2 Years From Now – Folge 1
"Klassismus – Wege in den Kulturbetrieb"
Wo erfährt man eigentlich, dass es möglich ist, Kunst und Kultur zum Beruf zu machen? In der ersten Folge des Podcasts "2 Years From Now" sprechen wir mit drei Expert*innen über Klassismus in der Kunst- und Kulturpraxis. Wie beeinflussen klassistische Strukturen, wer eine Karriere im Kulturbetrieb machen kann?
Interviews mit Prof. Dr. Ruth Sonderegger, Jacqueline Saki Aslan, Verena Brakonier
Shownotes
- Wörterbuch-Eintrag: Klassismus
- Wörterbuch-Eintrag: Ableismus
- Website kultur_formen
- Dossier "Kunst kommt von Können"
- Artikel von Ruth Sonderegger
- Wörterbuch-Eintrag: Othering
- Kurzfilm Hände
- Gesprächsgruppe "Anonyme Arbeiter*innenkinder"
- Wörterbuch-Eintrag Empowerment
- Liste mit Beiträgen zu Klassismuskritik
Das Gespräch im Wortlaut
Intro
[Intro-Musik]
Ruth Sonderegger: Für mich ist der westliche Kunstbegriff ein Riesen Paradox. Er will aussortieren und er will regellos sein. Das geht nicht zusammen.
Jacqueline Saki Aslan: Wo ist eigentlich der Stolz in dieser Gesellschaft? Beispielsweise auch darauf, Arbeiter*in zu sein oder mit weniger klarzukommen? Nicht dass wir das jedem wünschen. Aber warum gibt es hier nicht so eine Mentalität oder Haltung, wo man mit Stolz auf Einwanderungs- und Arbeiter*innengeschichte schaut?
Verena Brakonier: „Du hast doch Talent, das kann man machen“. Dass da jemand war von außen, der das gesehen hat. Das hat super viel mit Glück zu tun, ob du diese Person triffst oder nicht. Aus der eigenen Kraft heraus, in den Kulturbetrieb zu kommen ist einfach schwierig.
[Intro-Musik]
Begrüßung
Lisa Scheibner: Herzlich willkommen zur ersten Folge unseres Podcasts „2 Years From Now – Zugänge und Ausschlüsse in der Kulturszene“, ein Podcast von Diversity Arts Culture. Ich bin Lisa Scheibner und koordiniere bei Diversity Arts Culture den Bereich Diversitätskompetenz und Weiterbildung.
Für die, die uns noch nicht kennen: Diversity Arts Culture ist die Konzeptions- und Beratungsstelle für Diversitätsentwicklung im Berliner Kulturbetrieb. Mehr dazu könnt ihr auf unserer Webseite nachlesen: diversity-arts-culture.berlin.
Wir bekommen in unserer Arbeit immer wieder mit, dass der Bedarf an Fortbildung zu Antidiskriminierung und zu Diversitätsentwicklung derzeit riesengroß ist, natürlich auch weit über Berlin hinaus. In unserem Podcast wollen wir Einblick in die Themen geben, mit denen Diversity Arts Culture sich beschäftigt. Dabei lassen wir verschiedene Expertisen und Perspektiven aus der Kunst- und Kulturpraxis zu Wort kommen.
Wir wollen wissen: wie werden Diskriminierungsdimensionen wie Klassismus, Rassismus oder Ableismus im Kulturbetrieb diskutiert und welche Möglichkeiten gibt es, sie abzubauen?
Unser Podcast heißt „2 Years From Now“, also auf Deutsch: zwei Jahre von jetzt an, weil wir uns fragen, was sich verändern lässt, wenn wir jetzt damit anfangen. Zwei Jahre sind eine kurze Zeit, aber zum Abbau von Diskriminierung gibt es auch schon viele gute Ideen und Konzepte. Sie müssen aber auch angestoßen und umgesetzt werden, um die Kulturszene diverser und diskriminierungssensibler zu machen.
Der Podcast wird aus Gründen der Kapazität nicht regelmäßig erscheinen, sondern in kleinen Paketen mit jeweils mehreren Folgen.
Zu Anfang wollen wir Antidiskriminierungsthemen in den Fokus setzen, die wir als besonders entscheidend betrachten für den Kulturbetrieb. Wir beginnen mit dem Thema Klassismus. In den nächsten beiden Folgen geht es dann um Rassismus im Kulturbetrieb.
Für jede Folge interviewen wir einige Expert*innen zu Antidiskriminierung und Kunst und Kultur und laden auch immer wieder Kolleg*innen als Gastmoderation ein.
[Musik]
Einleitung
Lisa: Und damit komme ich auch schon zu meiner heutigen Begleitung, meiner Kollegin Justine Donner von kultur_formen! Hallo Justine. Magst du dich kurz vorstellen, was machst du bei kultur_formen, woran arbeitest du normalerweise?
Justine Donner: Hallo Lisa! Ich bin Referentin für Redaktion & Programm bei kultur_formen. Dort liegt unser Schwerpunkt auf Kultureller Bildung, also der partizipativen Kulturpraxis von und mit jungen Menschen. Wir selbst fördern mit dem Projektfonds Projekte, qualifizieren Projektleitende im Feld und möchten jungen Menschen den Einstieg in die eigene Professionalisierung ermöglichen. Ich bin dort zuständig für die redaktionellen Beiträge sowie einen Teil dieser Qualifizierungsangebote.
