Aktenschränke mit geöffneten Schubladen, aus denen Zettel fliegen, eine Uhr und ein Stundenglas, Zeitungsartikel, Jahreszahlen

Text: Miriam Schickler

Belina, zierlich, fast klein, die Haarmähne züngelnd wie schwarzes Feuer. Sie könnte einem Bild von Chagall, einer Novelle Sholem Alejchem, einem Gedicht der Lasker-Schüler entsprungen sein. Ebenso auch einer Darstellung vom Untergang des jüdischen Volkes im Osten, etwa Herseys ‚The Wall‘. Mit ihrer rauh-dunkel timbrierten Stimme ist Belina eine der letzten authentischen Interpreten jener Muttersprache, die auf Jiddisch – ein verhalten zärtlicher Wortklang von unsentimentaler Stallwärme – ‚Mame-Loschen‘ heißt.

So beschreibt der Kunstkritiker Heinz Ohff die Sängerin Belina auf der Rückseite der Platte „Es brennt. Jiddish Songs“, die 1965 erschienen ist, ein Jahr nach der Welttournee, auf der sie als „musikalische Diplomatin“ Westdeutschland im Ausland repräsentierte.

 

Heute kennt sie leider kaum noch jemand, doch für einen kurzen Augenblick war Belina, die den Nazis immer wieder durch Flucht entgehen konnte, ein Star im postnazistischen Deutschland.  Aber wie bei vielen anderen jüdischen Künstler*innen stellt sich auch bei ihr die Frage, ob sie als Künstlerin gerade deswegen erfolgreich war, weil diejenigen, die den „Untergang des jüdischen Volkes im Osten“ zum großen Teil zu verantworten hatten, sie zum Sinnbild der Versöhnung mit dem Land der Täter*innen machen wollten.

 

Von Lea-Nina Rodzynek zu Belina

Belina wird am 6. Februar 1925 als Lea-Nina Rodzynek in Sterdyn, einer kleinen Stadt bei Warschau, geboren. Während einer Anhörung im Jahr 1949 zeichnet sie den Weg ihrer Familie im Zweiten Weltkrieg nach: 1940 müssen sie, wie der Rest der jüdischen Bevölkerung aus der Region, in ein Ghetto in Kosow-Lacki ziehen. Im September 1942 versucht die Familie Rodzynek der Deportation durch die Deutschen zu entgehen. Dabei wird die Mutter erschossen. Dem Rest der Familie gelingt es zunächst sich für zwei Monate in einem Wald bei Kosow-Lacki zu verstecken. Später jedoch werden auch der Vater und die Geschwister gefasst und nach Treblinka deportiert.

1945 wird Lea-Nina Rodzynek durch einen Bekannten erfahren, dass ihre gesamte Familie bis auf eine Schwester in Treblinka ermordet worden war.

 

Rodzynek selbst erhält den Pass einer nicht-jüdischen Polin und versucht, Richtung Westen zu fliehen, wird jedoch gefasst und in ein „Polen-Lager“ in Hamburg deportiert. Nachdem sie dort als Jüdin enttarnt wird, wird sie in das Konzentrationslager Fuhlsbüttel gebracht. Auch von dort gelingt ihr die Flucht. Aber auch dieses Mal wird sie, abermals mit falschen Papieren, die sie als nicht-jüdische Polin ausgeben, auf dem Weg nach Lübeck von Deutschen gefasst und bis zur Kapitulation 1945 als polnische Zwangsarbeiterin inhaftiert.

1947 heiratet Rodzynek und zieht mit Ehemann und Sohn nach Frankreich, wo sie die französische Staatsbürgerschaft erhält und eine Ausbildung zur Kosmetikerin macht. Nach der Trennung von ihrem Ehemann geht sie in die Schweiz, um dort zu arbeiten und Gesang zu studieren. In der Schweiz wird sie auch ihre ersten Musikaufnahmen machen. Schon bald zieht es sie zurück nach Frankreich, wohin ein Großteil der Familie Rodzynek gezogen ist und wo sie nun vor allem als Sängerin und Schauspielerin arbeitet. Sie singt auf Hochzeiten und anderen Festen jüdischer Gemeinden und tritt im jüdischen Theater auf. Sie singt vor allem auf Jiddisch. 1958 nimmt sie die Platte „Chants du Ghetto“ (Lieder des Ghettos) auf, auf denen sie Lieder, die in den Ghettos und Konzentrationslagern entstanden und gesungen wurden, interpretiert. Sie fasst es als großes Privileg auf, diese Lieder singen und bekannt machen zu dürfen,1 und reiht sich damit ein in die Riege von Künstler*innen, die sich bemühen, jiddische Kultur in Form von Liedern nicht nur zu bewahren, sondern auch zu popularisieren.

