Publikation: „Wir hatten da ein Projekt ...“
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Was passiert im Comic Aquarium von Patu? Die Autorin Elnaz Farahbakhsh hat eine narrative Zusammenfassung des Comics geschrieben und eingesprochen.
Wir hatten da ein Projekt ... Diversität strukturell denken
Die Kritik an den Ausschlussmechanismen des Kulturbetriebs hat eine lange politische und ästhetische Tradition. Von Hans Haackes ökonomiekritischer Perspektive auf einen marktförmigen Kunstbetrieb über die Aktion des Performancekünstlers Ulay um das Gemälde „Der arme Poet“, die die Diskrepanz zwischen Hochkultur und Stadtgesellschaft markierte, selbstkritische Positionen wie diejenige von Andrea Fraser, die in ihren Werken die eigene Involviertheit als Künstlerin in die Machtstrukturen des Kunstbetriebs thematisiert, bis hin zu den feministischen Interventionen der Guerrilla Girls – sie alle eint das Unbehagen an der Institution Kunst. Dieses Missverhältnis zwischen denjenigen, die Zugang zum Kulturbetrieb und den damit verbundenen Ressourcen erhalten, und denjenigen, denen dieser Zugang verwehrt wird, ist hinlänglich bekannt und wird nicht erst unter dem Begriff „Diversität“ diskutiert. Allerdings verbleibt die Kritik häufig auf einer ästhetischen Ebene, die Strukturen bleiben.
Als Diversity Arts Culture 2017 vom Berliner Senat eingerichtet und beauftragt wurde, einen diversitätsorientierten Strukturwandel im Berliner Kulturbetrieb zu befördern, ging der Gründung eine wegweisende Untersuchung des Status quo im Kulturbetrieb voraus: In ihrer Studie „Handlungsoptionen zur Diversifizierung des Berliner Kultursektors“ kritisierten die Autor*innen von „Citizens for Europe. Vielfalt entscheidet – Diversity in Leadership“ unter anderem, dass Diversitätsentwicklung im Kulturbetrieb viel zu oft nur punktuell im Rahmen von Projekten stattfinde und nicht strukturell gedacht werde.
Drei Jahre später begegnet uns diese „Projektitis“ noch immer. Diversitätsentwicklung wird von Kulturinstitutionen oft in Form zeitlich begrenzter Angebote in ihr Programm eingebunden. Der Titel dieser Publikation „Wir hatten da ein Projekt …“ fasst diese Reduktion provokativ zusammen. Die Publikation ist ein Zwischenruf und eine Aufforderung zum diversitätsorientierten Strukturwandel: Sie versammelt kritische Stimmen aus Kulturinstitutionen, von Kulturschaffenden und Aktivist*innen, die diskriminierende Strukturen benennen und Methoden entwickelt haben, diese machtkritisch zu verändern. Nach einem Blick auf den Status quo im Berliner Kulturbetrieb stehen deswegen die Erfolgsbedingungen struktureller Diversitätsentwicklung in Institutionen im Zentrum. Es wird deutlich, dass die Öffnung des Kulturbetriebs vor allem von der Fähigkeit der Kulturinstitutionen abhängt, ihren Blick selbstkritisch nach innen zu richten und die eigene Arbeitsweise und Programmatik zu hinterfragen. Zum Abschluss gehen wir einen Schritt weiter und verorten die institutionelle Praxis in ihrem kulturpolitischen Rahmen: Welche Vorgaben und Verbindlichkeiten braucht es, damit ein struktureller Wandel gelingen kann?
1 Das Problem beim Namen nennen: Machtkritik und Diskriminierung
Mit Datenerhebung Veränderungen anstoßen – für einen gerechteren Kulturbetrieb
Wenn wir über Diversität im Kulturbetrieb sprechen, fehlen uns an vielen Stellen intersektionale Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten. Um den Status quo adäquat zu beschreiben, müssen wir uns fragen: Wer arbeitet im Kulturbetrieb mit welchen Diskriminierungserfahrungen und auf welcher Hierarchieebene? Welche Perspektiven fehlen im künstlerischen Programm? Citizens For Europe. Vielfalt entscheidet - Diversity in Leadership hat für Diversity Arts Culture Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten in Berliner Kulturinstitutionen erhoben. Ein Plädoyer für datenbasierte Diversitätsentwicklung als Ausgangspunkt eines strukturellen Wandels.