Lisa: Ich habe dich unter anderem als Gastmoderation angefragt, weil wir letztes Jahr gemeinsam mit unserer Kollegin Bahareh Sharifi das Dossier „Kunst kommt von Können?! – Klassismus im Kulturbetrieb“ herausgegeben haben, den Link dazu findet ihr in den Shownotes. Das Dossier hat ziemlich viel Beachtung gefunden. Warum gibt es grade so ein großes Interesse an dem Thema?
Justine: Ich denke, dafür gibt es sehr viele Gründe. Gesamtgesellschaftlich unter anderem, weil sich die soziale Ausgrenzung verschärft und zunehmend die bisher ganz gut abgesicherte Mittelschicht auch betrifft. Und im Kulturbereich selbst und mit seinen Schwerpunkten zu Diversität auch immer klarer wird, dass das Thema Zugänge eben immer auch an Klassenfragen geknüpft ist und nicht nur über andere Diskriminierungsdimensionen abgedeckt werden kann.
Lisa: Denkst du, wir konnten die Fragen, die es dazu gibt, im Dossier abbilden?
Justine: Wir haben im Dossier zumindest aufzeigen können, dass es in der Debatte wichtig ist, Verschränkungen von Diskriminierungen zu beleuchten, weil es viel mehr Ausschlussmechanismen gibt, als aus der Arbeiter*innenklasse zu kommen. Aber auch dass es nicht nur um die gerechtere Verteilung von Ressourcen gehen kann, sondern auch um Fragen wie: Wer wird im Kulturbereich wirklich ausgebeutet, zum Beispiel outgesourctes Personal wie Reinigungskräfte? Wer kann sich überhaupt eine künstlerische Laufbahn leisten, also diese Prekarität aushalten ohne familiäre Rücklagen oder aufgrund Verpflichtungen anderen Menschen gegenüber? Es geht um mehr als um schlecht bezahlte Berufe. Obwohl da eine Verbesserung natürlich eine zentrale Grundlage ist, um sich überhaupt für diesen Beruf zu entscheiden.
[Musik]
Einführung Interviewgäste Ruth Sonderegger, Jacqueline Saki Aslan
Lisa: Wir haben vor einiger Zeit auch einen Aufruf auf Social Media gestartet und unsere DAC-Community dort gefragt, welche Fragen zum Thema Klassismus im Kulturbetrieb sie wichtig finden. An dieser Stelle dafür erstmal ein großes Dankeschön, denn wir haben sehr viele Antworten bekommen! Wir haben versucht, die Fragen, die ihr eingereicht habt, in den Interviews zum Podcast einzubauen und mitzudenken, aber natürlich ist der Zeitrahmen begrenzt und wir werden nicht alle Themen heute im Podcast aufgreifen können.
Wir wollen aber natürlich weiter zu dem Thema arbeiten und noch mehr Perspektiven zu Klassismus im Kulturbetrieb ausloten, das Thema ist also mit dieser Folge hier auf keinen Fall abgehakt und wir freuen uns über Themenvorschläge.
Heute wollen wir vor allem verschiedene Praxisperspektiven hören. Ich stelle jetzt die ersten beiden Interviewpartner*innen vor, von denen wir dann auch gleich die ersten Interviewausschnitte hören.
In der Recherche zum Thema Klassismus ist unsere Kollegin Bahareh Sharifi auf die Arbeit von Ruth Sonderegger aufmerksam geworden, die aus der Philosophie kommt und als Professorin an der Akademie der Bildenden Künste in Wien arbeitet. 2016 hat sie dann bei dem Projekt Art.School.Differences im Beratungsgremium und bei der Auswertung mitgearbeitet. Das war eine Studie an drei Schweizer Kunsthochschulen, die dort „Unterschiede und Normativitäten“ untersucht hat. Eine wichtige Studie, auf die auch wir oft zurückgreifen, wenn wir etwas über Kunsthochschulen und Ausschlüsse sagen wollen, weil es dazu eben noch kaum brauchbare Daten zu Diskriminierung gibt. Dabei ging es auch um das Thema Klassismus an der Kunstakademie. Ruth erwähnt die Studie und die Arbeit, die dazu beigetragen hat, wie eine Wiener Studie im Vorfeld. Sie erwähnt außerdem Studierendenstreiks an der Akademie der Bildenden Künste, die sie dazu gebracht haben, sich vertieft mit dem Thema zu beschäftigen. Wir verlinken einen Artikel von Ruth in den Shownotes, damit ihr mehr darüber lesen könnt.
Ich stelle die zweite Interviewpartnerin auch gleich vor, da wir die Ausschnitte dann gleich hintereinander hören. Jacqueline Saki Aslan ist Performancekünstlerin und Migrationsforscherin aus Berlin und arbeitet auch in der freien Vermittlung. Sie gibt Workshops und hält Vorträge zu Rassismus und Klassismus, zu Kunst, Erinnerungskultur, Migration und Community Organizing.
Eigentlich wollten wir die Interviews zu zweit führen, Justine, was leider nicht geklappt hat. Aber du hast mir deine Fragen mitgegeben und ich konnte sie für uns beide stellen.
Definition Klassismus
Lisa: Ich habe beide gefragt, wie sie Klassismus definieren würden und das hören wir uns jetzt an. Saki Aslan habe ich gefragt, wie sie Klassismus im Workshop erklärt, für Personen, die den Begriff vielleicht erstmal noch nicht kennen.
