Symbole für kulturelles Kapital: Büchersammlung, Plattenspieler, Diplome, in der Mitte eine Person im Talar auf einer Reiterstatue

Text: Michael Annoff

 

Klasse entscheidet darüber, wer einen Beruf in Kunst und Kultur ergreifen kann und wer nicht. Vor der Demokratisierung der Gesellschaft und damit auch vor der Kulturförderung hingen Künstler*innen vor allem vom Geschmack und guten Willen adeliger und später vermehrt großbürgerlicher Sponsor*innen ab. Aber auch heute ist es schwer, sich dem Eindruck zu entziehen, dass soziale und ökonomische Herkunft zu den wichtigsten Faktoren für beruflichen Erfolg im Kunstfeld gehören. Die in den letzten Jahren wieder stärker gewordene Debatte über Klassenunterschiede in Kunst und Kultur kritisiert den extrem ungleichen Zugang zu kreativen Berufen über das Schlagwort „Klassismus“. Diese neue Welle der Kritik knüpft aber an eine lange Tradition an. Vor allem avantgardistische Künstler*innen und Intellektuelle, die unter dem Eindruck der sozialistischen Revolution in Russland von 1917 standen, machten sich schon vor einem Jahrhundert Gedanken, wie auch die Produktion von Kunst unabhängig von Adel und Kapital organisiert werden könnte:

 

Am Ende seines berühmten Aufsatzes „Der Autor als Produzent“ zitiert Walter Benjamin Louis Aragons Idee, ein revolutionärer Intellektueller müsse zum „Verräter an seiner Ursprungsklasse“ werden.

 

Er führt aus: „Warum? Weil ihm die Bürgerklasse in Gestalt der Bildung ein Produktionsmittel mitgab, das ihn aufgrund des Bildungsprivilegs mit ihr [der Arbeiterklasse], und noch mehr sie mit ihm, solidarisch macht.“1

 

Autor*innen, Künstler*innen, Intellektuelle und Kreative sollten nicht einzelne Kunstwerke, sondern Zugang zu künstlerischen Arbeitsprozessen schaffen. Seit den Avantgarden hat sich dieses Selbstverständnis sowohl in der Entgrenzung der Künste als auch in deren kulturpolitischer Begleitung als ziemlich einflussreich erwiesen. Hinter der Forderung, dass nicht nur materielle sondern auch intellektuelle und kreative Produktionsmittel radikal umverteilt werden sollen, versteckt sich allerdings auch eine ziemlich bourgeoise2 Haltung. Benjamin und seine Mistreiter*innen gehen davon aus, dass der geistige Output einer Gesellschaft sowieso von privilegierten Akteur*innen ausginge und angeleitet werden müsste.

 