How to be an ally? Machtkritik im Theater
Der Kulturbetrieb muss sich verändern! Das fordert eine wachsende Zahl von Initiativen, die die Machtstrukturen im Kulturbetrieb kritisieren. Die Initiative für Solidarität im Theater hinterfragt die Produktionsbedingungen der Kunst und prangert missbräuchliche Arbeitsstrukturen an. Sie fordert Theaterschaffende dazu auf, kontinuierlich ihre eigene Haltung zu reflektieren. Denn gerade im Theater, das sich als gesellschaftskritisch versteht, klaffen Anspruch und Wirklichkeit nicht selten weit auseinander.
2 Wie geht das „Kultur für alle”? Aufbruch aus dem Elfenbeinturm
„Wir sammeln für die Gesellschaft, nicht für das Museum“
Was kann es für ein Museum heißen, die Vielfalt der Gesellschaft abzubilden? Natalie Bayer, Leiterin des Friedrichshain-Kreuzberg Museums, und Paul Spies, Direktor des Stadtmuseums Berlin, diskutieren unter anderem über das viel zitierte Paradigma „Kultur für alle“, über aktuelle Sammlungspolitiken, eine kritische kuratorische Praxis sowie über ihren Handlungsspielraum als Museumsleitung in institutionellen Öffnungsprozessen.
Organisationsentwicklung mit großen Chancen
Das Stadtmuseum Berlin wurde im Rahmen eines Modellprojekts über knapp zwei Jahre durch die Organisationsentwicklerinnen Miriam Camara und Nurêy Özer im Auftrag von Diversity Arts Culture begleitet. Im Gespräch mit den Projektleiterinnen Dr. Claudia Gemmeke und Ulrike Kloß sprechen sie über erreichte Meilensteine, den langen Atem, der gebraucht wird, um Diversität als Querschnittsaufgabe zu verankern, und die Notwendigkeit, auch „unbequeme“ Themen zu adressieren. Das Gespräch führte Toan Nguyen, der das Modellprojekt mitkonzipiert hat.
„Aber wessen Standards?!“
Institutionelle Normen hinterfragen und verändern Seit 20 Jahren setzt sich das Londoner Young Vic dafür ein, diskriminierungskritisches und gesellschaftlich relevantes Theater zu machen. Sue Emmas, stellvertretende künstlerische Leitung am Young Vic, benennt in ihrem Essay, wie konkrete Maßnahmen in den Bereichen Communitybuilding, Publikum, Programm, Förderung und Personal dazu beigetragen haben, bestehende Ungleichheiten in den eigenen Strukturen abzubauen.
„Die Perspektive von Behinderung ist für mich Teil der künstlerischen Qualität“
MAKING A DIFFERENCE – einen Unterschied im künstlerischen wie im politischen Sinne machen möchte das gleichnamige Projekt, das acht Berliner Institutionen der Tanzszene vereint, die Performer*innen und Choreograf*innen mit Behinderungen fördern. An den Sophiensælen haben Anna Mülter, Dramaturgin für Tanz und künstlerische Leitung der Tanztage Berlin, und Anne Rieger, Projektkoordinatorin von MAKING A DIFFERENCE, bereits barrierefreie Angebote entwickelt und Performances von Künstler*innen mit Behinderung im Programm verankert. Im Interview plädieren sie für einen kollektiven Strukturwandel und die kritische Hinterfragung normativer Ästhetiken.
3 Wo bitte geht's nach Panama?
Politik, Macht und Privilegien – die Entwicklung des „Creative Case for Diversity“
Wer Zugang zu Ressourcen der kulturellen Produktion erhält und wer nicht, ist in erster Linie eine politische Frage, konstatiert Hassan Mahamdallie, Autor des „Creative Case for Diversity“. Dennoch fordern die im Kulturbetrieb vorherrschenden Denkweisen, Erzählungen und Praktiken eigene Argumente und Ansätze der Diversitätsförderung. Der Theaterautor und Diversitätsexperte Mahamdallie zeichnet nach, wie der Arts Council England mit dem „Creative Case for Diversity“ 2011 eine neue Strategie entwickelt hat, um Diversität strukturell in Förderpolitiken zu verankern und Diskriminierung abzubauen.
Warum Diversitätsentwicklung? Plädoyer für einen strukturellen Wandel im Kulturbetrieb
Die Kritik an der Institution Kunst hat zwar eine lange Geschichte, doch erst seit Kurzem wird sie in Deutschland mit einem diskriminierungskritischen Diversitätsbegriff geführt, der marginalisierte Perspektiven ins Zentrum stellt. In ihrem Beitrag plädieren Sandrine Micossé-Aikins und Eylem Sengezer, ausgehend von der Arbeit von Diversity Arts Culture, für einen strukturellen Wandel des Kulturbetriebs, der Diversitätskompetenz stärkt, Förderstrukturen diversifiziert, Nachwuchs gezielt fördert und Kulturinstitutionen zu Diversitätsentwicklung verpflichtet.