Jacqueline Saki Aslan: Ich weiß, viele scheuen sich vor einer klaren Definition und ich finde das auch in Ordnung, dabei immer zu sagen, dass das durchaus weiter diskutiert werden kann. Ich bin auch der Meinung, dass man auch andere Begriffe zu Hilfe nehmen sollte, um mehr Leute teilnehmen zu lassen an der Diskussion. Viele können mit dem Begriff Klassismus nichts anfangen; eine andere Altersgruppe arbeitet vielleicht mehr mit dem Armutsbegriff, oder mit Teilhabe oder sozialer Gleichheit, Ungleichheit usw. Das sage ich auch immer dazu, weil die Debatte meiner Meinung nach oft sehr ausschließend, sehr akademisch ist. Wenn ich es nicht leicht formuliere, ist Klassismus nach meiner Definition eine Diskriminierungsform, die sich abspielt auf der zwischenmenschlichen Ebene und auf der strukturellen Ebene, aber auch System hat. Klassismus ist eine systematische Unterdrückung. Klassismus existiert, wenn wir klassistisch denken oder handeln und äußert sich zum Beispiel darin, dass ich die Gesellschaft in ein Oben und ein Unten denke. Wenn es einen Aufstieg und einen Abstieg gibt, dann sagt das viel darüber aus, dass ich die Gesellschaft als Klassengesellschaft betrachte. Dann gibt es etwas, was du erklimmen kannst und auch wieder verlieren kannst, in deinem sozialen Status.
Lisa: Ruth Sonderegger habe ich nach der Definition von Klassismus und Klasse gefragt.
Ruth Sonderegger: Meist wird Klasse im Sinne von einer soziologischen Einteilung, einer Schichteinteilung oder einer Milieu-Einteilung verstanden. Das hat dann entweder etwas mit Einkommensverhältnissen oder mit Besitz oder eher Nicht-Besitz von Produktionsmitteln zu tun, wenn man das in der marxistischen Tradition ausdrücken will.
Das ist ein sehr klassischer, statischer Begriff von Klasse und der Versuch, relativ neutral auf Klasse zu blicken. Dann kann man das natürlich skandalisieren, indem man sagt, dass bestimmte Menschen Nachteile aus dieser Struktur haben und dann würde man eher mit dem Begriff Klassismus operieren. Es gibt einen dritten Begriff, den ich eigentlich für den spannendsten halte, den man zu dieser ganzen Konstellation von Begrifflichkeit noch hinzufügen sollte, nämlich den Begriff Klassenkampf oder Klassenkämpfe. In meinen Augen hat das zum Beispiel der englische Sozialhistoriker E.P. Thompson auf den Punkt gebracht. Er hat gesagt: Entscheidend ist der Klassenkampf, an dessen Ende erst so etwas wie ein Klassenbewusstsein und auch ein Klassenverständnis entsteht. Das ist insofern viel spannender, weil dann Klasse auch ein Begriff ist, auf den man unter Umständen stolz sein kann. Man betont nicht das Diskriminierende, sondern betont, wenn man vom Klassenkampf aus denkt, erst mal die Veränderbarkeit und zweitens auch, dass Klasse etwas sein kann, auf das man stolz ist, mit dem man etwas erreichen kann.
Justine: Die beiden Definitionen finde ich wichtig und sie ergänzen sich sehr gut. Ich halte es für wichtig, Räume für Austausch zu schaffen, um sich mit eigenen Klassismus-Erfahrungen auseinandersetzen zu können. Um zu verstehen, dass individuelle Erfahrungen struktureller Natur sind und diskriminieren. Auch ist es natürlich wichtig, Menschen auf ihre Privilegien hinzuweisen, damit verstanden wird, dass Ressourcen umverteilt werden müssen. Wichtig finde ich dabei auch Ruths Ergänzung, dass es dennoch auch Klassenkampf braucht, denn nur auf Einsicht von Menschen mit Privilegien zu hoffen, hat noch keinen sozialen Wandel hervorgebracht in der Geschichte. Daher ist der Faktor der Selbstorganisation meines Erachtens entscheidend; aber es ist umso besser, wenn es mehr solidarische Personen gibt.
Lisa: Was mir dabei gut gefallen hat, ist, dass sie unterstreicht, dass man gegen klassistische Strukturen kämpfen kann. Diese sind unter bestimmten Bedingungen entstanden, aber damit auch veränderbar, auch wenn das in der Praxis natürlich nicht so leicht geht. Sie hat dann noch gesagt, dass dieser statische Begriff von Klassen, zum Beispiel nach Einkommensverhältnissen, natürlich auch wichtig ist, um diskriminierende Strukturen zu belegen. Man braucht eine Grundlage, damit man vergleichen kann, wer wieviel hat. Sie hat auch noch gesagt, wie diese Klassifizierungen in Gesellschaften auch in Bezug auf verschiedene Diskriminierungsformen wirken.