Die Demokratisierung der Kunst ist noch nicht abgeschlossen

Die seit einigen Jahren geführte Klassismus-Debatte findet unter genau umgekehrten Vorzeichen statt: Seit den 1970er Jahren wurden im Zuge der „Demokratisierung der Gesellschaft“ und der „Neuen Kulturpolitik“ in der Bundesrepublik Chancen auf akademische Ausbildung und kreative und künstlerische Berufswahl für deutlich mehr Menschen möglich. Abitur- und Studierquoten schossen in die Höhe, das BAFöG wurde 1971 eingeführt, zahlreiche Kunst- und Kulturinstitutionen gegründet, öffentliche Teilhabe zum Leitmotiv der deutschen Kulturpolitik erklärt. Aber trotz der ambivalenten Versuche seit rund fünf Jahrzehnten, Bildungsprivilegien zu demokratisieren, ist die ‚Ursprungsklasse‘ der meisten Künstler*innen, Kurator*innen und Kulturarbeiter*innen in Deutschland eine bürgerliche. Die Umverteilung des ‚Produktionsmittels‘ Bildung hat in den Künsten (und nicht nur dort, sondern eigentlich in allen Arbeitsfeldern privilegierter Beschäftigung) nicht dazu geführt, dass Menschen mit ökonomisch schlechten Ausgangs-, Arbeits- und Lebensbedingungen die gleichen Chancen in künstlerischen Berufsfeldern haben wie das sogenannte Bildungsbürgertum. Trotz aller Demokratisierungsversuche bleiben vor allem die großen etablierten Kulturinstitutionen, die den Löwenanteil der öffentlichen Förderungen kassieren, Überreste bürgerlicher oder gar höfischer Kultur aus dem (vor-)vorvergangenen Jahrhundert. Die Freien Szenen, die von Projekt zu Projekt gefördert werden, oder die sogenannten Kleinkünste, die oft gar nicht als förderwürdig gelten, sind strukturell so unterfinanziert, dass es selbst bei großem Erfolg schwer möglich ist, von der Kunst zu leben. Erschwerend kommt hinzu, dass die prekären Arbeitsbedingungen in den Künsten eher parallel zu den ebenfalls geführten Diversitätsdebatten thematisiert werden. Eine stärkere intersektionale Verschränkung der Perspektiven wäre aber dringend nötig. Der Gender Pay Gap und damit die patriarchalen Abhängigkeiten von Künstlerinnen* ist größer als in den meisten Arbeitsfeldern. Die Klassismus-Debatte wurde darüber hinaus lange Zeit vor allem von weißen Personen geführt. Das hat vermutlich verhindert zu problematisieren, dass die von Klassismus betroffenen Menschen in Deutschland seit Jahrzehnten Arbeiter*innen mit (familiärer) Migrationsgeschichte sind. Der Bildungsaufstieg von Millionen weißen Deutschen in den 1970ern wurde vor allem auch dadurch möglich, dass sogenannte Gastarbeiter*innen die Jobs in der Produktion übernahmen. Sechs Jahrzehnte später wird kaum thematisiert, wie viel schwerer der Zugang zu künstlerischer Arbeit für die nachfolgenden Generationen ist.3

 

Mit ähnlichen Schwierigkeiten sind auch später nach Deutschland zugewanderte und geflüchtete Menschen konfrontiert: Migrant Pay Gap, ungleiche Bildungschancen und ausbleibende Anerkennung im Ausland erworbener formaler Bildungsabschlüsse stehen langfristigen Diversifizierungsprozessen im Weg und schränken die Lebenschancen migrantisierter Menschen ein.

 

Der Grund für die existenzielle Not vieler Künstler*innen und Kreativer liegt aber nicht mehr nur daran, dass bürgerliche Institutionen sie gar nicht mitspielen lassen wollten. Stattdessen ist diese Prekarität unter anderem auch ein Resultat der gerade beschriebenen Entwicklung. Die Demokratisierung akademischer und künstlerischer Ausbildungen ist auf komplexe Weise mit den Interessen eines „ästhetischen Kapitalismus“ (wie es der Philosoph Gernot Böhme nennt) verquickt, der zwar kreative Arbeit, aber häufig nur zu prekären Bedingungen ermöglicht. Bildung und die Fähigkeit, intellektuell und kreativ zu arbeiten, sind nicht mehr ausschließlich Ausdruck von Privilegien. Diese Fähigkeiten rücken selbst in das Zentrum kapitalistischer Ausbeutung. Intellektuelle und Kreative sind nicht mehr die Fürsprecher*innen der Ausgebeuteten, sie werden selbst zu welchen. Daher sind die Einkommen vieler Künstler*innen und Kreativen einfach zu niedrig.

 

Was ändert sich, wenn wir die Klassenfrage als Klassismus-Kritik neu stellen?

Dass nun eher von Klassismus als von Klasse die Rede ist, um ökonomische Ungleichheit in Kunst und Kultur zur Sprache zu bringen, kann eine Chance sein. Klassismus, wie er zunächst im englischsprachigen und seit den späten Nullerjahren auch im deutschsprachigen Raum diskutiert wird, thematisiert die alltägliche Unterdrückung und Diskriminierung aufgrund ökonomischer Benachteiligung. Damit rücken Analyse und Kritik alltäglicher Lebensbedingungen und Ausdrucksformen von Armut und Prekarität in den Mittelpunkt der Debatte. Wir diskutieren stärker, wie die Herabwürdigung armer, erwerbs- oder wohnungsloser Menschen in Nachrichten, Filmen oder Nachbarschaftsgerede soziale Stigmatisierungen herstellt und verstärkt. Oder wie schwierig es ist, mit wenig oder gar keinem Geld zu überleben und möglichst ein wenig an sozialem und kulturellem Leben teilzuhaben. Wie sehr Habitus - das sozial bedingte Erscheinungsbild von Menschen in Körperhaltung, Sprache, Geste und Kleidung - auch das Werturteil der Gesellschaft bedingt. Und wie sehr alltäglicher Klassismus entscheidend für die Lebenschancen von Menschen aus der Arbeiter*innenklasse ist, wenn ökonomischer und sozialer oder sogar moralischer ‚Wert‘ eines Menschen gleichgesetzt und gegeneinander aufgewogen werden.

