, dass er öffentliche Gelder verteilt, und deshalb müssen die subventionierten Künste tatsächlich die gesamte Bevölkerung des Landes widerspiegeln und ihr zugutekommen.

 

Die Gleichstellungsdebatte war jedoch der Politisierung nicht entgangen. Die Zeit nach dem 11. September 2001, insbesondere die Bombenanschläge in London am 7. Juli 2005, brachten neue Argumente in die Debatte ein, hauptsächlich in Bezug auf den gesellschaftlichen Status der Muslim*innen in Großbritannien, den Grad ihrer Integration, gefolgt von einer gezielten Gesetzgebung zur „Prävention von Extremismus“. Diese Gesetzgebung eröffnete den Rechten die Möglichkeit, sich gegen die Gleichberechtigung im Allgemeinen zu wehren, wobei insbesondere die Werte des Multikulturalismus nachhaltig angegriffen wurden. Diese Argumente schlugen sich auch in den Künsten in Form von Angriffen auf die Diversitätspolitik des Arts Council England nieder, besonders in Bezug auf positive Maßnahmen – spezifische Programme zur Beschleunigung der Gleichstellung von Schwarzen oder anderen marginalisierten Künstler*innen durch das Angebot von Fonds, Praktika, Ausbildungsprogrammen und anderen progressiven Maßnahmen.

 

Im Jahr 2007 erkannte das Diversitätsteam des Arts Council England, dass unsere Fähigkeit, signifikante Veränderungen vorzunehmen, allmählich untergraben wurde. Wir mussten daher einen Kurswechsel vornehmen. Wir gaben verschiedene Studien in Auftrag und beriefen dann eine nichtöffentliche Konferenz des Arts Council England ein, auf der sich Topmanager*innen, künstlerische Führungskräfte und Mitarbeiter*innen des Diversitätsteams trafen, um unsere Politik zu hinterfragen und einen Weg nach vorn zu diskutieren. Später schrieb ich:

Wir kamen zu dem Schluss, dass wir uns nicht auf den Anstoß des Gesetzes oder die moralische Empörung über den Mord an Stephen Lawrence verlassen konnten. Wir mussten versuchen, uns neu zu positionieren, denn andernfalls würden wir auf dem Trockenen sitzen. Auch wenn wir das Richtige taten, würden wir, wenn wir keine Aufträge erhielten, entweder im Arts Council oder in der Kunstszene, zum Stillstand kommen und schließlich Rückschritte machen.

Wir gelangten auch zu dem Schluss, dass die bisherigen Argumente und Triebkräfte für diversitätsorientierte Veränderungen zwar manchmal nützlich waren, aber nur teilweise Abhilfe schafften – sei es das rechtliche Argument („es ist das Gesetz“), das moralische Argument („es ist das Richtige“) oder das finanzielle Argument („es ist gut für das Geschäft“). Wir brauchten ein Argument, das direkt die Künste anspricht. Aus der Konferenz von 2007 ging also eine Idee hervor, die Diversität (und den Kampf um Gleichstellung) mit dem kreativen Akt selbst vereint:

Wir legten einen kunstorientierten Ansatz für Diversität in den Künsten als Antriebskraft für Veränderungen fest. Wir entschieden, dass wir ein künstlerisches Konzept für Diversität und Gleichstellung in der Kunst entwickeln wollten. ‚Lasst uns einen weiteren Bereich der Debatte eröffnen.‘ Für uns bedeutete das einen Bereich der Debatte, in dem wir [unsere] Kritiker ausmanövrieren konnten, indem wir sagten: ‚Was wir haben werden, ist eine Debatte über Kunst – wie sie gemacht wird, der kreative Akt selbst, wie Veränderung in der Kunst geschieht, wie Innovation in der Kunst stattfindet, wie neue Kunstbewegungen entstehen und wie die Beziehung zwischen Kunst und Gesellschaft beschaffen ist.‘ … Wir werden nicht zulassen, dass Diversität und Gleichstellung an den Rand gedrängt werden, dass sie nur etwas sind, das an die Kunstszene herangetragen wird. Wir werden Diversität und Gleichstellung in den Mittelpunkt der Debatte stellen, inmitten aller Debatten rund um die Künste in diesem Land.