Ruth Sonderegger: Bei Marx ist völlig klar, vor allem in seinen Überlegungen zur sogenannten ursprünglichen Akkumulation, wo es um viele verschiedene Ausbeutungsverhältnisse geht, dass kapitalistische Vergesellschaftungsweisen immer über Klassifizieren, Aufteilen und Hierarchisieren arbeiten. Klassifizieren kann man natürlich nicht nur in Bezug auf Arbeitsverhältnisse, Lohnverhältnisse, sondern klassifiziert wird auch in Hinsicht auf Gender, oft in Hinsicht auf Hautfarbe, Herkünfte etc. Ich finde es sehr interessant, dass bei Marx so stark das Klassifizieren im Zentrum steht und damit damals schon die Möglichkeit besteht, über diesen Klassifizierungs-Begriff zu verstehen, dass verschiedene Teilungssysteme und Hierarchisierungssysteme immer ineinandergreifen und gegeneinander ausgespielt werden. Das ist bei Marx nicht so ausgearbeitet, wie man sich das wünschen könnte, aber durchaus da. Also es wird nicht nur wird Arm gegen Reich ausgespielt, sondern es wird versucht, zum Beispiel eine weiße Arbeiter*innenschaft gegen eine migrantische mit ins Boot zu holen etc.
Für mich ist mit einem marxistischen Verständnis von Klassifizierung immer auch angelegt das Nachdenken und das Kämpfen gegen verschiedene interagierende, einander verstärkende Diskriminierungsformen.
[Musik]
Klassismus im Kulturbetrieb: Kunsthochschule
Lisa: Damit sind wir auch schon mitten im Thema. Wir haben beim Dossier schon gemerkt: Klassismus kommt selten allein. Oft ist soziale Ungleichheit verbunden mit anderen Diskriminierungsformen wie Rassismus oder Ableismus. Diese sind aber in der Regel so miteinander verwoben, dass es gar nicht so leicht ist, aufzudecken, was da genau passiert bei einer Diskriminierung. Besonders, wenn wir über die strukturelle Ebene reden. Diese ist nach außen hin ganz „neutral“ und organisch gewachsen, aber in Wirklichkeit nach den Bedürfnissen von bestimmten gesellschaftlichen Gruppen, meistens den privilegierten, gestaltet und soll auch Ausschlüsse produzieren. Aufnahmeprüfungen an der Kunsthochschule sind dazu da, „Exzellenz“ herzustellen, also die „besten“ angehenden Künstler*innen rauszufiltern. Dabei ist oft gar nicht klar, was eigentlich mit dieser Exzellenz gemeint ist. Darauf kommt Ruth später noch zu sprechen.
Justine: Es wird so verkauft, als ob sich an der Kunsthochschule alle einfach so bewerben können, und es werden dann die mit dem meisten vermeintlichen Talent ausgewählt. Aber da ist vorher ja schon unglaublich viel passiert. Dazu haben Ruth und Saki aus verschiedenen Perspektiven etwas erzählt. Ruth hat berichtet von dem Projekt „Akademie geht in die Schule“, bei dem sie an Schulen gegangen sind, um dort Informationen über das Kunststudium zu streuen.
Ruth Sonderegger: Wir haben dann vor allem in sogenannten Brennpunktschulen zu Mehreren Auskunft gegeben: Was ist ein Kunststudium? Was braucht man dafür? Wir haben Adressen ausgeteilt, die Schüler*innen darauf hingewiesen, dass sie uns auch jederzeit kontaktieren können von dieser Gruppe „Akademie geht in die Schule“. Wir haben Schüler*innen eingeladen zu unserem sogenannten Rundgang. Das ist die Jahresausstellung, wir haben dort Führungen für sie organisiert.
Dann haben wir auch sogenannte Mappen-Beratung gemacht, wo Leute ihre Arbeiten mit denen, die von uns gerade anwesend waren, besprechen konnten. Da konnten wir auch Infos geben wie: Eine Mappe muss gar nicht unbedingt eine Mappe sein, das kann auch ein USB Stick sein, auf dem Fotos drauf sind. Oder das kann eine Schuhschachtel sein, in der verschiedene Dinge drin sind etc.. Das waren kleine Aktionen, bei denen wir wahrscheinlich mindestens so viel gelernt haben wie die Schüler*innen. Es war sehr interessant, nicht zuletzt, weil es auch gezeigt hat, dass es gar nicht so selbstverständlich ist, dass es an allen Schulen Kunstunterricht gibt.
Lisa: Saki hat erzählt, was ihre Überlegungen waren auf dem Weg in Richtung Kulturberuf.
Jacqueline Saki Aslan: Wenn du als junger Mensch in den Kulturbetrieb gehen möchtest, wird ziemlich schnell deutlich: Wer kann sich ein Praktikum leisten? Und es geht ja später weiter, bei Hospitanzen oder Volontariaten. Ich weiß noch, wie ich herausfinden wollte, wie ich Kuratorin werde und dann gesehen habe: Okay, ich müsste eigentlich ein Volontariat machen. Aber dann habe ich gecheckt: ein Volontariat reicht nicht, da gehören schon ein paar Referenzen dazu. Wie holt man sich denn Referenzen? Das sagen die einem ja nie in der Schule. Die Referenzen holst du dir, indem du nochmal extra Zeit investieren kannst, in Erfahrungen, die du dann in der richtigen Galerie oder dem richtigen Theaterhaus gemacht hast. Nicht irgendwo, sondern schon etwas, was einen Namen hat und du warst lang genug dort denn du konntest genug Zeit nebenher investieren. Ich würde sagen, aus meiner Generation, also von Nachkommen von ehemaligen Gastarbeiter*innen, mir wurde nicht beigebracht, dass ich auf dem Weg zu meinem Abschluss oder danach einen Weg gehen kann von vielen Praktika.