 

Dass ein Zusammenhang zwischen dem Rückbau des Sozialstaats und dem zivilgesellschaftlichen Diskurs über arme Menschen besteht. 2008 etwa ließ der damalige Finanzsenator Thilo Sarrazin seine Behörde ein Kochbuch mit Rezepten erstellen, um zu beweisen, dass der ALG-II-Satz ausreichend zum Überleben sei, während er gleichzeitig landeseigene Sozialwohnungen zum Spottpreis verscherbelte. Nachdem die Mietpreise so sehr in die Höhe geschossen sind, dass auch weite Teile der Mittelschicht massiv betroffen sind, hat der Berliner Senat jedoch begonnen, Teile der Wohnungen zurück zu kaufen …

 

Klassismus konzentriert sich anders als bisherige materialistische Kritiken an Klassenverhältnissen nicht mehr darauf, die materiellen Grundlagen kapitalistischer Produktionsprozesse zu analysieren, sondern die symbolischen Ordnungen ökonomischer Ungleichheit zu entlarven und zur Sprache zu bringen. Die Debatte um Klassismus macht sich damit identitätspolitische Strategien zu eigen, damit – ähnlich wie in der Verhandlung von Sexismus, Rassismus oder Ableismus – den tatsächlich Betroffenen der Rücken gestärkt wird. Betroffene sollen ohne Bevormundung durch Ursprungsklassenverräter*innen für sich selbst sprechen.

 

Das stärkt die Möglichkeiten für Menschen aus der Arbeiter*innen- oder auch Armutsklasse, sich selbst zu empowern und sich klassistischer Unterdrückung entgegenzustellen. Das ist etwas völlig anderes als Walter Benjamins Vorstellung, dass das Proletariat auf solidarische Bürgerkinder angewiesen wäre, um seine Lebenswirklichkeiten und Interessen öffentlich artikulieren zu können. Stattdessen eröffnet Klassismus-Kritik Perspektiven, von alltäglichen Ausgrenzungserfahrungen aus auf dahinter liegende diskriminierende Strukturen zu schließen. Darüber hinaus bietet die biographisch oder identitär begründete Perspektive auf Klasse eher als materialistische Kritik die Möglichkeit, Klassismus in Verschränkungen mit weiteren Diskriminierungsdimensionen zusammenzudenken und spezifische Ausgrenzungsbedingungen zu artikulieren.

Dieser Ansatz kommt bisher vor allem in autobiographischen Formen zum Ausdruck, die klassistische Diskriminierung von der persönlichen Erfahrung ausgehend schildern, etwa das in der Kulturszene breit rezipierte „Rückkehr nach Reims“ von Didier Eribon oder kürzlich das von Daniela Dröscher herausgegebene Projekt „Check your habitus“. In diesen Arbeiten werden die Konflikte und die Scham beschrieben, die mit einem Bildungsaufstieg und dem Versuch verbunden sind, sich in bourgeois dominierten Strukturen durchzusetzen und zu etablieren. Dieser neuartige ‚Verrat‘ an der Ursprungsklasse ist keine Bevormundung der Unterdrückten durch privilegierte Bildungsbürger*innen mehr, sondern vielmehr ein oft schambehafteter weil schonungsloser Bericht der eigenen Aufstiegsbiographie, die entlang der Veränderungen des eigenen Habitus erzählt wird.