Wir haben den „Creative Case“ 2011 auf der wahrscheinlich größten öffentlichen Konferenz, die der Arts Council je veranstaltet hat, vorgestellt. Wir haben die Konferenz als ein Gespräch und nicht als Diktat gestaltet – was bei einigen der subventionierten Akteur*innen Befremden auslöste, da sie es gewohnt waren, dass der Arts Council ihnen sagt, was sie tun sollen. Anstelle einer Aufzählung von Maßnahmen in unseren Diskussionsunterlagen stellten wir eine Reihe von Fragen. Wir riefen den Kunstsektor dazu auf, unser Partner zu sein. Wir sammelten und veröffentlichten Fallstudien aus der gesamten Geschichte, aus allen Kunstformen und aus verschiedenen Bereichen der Unterdrückung und Benachteiligung, einschließlich Diskriminierung aufgrund von Rassismus, Behinderung, Geschlecht und sozialer Klasse. Wir honorierten die Organisationen, die begonnen hatten, bedeutende Fortschritte zu machen, und kehrten damit die inoffizielle bisherige Politik um, die darin bestand, Kunstinstitutionen effektiv zu bestechen, damit sie sich für Diversität und Gleichberechtigung einsetzen, indem wir ihnen zusätzliches Geld gaben.

Wir riefen auch diejenigen, die unserer bisherigen Politik sehr kritisch gegenüberstanden, dazu auf, dieses Gespräch mit uns zu gestalten. Ich hatte mich an den bedeutenden bildenden Künstler Rasheed Araeen gewandt, der eine hoch angesehene postkoloniale theoretische Zeitschrift mit dem Titel Third Text leitete. Araeen war einer unserer schärfsten Kritiker gewesen – er beschuldigte den Arts Council, Schwarze Künstler*innen durch seine Politik der positiven Maßnahmen zu ghettoisieren. Meine erste Diskussion mit Araeen war, wenn man so will, streitlustig, aber wir konnten uns auf genug einigen, um bei der Förderung der Creative-CaseAgenda zusammenzuarbeiten. Daraus entstand 2010 eine Sonderausgabe von Third Text. Beyond Cultural Diversity: the case for creativity. Es war eine bahnbrechende Reihe von Essays und Provokationen, geschrieben von führenden Persönlichkeiten aus den Bereichen Bildende Kunst und Diversität, die eine kohärente Analyse kultureller Vielfalt ermöglichte und gleichzeitig einen Ausblick auf die Entwicklung einer integrativen Geschichte der modernen britischen Kunst bot. Die Publikation enthielt einen Leitartikel, in dem ich argumentierte, dass der „Creative Case“ Folgendes darstellt:

Eine Reise, die zunehmend veraltete Konzepte für unser künstlerisches und kulturelles Leben hinter sich lässt. Wir können damit beginnen, Vorstellungen zu überwinden, die die Politik der Diversität und Gleichberechtigung fälschlicherweise als eine unwillkommene Verpflichtung oder Belastung für die künstlerische Welt angesehen haben, und stattdessen dieses ‚Defizitmodell‘ in sein Gegenteil umzukehren – eine fortschrittliche Kraft, die die Künste in diesem Land erneuern und die Grundlagen für seine künstlerische und demokratische Erneuerung legen kann. Der Arts Council England hat sich der Entwicklung der kreativen oder künstlerischen Argumente für Diversität verschrieben – er hat erkannt, dass Kunst, die durch strukturelle Barrieren und überholte und ausgrenzende Ansätze an den Rand gedrängt wird, in das Zentrum unserer Kultur gebracht und entsprechend gewürdigt werden muss.

Heute sind Versionen des „Creative Case“ allgemeiner Konsens innerhalb des Kunstsektors in England, Schottland und Wales.

 

Aber leider ist es nicht so, dass der von uns gewünschte weitreichende und unumkehrbare Wandel stattgefunden hat, weil wir die Auseinandersetzung gewonnen und ein gewisses Maß an Dynamik erzeugt haben. Im Großbritannien haben wir die Machtverschiebung und den Abbau von Privilegien, die eine kleine Elite nicht aufgeben will, noch nicht erreicht. Einige Mitglieder dieser selbsternannten „kreativen Klasse“ haben sich zusammengeschlossen, um das voranzutreiben, was der prominente Theaterregisseur und Produzent Madani Younis als „die neue Bevormundung“ beschreibt – die Übernahme der Sprache des Wandels und das Streben nach Kontrolle über die Geschwindigkeit und Richtung dieses Wandels, um ihn zu begrenzen.