Mitgegeben zu bekommen, dass das Ausprobieren und Fehler machen können anerkannt ist, das kannte ich von zu Hause nicht. Und das ist ja auch verständlich. Viele Leute, die eingewandert sind, haben gehört, sie sollen hier alles richtig machen, sonst können sie wieder weggehen. Ich glaube, dass deswegen damals noch sehr stark eine Haltung da war, bloß nichts falsch zu machen und besser auf dem Weg der Sicherheit zu bleiben und kein Risiko einzugehen.
[Musik]
Lisa: Das mit dem Risiko ist eine wichtige Sache, im Dossier kommt es auch vor. Wenn du in einen Beruf gehen willst, bei dem so unsicher ist, wann du das nächste Mal ein Honorar bekommst, dann musst du schon irgendwelche Ressourcen in der Hinterhand haben. Um dich über Wasser zu halten und auch um dir eine experimentelle Praxis leisten zu können, die du aber brauchst um deine Arbeit weiterzuentwickeln.
Ruth hat dazu erzählt, dass Kunststudierende mit Diskriminierungserfahrungen während des Studiums in vielen Fällen Coaching oder Mentoring gebrauchen könnten, um nicht den Mut zu verlieren. Denn im Studium wird klar: Was als Kunst anerkannt wird, das scheint für die Personen oben in der Hierarchie ganz klar zu sein, aber es lässt sich trotzdem offenbar nicht so ganz genau beschreiben.
Kanon und künstlerische Qualität
Ruth Sonderegger: Pierre Bourdieu hat mal gesagt, es reicht nicht, wenn alle Museen keine Eintritte verlangen, denn bestimmte Leute werden nie auf die Idee kommen, in ein Museum zu gehen. Deswegen kann man analog auch für Kunstakademien sagen: Es reicht nicht, sich okay zu verhalten oder möglichst gleich behandelnd tätig zu sein, wenn die Leute mal da sind. Man muss anfangen damit: wie kommen sie überhaupt erstmal dahin? Für die, die dann hinkommen wollen, und das bringt uns wieder zu diesem Exzellenz, Qualität, Talent, was auch immer -Punkt zurück: Je mehr Informationen man über Aufnahmeprüfungen gibt und worauf da geachtet wird, desto besser. So wirkt man auch vereinseitigten Kanons entgegen.
Aus all meinen Überlegungen folgt auch ganz klar: wir brauchen mehr Kanon-Diskussion. Wir müssen unsere Kunstbegriffe viel mehr diskutieren, fragen, woher sie kommen. Und wenn sie Riesenprobleme und große Attraktionen gleichzeitig bergen, dann müssen wir uns diesen Paradoxen stellen und uns nicht immer irgendwie durchschwindeln. Für mich ist der westliche Kunstbegriff ein Riesenparadox: Er will aussortieren und er will regellos sein. Das geht nicht zusammen. Ich würde gerne jemanden kennenlernen, der mir das Rätsel löst. Ich kann es nicht lösen. Und deswegen müssen wir anders damit umgehen.
Habitus im Kulturbetrieb
Justine: Bei der Studie Art.school.differences wurde auch klar, dass es um viel mehr geht als darum, wie deine Kunst konkret aussieht:
Ruth Sonderegger: Sie haben herausgefunden, in Interviews [im Rahmen der Studie], dass die Erwartung im Raum ist, an den drei dort erforschten Kunsthochschulen, dass man sehr aktiver Teil der Klasse ist, sehr viel Zeit dort verbringt. Das ist auch Teil dessen, was einen dann [angeblich] qualifiziert zur guten Künstlerin. Und wer sich dieses Abhängen, das viel Zeit verbringen in einer universitären Konstellation nicht leisten kann, begegnet oft den Vorwürfen: Die Person committed sich nicht so richtig, die macht immer noch zwei, drei Sachen nebenher. Das hat gezeigt: Leute mit Klassismuserfahrung haben extreme Schwierigkeiten mit diesem Performen von Klasse, dem Doing Class. Sie sind da sehr benachteiligt, was zu weiterer Benachteiligung führt.
Lisa: Da kommt auch der Habitus ins Spiel. Also wie ich mich in einem Kontext bewege, wie ich das „performen“ kann, was dort anerkannt ist. In diesem Fall zum Beispiel die Kunststudentin, die sich richtig reinkniet in die Kunst. Und wenn du nicht in einem Umfeld aufgewachsen bist, wo du gelernt hast, wie man sich locker in so einem Kunstkontext bewegt, dann ist das eventuell eher verunsichernd.
Saki bestätigt das und fragt sich, wie sich Diskriminierungserfahrungen auf das eigene Selbstbewusstsein auswirken und auch, wie verschiedene Erfahrungen auf- und abgewertet werden.
Jacqueline Saki Aslan: Mit welchem Gefühl bist du zur Kunstakademie gegangen, um dich vorzustellen? Was löst das in dir aus, wenn ein Kunstprof. vor dir steht und zu dir spricht? Es gibt Leute, die dann klein werden oder eingeschüchtert sind und das in dem Moment gar nicht richtig realisieren. Klassismus kannst du auch körperlich erfahren und es muss dir gar nicht bewusst sein in dem Moment, dass sich gerade etwas wiederholt. Vielleicht etwas, was du auch schon bei deiner Elterngeneration hattest oder bei deiner Großelterngeneration.