 

Gerade diese Diskriminierungserfahrungen bei den Grenzgängen zwischen Herkunfts- und Aufstiegsmilieu liefern wichtige Impulse, um alltägliche klassistische Symbolordnungen sichtbar zu machen und zu dekonstruieren. Die Habitus-Checks liefern so wichtige Infos über die biographisch bedingten Zugangsbarrieren von Klassismus betroffener Künstler*innen. Dafür bietet die Arbeit in Kunst und Kultur jeden Tag von Neuem Gelegenheit: Die Plastiktüte von Lidl oder ALDI als lustiger Regieeinfall, der sublime Charme des Normcore Dresscodes mies bezahlter Volontär*innen und der kleine feine Unterschied eines Elternhauses mit Klavier und ohne.

 

Vintage Sneaker sind kein Armutszeugnis – Grenzen der Klassismus-Kritik

Die identitätspolitisch begründete Wende in der Kritik an Klassenverhältnissen bringt aber auch Probleme mit sich, vor allem dann, wenn es nicht um die gesamte Gesellschaft, sondern ‚nur‘ um Kunst und Kultur geht. Sexismus, Rassismus und Ableismus werden als gesellschaftliche Konstruktionen begriffen, deren Grenzziehungen im Laufe der Jahrhunderte frei erfunden wurden. Die schrecklichen, oft sogar mörderischen Folgen für die Betroffenen dieser Konstruktionen entbehren jeder ‚objektiven‘ oder ‚natürlichen‘ Grundlage. Es geht identitätspolitischen Kritiken deswegen häufig darum, zugleich die ideologischen Grundlagen von Diskriminierung als Erfindung der Herrschenden zu benennen und damit der daraus entstehenden Gewalt ihre ideologische Legitimation zu entziehen. Sie setzen dabei häufig bei Beschreibungen an, wie die Grenzziehungen zwischen dominanten und marginalisierten Gruppen alltäglich hergestellt werden. Dafür stehen etwa Judith Butlers Begriff des „Passings“ in einer heteronormativen Gesellschaft oder Fatima El-Tayebs Begriff des „Markiert“-Seins migrierter und migrantisierter Menschen. Beide Konzepte beschreiben jeweils auf ihre Weise, wie willkürlich ausgewählte körperliche Eigenschaften oder Verhaltensweisen von Menschen herangezogen werden, um Menschen nach Geschlecht oder Herkunft zu sortieren und zu werten.

 

Allerdings ist dieses identitätspolitische Prinzip nicht ohne Weiteres auf Klassismus-Erfahrungen übertragbar. Bisher wurde in der Klassismus-Debatte (teilweise bewusst) darauf verzichtet, eine materialistische Grundlage des Klassenbegriffs herauszuarbeiten, die empirisch überprüfbar wäre. So ging es den Autor*innen der ersten deutschsprachigen Klassismus-Einführung, Andreas Kemper und Heike Weinbach, 2008 vor allem um „die Sensibilisierung für neue Sichtweisen, weniger um begriffliche Schärfe und starre Definitionen.“

 

Die Abwertung ökonomisch schwacher Menschen beruht auf einer realen materialistischen Grundlage, die aus den Widersprüchen kapitalistischer Verhältnisse resultiert. Darüber hinaus sind die Ausdrucksformen klassistischer Ausgrenzung weniger eindeutig. Zwar hat Pierre Bourdieu mit „Habitus“ ein oftmals verwendetes Konzept beschrieben, wie Klasse als soziale Praxis sichtbar wird, das neben materialistischen Aspekten auch kulturelles und soziales Kapital berücksichtigt. Jedoch hat sich die Grundlage, wie wir uns Habitus aneignen, seit der Zeit Bourdieus grundlegend geändert. Es geht nicht mehr darum, dass wir uns einen möglichst prestigereichen Habitus aneignen, nicht einmal im Foyer oder gar beim Bewerbungsgespräch in der konservativsten Oper. Stattdessen kommt es in der gegenwärtigen Geschmacksbildung drauf an, zwischen möglichst vielen verschiedenen habituellen Codes wechseln zu können. Während es früher darauf ankam, den hochkulturellen Kanon draufzuhaben, geht es heute eher darum in möglichst vielen unterschiedlichen Kontexten ästhetisch und inhaltlich anschlussfähig zu sein. Das macht es auf den ersten Blick viel schwerer, von bestimmten Codes Rückschlüsse auf soziale Verhältnisse zu ziehen. Wenn alle im Theaterfoyer weiße Sneaker tragen, wirkt das erstmal als eine Angleichung sozialer Unterschiede, obwohl sie diese eigentlich nur verwischen.