 

Manchmal werde ich gebeten, Kunstorganisationen, insbesondere Theater, zu den Themen Diversität und Gleichstellung zu beraten. Ich kann Organisationen, die an mich herantreten, in zwei Kategorien einteilen – diejenigen, die sich wirklich ändern wollen, und diejenigen, die einem sagen, dass sie sich ändern wollen, es aber nicht tun.

 

Bei der Gruppe, die mir sagt, dass sie sich ändern wolle, es aber nicht umsetzt, werde ich normalerweise gebeten, mit den Öffentlichkeitsund Bildungsbeauftragten sowie der Marketingabteilung zusammenzuarbeiten. Der*Dem Öffentlichkeitsbeauftragten wird gesagt, dass sie*er von mir Abkürzungen erwarten kann, die es ihr*ihm ermöglichen, die Kluft zwischen ihrem*seinem Theater und den verschiedenen „neuen Zielgruppen“, die sie*er erreichen will, zu verringern. Der Marketingabteilung wird mitgeteilt, dass ich ihr helfen werde, eine andere Sprache zu finden, die sie mit diesem vielfältigen neuen Publikum „verbindet“ und den Kartenverkauf für die nächste Spielzeit ankurbelt.

 

In der Gruppe, die sich verändern will, arbeite ich zumindest am Anfang eher mit der Führungsebene zusammen, und wir führen selten Gespräche über Öffentlichkeitsarbeit oder Marketing, sondern sprechen eher über verschiedene Modelle der Organisationsentwicklung, Veränderung und Transformation. Und über die Kunst.

 

In der Gruppe, die glaubt, sich ändern zu wollen, es aber nicht tut, wird mir eine vorgegebene Agenda zugewiesen. Man neigt dazu, nicht mehr zuzuhören, wenn ich sage, dass es bei der Publikumsentwicklung im Wesentlichen darum geht, ein Geschäftsmodell und eine auf Wachstum basierende Organisationskultur zu verfolgen, und dass Gespräche über Marketing und Vertrieb nicht mit der Sprache, sondern mit dem Inhalt beginnen müssen – mit anderen Worten, mit der Programmgestaltung des Theaters oder der Art und Weise, wie Neues geschaffen wird, und mit der Entscheidung, wer engagiert und mit wem gearbeitet und kollaboriert wird.

 

Das Theater in Großbritannien hat als Institution oder kulturelle Kraft in der Vergangenheit nicht die Fähigkeit zur Selbstkritik oder Selbstüberprüfung entwickelt. Das hat zum Teil mit der Struktur des Sektors zu tun – hierarchisch, von oben nach unten, karrieristisch, basierend auf dem Modell des künstlerischen Leiters und Geschäftsführers; eine Anhäufung von Macht und Entscheidungsfindung, die in den letzten Jahrzehnten durch die Zersplitterung des künstlerischen Personals in konkurrierende Individuen, die auf einem neoliberalen Marktplatz schweben, noch verschlimmert wurde. Praktisch niemand in den Künsten in Großbritannien spricht über Macht (mit Ausnahme derjenigen, die darauf hinweisen, dass ihnen diese fehlt). Es handelt sich natürlich selbst um eine Ausübung von Macht, wenn man glaubt sie ausüben zu können, ohne anzuerkennen, dass man sie ausübt.

 

Und so kehren wir zu den zentralen Fragen von Politik, Macht und Privilegien zurück. Aber was nicht geleugnet werden kann, ist, dass der Arts Council England und diejenigen im Kunstsektor, die für die Förderung von Gleichstellung und Diversität kämpfen, zum ersten Mal ein ganzheitliches intellektuelles und künstlerisches Konzept entwickelt haben, das den wahren Wert der Diversität anerkennt und sie in den Mittelpunkt aller Überlegungen über die Kunst stellt. Für mich und viele andere bleibt es ein unumstößlicher Vorschlag, der das Potenzial besitzt, den Boden für weitere tief greifende Veränderungen zu bereiten.