Wo ist eigentlich der Stolz in dieser Gesellschaft? Beispielsweise auch darauf, Arbeiter*in zu sein oder mit weniger klarzukommen? Nicht, dass wir das jedem wünschen. Aber warum gibt es hier nicht eine Mentalität oder Haltung, wo man mit Stolz auf Einwanderungs- und Arbeiter*innengeschichte schaut?
Diese Haltung muss man auch erst mal lernen. Sich zutrauen zu sagen: „Ich gehöre zur sogenannten Armuts-Klasse oder zur Arbeiter*innenklasse. Und ich bin aber stolz auf das Wissen, das mir mitgegeben worden ist. Ich bin stolz auf die Skills, die ich hier entwickeln konnte, die Strategien meiner Familie oder meiner Generation.“
[Musik]
Praxisperspektiven: Zugänge schaffen zum Kulturbetrieb
Justine: Diese Ausschlüsse aufgrund von Klasse fangen bereits in der Kindheit an. Bevor es also überhaupt um Ausbildungsmöglichkeiten gehen kann, ist es wichtig, wie junge Menschen mit kultureller Praxis in Berührung kommen. Ich würde sagen, alle haben eine kulturelle Praxis. Aber [wie sie] mit jener Praxis [in Berührung kommen], die dem sogenannten Hochkulturbetrieb angehört, der auch Ausbildungsmöglichkeiten anbietet. Wie kommen sie an die Informationen und Vorbereitungsmöglichkeiten für diese Studiengänge? Da kann Kulturelle Bildung ein sehr wichtiges Tool sein, aber auch Gegenteiliges bewirken, wie Saki erklärt:
Jacqueline Saki Aslan: Ich habe gemerkt, dass die Jugendlichen sofort checken, ob sie gerade geothert werden oder nicht. Also, ob sie gerade exotisiert werden oder nicht, ob von ihnen gerade wieder verlangt wird, irgendeine Ghetto-Gangster-Geschichte mitzubringen in den Jugendclub. Oder ob sie tatsächlich einfach sie sein dürfen. Ob der Rap, den sie hören, auch wahrgenommen wird von der Fachkraft als Musikgut, oder ob das wieder nur verschmäht wird. Auf der anderen Seite habe ich auch mit Theaterpädagog*innen und Theatermacher*innen gesprochen, die ein großes Problem damit hatten, wenn Jugendliche Shakespeare aufführen wollten. Die waren fast schon richtig enttäuscht, weil die Jugendlichen nicht Lust hatten, freiere performative Formate auszuprobieren - nein, sie wollten jetzt Romeo und Julia spielen! Und warum? Sie wollen das jetzt einfach. Sie waren noch nicht auf der Bühne, sie waren vielleicht noch nie im Theater. Sie finden dich aber total toll als Theaterschaffende oder als Theaterpädagogin und sind dann eher irritiert, warum sie sich jetzt nicht an einen Klassiker dran machen dürfen.
Kulturelle Bildung so stricken, dass sie mehr Zugänge bietet? Das könnte zum Beispiel so aussehen, dass man schaut, was hat man sich für Ziele definiert, sich vorgenommen und wie prozessorientiert darf ein Projekt auch sein? Wie viel Zeit darf es bekommen? Wie viel können die Jugendlichen oder Kinder mitsprechen? Wie viel kann von ihnen selbst mit einfließen? Welche Sprachen können gesprochen werden und welche Kritik kann [von ihnen] geäußert werden? Also gibt es auch etwas, was rückgekoppelt ist an die Organisatorinnen, was sie anders machen können?
[Musik]
Klassismus-Erfahrungen in der Workshoppraxis
Lisa: Ich organisiere bei DAC Workshops für Kulturtätige, die ihre eigene Diversitätskompetenz erweitern möchten. Von Saki wollte ich gerne wissen, welche Erfahrungen sie als Workshopleiterin macht. Zu Beispiel mit Leuten im Workshop, die selber eher privilegiert in Bezug auf Klassismus sind oder aber auch, was für Menschen mit eigenen Klassismuserfahrungen dort wichtig ist:
Jacqueline Saki Aslan: Was auffällig ist, ist das Menschen oder Teilnehmer*innen der Workshops, die selber nicht wirklich betroffen sind von Klassismus – involviert ja, aber nicht negativ betroffen im Sinne von einer Benachteiligung oder Diskriminierung, die man selber erfahren hat – ist, dass diese Leute gerne oft weg möchten von dem Autobiografischen [biografischer Auseinandersetzung mit Klassismus und Privilegien], also weg von sich. Es ist auch gar nichts zu sagen gegen eine theoretische Auseinandersetzung. Aber [das ist oft] eine Auseinandersetzung, in die das Eigene nicht reingehört, in die man nicht verstrickt ist.
Die Leute in meinen Workshops, die Klassismus erfahren haben, decken das [dort] oft noch auf. Das ist mitunter ganz schön emotional. Es geht darum, das gut auffangen zu können. Deswegen mache ich mir erst mal ein Bild darüber, ob das eine Gruppe ist, in der so eine Selbstermächtigung stattfinden kann oder nicht. Oft wird von den Leuten gewünscht, mehr ins Gespräch zu gehen mit anderen. Es ist der Wunsch da, Gemeinsamkeiten zu finden oder das aufzuarbeiten zusammen mit anderen. Weil Klassismus nicht so fassbar ist für Viele, geschieht das im gemeinsamen Aufdecken.