 

An dieser Stelle wird die große Offenheit von Klassismus-Konzepten zum Problem, weil es schwer möglich ist, Alltagssituationen und strukturelle Verhältnisse analytisch miteinander zu verknüpfen. Der Ansatz, von habituellen und diskursiven Alltagspraktiken auf strukturelle (Un-)Gleichheit zu schließen, ist einer Schwierigkeit ausgesetzt. Habituelle Unterschiede sind nicht immer gleichbedeutend mit den sozialen Konflikten, von deren symbolischen Ordnungen sie Teil sind.

 

Insofern lässt sich die Klassismus-Debatte auch als eine Kulturalisierung ökonomischer Ungleichheit problematisieren, die sich zu sehr für die kulturellen Ausdrucksformen von Ungleichheit interessiert und zu wenig für deren kapitalistische Grundlagen.

 

Nämlich Scheindebatten auf ästhetischer Ebene zu führen, die eher vom strukturellen Problem dahinter ablenken als es zu benennen, indem sie die Bedeutung habitueller Unterschiede zu sehr betonen. Das war zum Beispiel bei Gentrifizierung lange der Fall, wo der Habitus neuer Mieter*innen mit etwas höheren Einkommen [Kleidungsstil und Kaffeevorlieben] oftmals polemischer thematisiert wurde als das Problem flächendeckender Immobilienspekulation.

 

Im Feld der Künste ist die Bedeutung von Habitus für ökonomische Ungleichheit als Ausgangspunkt für Sozialkritik ebenfalls nicht unproblematisch. Dass liegt anders als bei Gentrifizierung aber nicht daran, dass einzelne habituelle Details auf fragwürdige Weise politisiert werden. Stattdessen zeigt sich in vielen künstlerische Milieus, dass in den künstlerischen Habitus neben der sozialen und ökonomischen Herkunft auch traditionelle professionelle Selbstbilder einfließen. Obwohl im künstlerischen Feld viele Menschen aus eher privilegierten Verhältnissen kommen, lassen sich häufig habituelle Selbstinszenierungen beobachten, die dem Mythos „brotloser“ Künstler*innen und dessen Neuinterpretationen Rechnung tragen – Nicht jeder bekleckste Vintage Sneaker in der Raucher*innenecke einer Kunsthochschule lässt auf Geldknappheit im Elternhaus ihrer Träger*innen schließen.

 

Ästhetische Ablenkungsmanöver: Die Klassenfrage geht über die Kunst hinaus

Dass ästhetische Ablenkungsmanöver strukturelle Ungleichheit verbergen, könnte sich bei einer Klassismus-Debatte in den Künsten wiederholen, weil prekäre Arbeitsbedingungen für alle nur scheinbar gleichmachen. Anders als viele klassistische Diskriminierungen, die auf Abgrenzung und Abwertung setzen, werden in künstlerischen Feldern Klassenunterschiede eher kaschiert. Solch Künstler*innen-Habitus bezieht sich in aller Regel auf die von allen geteilte Erfahrung prekärer Arbeitsverhältnisse. Gerade weil viele künstlerische Felder so kompetitiv und zugleich unterfinanziert sind, ist der Lebensweg der meisten Künstler*innen von mehr oder minder dauerhaften prekären Phasen geprägt. Die Ungleichheit zwischen vielen Künstler*innen liegt aber nicht in den Arbeitsbedingungen selbst, sondern in ihren Optionen, diese Prekarität auszuhalten oder zu lindern. Während die Arbeitsbedingungen fast überall gleich mies sind, sind die Möglichkeiten künstlerische Berufe abzusichern oder gar quer zu finanzieren, höchst ungleich verteilt. Während über die prekären Arbeitsbedingungen und die Bereitschaft, sich darauf einzulassen, verhältnismäßig viel bekannt ist und öffentlich diskutiert wird, wird über privilegierte Ausweichmöglichkeiten deutlich weniger gesprochen und geforscht. Die starke Betonung geteilter Prekaritätserfahrungen verdeckt daher vielerorts, was die Künste in weiten Teilen am Leben hält, vor allem in pandemischen Zeiten: Unterschiedlich sichere Standbeine außerhalb der Kunst und mehr noch unterschiedlich starke familiäre Sicherheitsnetzwerke und Aussichten auf ein Erbe. Eine Klassismus-Diskussion mit zu offenem Begriffsverständnis in den Künsten läuft deshalb Gefahr, dass jede prekäre Situation potenziell als Klassismus-Erfahrung dargestellt werden kann. Viele künstlerische Szenen sind deshalb geradezu von einer habituellen Vereinheitlichung uneindeutiger Codes geprägt. Dort kombinieren alle einen liebevoll ausgesuchten Secondhandsweater mit Lippenstift von Chanel, schnorren Filterkippen und reden über Ungewissheit…