Praxisperspektiven: Vernetzung zu Klassismuserfahrung, Empowerment
Lisa: Das Teilen von Klassismus-Erfahrungen in einem Raum, in dem andere ähnliche Erfahrungen gemacht haben, kam in mehreren Interviews als ganz wichtiger Punkt vor.
Meine dritte Interviewpartnerin war Verena Brakonier. Sie ist Arbeiter*innenkind, Tänzerin und Choreografin. In unserem Klassismusdossier ist sie vertreten mit dem Kurzfilm „Hände“ , den sie zusammen mit Jivan Frenster und Greta Granderath gemacht hat, sehr sehenswert. Heute geht es aber um etwas anderes, denn vor über drei Jahren hat sie die Gruppe „Anonyme Arbeiter*innenkinder“ gegründet, die sich regelmäßig trifft, meistens online. In der Gruppe werden eigene Erfahrungen mit Klassismus und Armut im und um den Kulturbetrieb herum besprochen und Strategien ausgetauscht. Für Verena war ein Workshop, den sie besucht hat, der Auslöser, sich mit ihren eigenen Klassismus-Erfahrungen intensiver zu beschäftigen:
Verena Brakonier: Ich habe nach einem Workshop mit Francis Seeck zum Thema Klassismus im Kulturbereich das erste Mal von Klassismus so wirklich erfahren. Was krass ist, weil ich sonst vorher auch antikapitalistisch unterwegs war oder mir klar war, dass das System falsch läuft. Das war ein Aha-Moment und hat ganz viel befreit und auch kreative Energie gegeben. Da war auch gerade das Buch von [Didier] Eribon auf Deutsch erschienen und auch im Kulturbetrieb kam der Begriff [Klassismus] mehr auf, das war als ob ein Knoten geplatzt ist, hatte ich das Gefühl.
In dem Zusammenhang habe ich mich dann weiter informiert und habe beim Impulse Festival einen Stammtisch von Sahar Rahimi besucht. Ich habe gemerkt wie wichtig dieser Austausch ist, wie toll das war, über Erfahrungen zu sprechen, über Scham. Und dann wollte ich nicht auf den nächsten Stammtisch warten, dann kam Corona und alles war eh digital und ich habe einfach auf Facebook eine Veranstaltung erstellt. Das ist jetzt über drei Jahre her und das machen wir jetzt monatlich, mal ist eine Person da, mal sind wir 15, 20 Personen, es ist sehr unterschiedlich.
Was wir viel teilen ist, dass es immer jemand von außen gegeben hat, der inspiriert hat oder der wirklich auch praktisch geholfen hat, der [der] Person dann gesagt hat: „Es gibt doch diese Uni, du hast doch Talent, das kann man machen.“ Dass da jemand von außen war, der das gesehen hat. Und das hat viel mit Glück zu tun, ob du diese Person triffst oder nicht. Aus der eigenen Kraft heraus in den Kulturbetrieb zu kommen ist einfach schwierig. Wenn jemand bei dem Treffen dabei ist und davon erzählt, können die meisten das auch nachvollziehen, alleine dieser Moment, dass man gehört wird.
Also hauptsächlich ist das Teilen von Erfahrung dieser empowernde Moment, dass man merkt, dass man nicht damit alleine ist. Wenn eine Person davon erzählt, dass die Mutter alleinerziehend war und viel gearbeitet hat und dann fünf andere nicken und wir dann Geschichten über unsere alleinerziehenden Mütter teilen, das ist schon stark. Weil das im Alltag und gerade auch im Kulturbetrieb sehr wenig passiert, dass man über die Klassenherkunft spricht. Über Geld [wird auch nicht gesprochen]: ob du erben wirst oder nicht, ob du gerade in der Eigentumswohnung von deinen Eltern wohnst und 500 Euro [mehr] zur Verfügung hast, oder kein Bafög abzahlen musst, das sind einfach die Unterschiede. Wenn wir denken wir sind damit alleine, ist es alles sehr viel schwieriger. Und [es geht auch um] ein geteiltes Schamgefühl, wir sprechen viel über Scham. Auf der anderen Seite, wenn sich plötzlich [beim Treffen] drei Leute aus dem literarischen Bereich treffen und sich danach das Manuskript zuschicken zum Gegenlesen, dann ist schon super viel passiert und das so nebenbei.
Lisa: Das Teilen von Erfahrungen, Netzwerken und Informationen wurden in allen Interviews als sehr wichtig beschrieben. Das Buch, das Verena gerade erwähnt hat, ist „Reise nach Reims“ von Didier Eribon. Wir haben auf der Webseite von Diversity Arts Culture übrigens auch eine Liste mit Literatur, Blogs und Videos zu Klassismus und Klassismuskritik, da ist auch Eribon dabei, für die, die es nachlesen wollen.
Ich habe Verena dann noch gefragt, wie denn eigentlich klassismuskritisches, solidarisches Handeln aussehen könnte:
Verena Brakonier: Solidarität von einer Person die mehr Privilegien hat, könnte vielleicht so aussehen, dass erstmal mehr zugehört wird, also [es] mehr Raum gibt. Oder Angebote machen: „Hey, ich bin gut im Texte schreiben und lesen, soll ich bei dir mal drüber gucken?“, also wirklich aktiv Angebote machen. Das ist auf jeden Fall schon hilfreich. Wenn du in einer Position bist und einen Job vergeben kannst, darauf zu achten und ein Bewusstsein dafür zu haben, dass eine Person [mit Klassismus-Erfahrungen] vielleicht nicht ihren Master an einer bestimmten Uni gemacht hat, aber dafür ein ganz anderes Wissen mitbringt, und andere Qualitäten.
[Musik]
Lisa: Eine Frage, die wir ganz häufig bei Diversity Arts Culture hören, ist: Was sollen denn Kulturinstitutionen oder privilegiertere Personen im Kulturbetrieb machen, damit Klassismus, damit Diskriminierung abgebaut werden können? Unsere Antwort ist dann in der Regel: Dabei hilft euch letztlich keine Checkliste und es gibt auch kein Patentrezept. Es ist notwendig, sich mit diskriminierenden Strukturen zu beschäftigen, zu verstehen, wie und wann sie wirken und was deine eigene Position darin ist.
Wenn ich das zu verstehen beginne, dann tun sich für mich auch Handlungsmöglichkeiten auf. Ich kann dann lernen, meine eigenen Konzepte und Vorannahmen zu überprüfen, so wie in Verenas Beispiel mit dem Lebenslauf, wo ich zwischen den Zeilen lesen muss, um zu verstehen, was die Qualifikationen sind. Oder in Ruths Frage danach, was denn nun „exzellent“ ist und in den Kanon reingehören würde.
Justine: Ich würde noch ergänzen, es ist wichtig, dass dafür auch die Expertise von Menschen genutzt wird, die Klassismus selber erfahren.
Lisa: Für Institutionen hatten die drei [Interviewpartnerinnen] ganz konkrete Forderungen. Ich habe gefragt: "2 years from now, wenn alle notwendigen Mittel und Ressourcen da wären, wenn es keine Hindernisse gäbe, was müsste deiner Meinung nach in den nächsten zwei Jahren angestoßen werden, um die Situation in Bezug auf Klassismus im Kulturbetrieb zu verbessern?"
Visionen und Forderungen, 2 Years From Now
Verena Brakonier: In zwei Jahren von jetzt an wäre es toll, wenn die Kultureinrichtungen kostenlos werden. Alle. Das bedeutet auch mehr Geld für den Kulturbereich, von der Politik, mehr Wertschätzung dafür was der Kulturbereich oder Kunst leisten kann.
Jacqueline Saki Aslan: Wenn wir alle Mittel hätten und es ist alles da, um etwas anzustoßen in den nächsten zwei Jahren, dann würde ich nicht schon wieder das Rad neu erfinden, sondern sich vor allem die anzuschauen, die schon da sind. Also die Leute, die schon seit Jahren Arbeit machen, und sich [mit denen] zusammenzuschließen. Ich bin dafür, die Akteur*innen vor Ort einfach alle mal zu lokalisieren. Wer ist alles da? Was machen die alle? Da ist super viel was man zusammenbringen kann. Für mich würde das heißen: in Bündnisse investieren, Strukturen die schon da sind stärken.
Ruth Sonderegger: Als erster Punkt unentgeltliche Vorbereitungskurse oder -jahre. Als zweiter Mentor*innenprogramme während des Studiums für ausgewählte Studierende. Und drittens Kanon-Reflexion, die Konfrontation westlicher Kunstbegriffe mit ganz anderen Kunstverständnissen, Ästhetikverständnissen, die sicher auch den Begriff der Kunst sprengen.
Abmoderation
Lisa: Da sind einige sehr konkrete Vorschläge dabei! Und wir sind damit leider auch am Ende unserer Zeit angelangt, wir haben heute intensiv mit dem Thema Wege in den Kulturbetrieb beschäftigt und das lässt sich bei der nächsten Gelegenheit, bei dem nächsten Podcast zu Klassismus sicher noch erweitern. Ich möchte mich herzlich bedanken bei unseren drei Interviewpartnerinnen: Ruth Sonderegger, Jacqueline Saki Aslan und Verena Brakonier. Und auch ein großes Dankeschön an die heutige Gastmoderation, Justine Donner. Schön, dass du dabei warst! Hast du noch ein Schlusswort?
Justine: Ja, vielen Dank Lisa, dass ich mit dir an dieser Folge zusammenarbeiten durfte! Ich freu‘ mich, dass wir mit dieser Folge ergänzende Positionen zu Klassismus vorstellen konnten.
Lisa: Beteiligt am Podcast waren außer uns beiden noch unsere Kolleg*innen Neneh Sowe für die Öffentlichkeitsarbeit und Unterstützung bei der redaktionellen Arbeit und mein Kollege Nima Ramezani für die Musik. Ihr findet den gesamten Podcast auch als Transkript auf unserer Webseite.
Wir hoffen, diese erste Folge hat euch gute Impulse gegeben und freuen uns über Feedback an unsere E-Mail info@diversity-arts-culture.berlin! In den nächsten beiden Folgen geht es dann um Rassismus im Kulturbetrieb.
Danke fürs Zuhören und bis zu nächsten Mal! Tschüss!
Justine: Tschüss!
[Outro-Musik]