 

Zugleich neigt eine zu offene Klassismus- Diskussion zu plakativen Gegenüberstellungen, die der Komplexität sozialer und ökonomischer Ungleichheit nicht immer gerecht werden, etwa wenn Einzelphänomene immer wieder im Mittelpunkt der Kritik stehen, ohne ihre gesellschaftlichen Ursachen zu benennen. Etwa, wenn sich mehr darüber empört wird, dass erstaunlich viele Künstler*innen eine Wohnung von den Eltern geschenkt bekommen haben, und weniger darüber, dass es keine politische Mehrheit für eine Reform des Erbrechts gibt. 

 

Die Thematisierung von Klassismus in den Künsten scheint manchmal eher zu einer Wehklage über allgemeine Prekarisierung der Künste zu geraten als zu einer persönlichen Auseinandersetzung mit den eigenen Sicherheitsnetzwerken. Es ist aber wichtig, dass vor allem Künstler*innen zu Wort kommen, für die Armut nicht erst durch eine freiwillige Entscheidung zu einer extrem risikoreichen Berufswahl zu einer konkreten Bedrohung geworden ist.

 

Tatsächlich werden aber auch die öffentlichen Habitus-Checks betroffener Künstler*innen sich bald erschöpfen, wenn sich aus ihren Barrieren-Erfahrungen keine politischen Forderungen ableiten lassen, die über die individuelle Biographie hinausgehen, Ungleichheiten ökonomisch begründen und darüber hinaus intersektional denken. Bei dieser Entwicklung kann Walter Benjamin vielleicht doch helfen. Künstlerische und intellektuelle Arbeit darf nicht nur von und für sich selbst sprechen. Sie wird nur dann ausreichend monetäre und ideelle Wertschätzung erfahren, wenn sie sich wieder solidarisch ins Verhältnis zu den Millionen Menschen setzt, die anderen prekarisierten Tätigkeiten nachgehen (müssen).

 

Michael Annoff arbeitet anthropologisch, kuratorisch und performativ. Von 2016 bis Januar 2022 hatte Michael eine Akademische Mitarbeit für Kultur & Vermittlung im Studiengang Kulturarbeit der FH Potsdam inne. Gemeinsam mit Nuray Demir dokumentiert Michael seit 2018 im Projekt „Kein schöner Archiv“ das immaterielle Erbe der postmigrantischen Gesellschaft.

  • 1Unter „Produktionsmitteln“ begreift die marxistische Theorie alle Hilfsmittel von Produktionsprozessen, etwa Rohstoffe und Maschinen. Weil intellektuelle und kreative Arbeit vor allem immaterielle Güter sind (Zugang zu Bildung und Zeitressourcen), stellt sich für die Avantgarden die Frage, wie die Produktionsmittel der Kunst revolutionär umverteilt werden könnten.
  • 2Mit „Bourgeoise“ sind bürgerliche Milieus gemeint, die über soviel Kapital verfügen, dass sie nicht oder nicht vollständig auf Einkünfte aus eigener Erwerbsarbeit angewiesen sind.
  • 3Eine der wenigen Ausnahmen ist die Videoarbeit von Nuray Demir und George Demir „Semiotics of the Kunstfeld“ (2020): https://vimeo.com/431199334