Doch wie überlebten diese Lieder, deren Schöpfer*innen und Interpret*innen oft getötet wurden?

 

Das Sammeln von Ghetto- und Lagerliedern

Motiviert von Institutionen wie dem YIVO, dem Yidishen Visnshaftlekhen Institut (Jüdisches Wissenschaftliches Institut) in Vilnius, gab es bereits vor dem Zweiten Weltkrieg unter Teilen der osteuropäischen jüdischen Bevölkerung ein wachsendes Interesse daran, die eigene jiddische Geschichte und Kultur zu dokumentieren. Dieses Sammeln und Bewahren wurde nach der Shoah natürlich umso dringlicher. Lieder, Melodien und Geschichten jüdischer Geflüchteter, Lagerüberlebender und anderer stellten oft die einzigen Überbleibsel des osteuropäischen jüdischen Lebens dar, und so begannen Sammler*innen diese Scherben einer fast gänzlich zerstörten Kultur aufzulesen. Sie reisten in DP-Lager2 in Deutschland und Italien, schrieben und nahmen Musik auf und schickten sie an Archive in Australien, Israel und den USA.3 Unter den Sammler*innen waren häufig auch Musiker*innen die selbst den Holocaust überlebt hatten. Aleksander Kulisiewicz, der „Barde von Sachsenhausen“, hatte als politischer Häftling etwa fünf Jahre in dem KZ verbracht; dort hatte er nicht nur seine eigenen Lieder geschaffen, sondern auch viele weitere, die von seinen Mitgefangenen gesungen wurden, auswendig gelernt und so bewahrt. Kulisiewicz trug dazu bei, etwa fünfhundert Lieder aus mehr als dreißig verschiedenen Lagern zu sammeln.4

Lin Jaldati, eine niederländische jüdische Künstlerin, die die Internierung in drei Lagern überlebt hatte, begab sich ab 1945 gemeinsam mit ihrem Ehemann, dem deutschen Pianisten Eberhard Rebling, auf mehrere Tourneen durch Europa, während denen sie vor Überlebenden in DP-Lagern spielten und weitere Lieder sammelten und in ihr Repertoire aufnahmen.

Während Lea-Nina Rodzynek als Belina versucht, jiddische Kultur in West-Deutschland zu popularisieren, begeben sich Lin Jaldati und ihre Familie in die DDR, um dort das gleiche zu tun.

 

Belina-Behrend und das deutsche Folk-Revival

Belinas Begehren deckt sich nicht unbedingt mit den kommerziellen Interessen der west-deutschen Plattenproduzenten. Denn die glaubten, dass nicht-deutsche Interpret*innen, die deutsch singen konnten, am besten als exotische Projektionsflächen in der sorgenfreien Schlagerwelt zu vermarkten seien. Und so wird auch Belina 1960 als „Neuentdeckung für den deutschen Schlagermarkt“ nach West-Deutschland geholt, um Aufnahmen zu machen. Im Zuge dessen singt sie unter anderem auch das Lied „Ich weiß, es wird einmal ein Wunder gescheh'n“ ein, das damals wie heute vor allem mit Zarah Leander und dem NS Propagandafilm „Die große Liebe“ in Verbindung gebracht wird. Wegbegleiter*innen von Belina gehen davon aus, dass ihr der Hintergrund des Liedes damals nicht bekannt war, dass es sich für sie wahrscheinlich lediglich um eine weitere „Schnulze“ handelte, an der sie sowieso kein künstlerisches Interesse hatte.

 

1962 lernt Belina den Gitarristen und Komponisten Siegfried Behrend kennen. Behrend, der sich zu diesem Zeitpunkt bereits im internationalen Konzertbetrieb fest etabliert hat, teilt Rodzyneks Leidenschaft für folkloristische Musik, die er sowohl sammelt als auch spielt. Zu Behrends beachtlicher Sammlung internationaler Folklore steuert Belina nun polnische und jiddische Lieder bei und die beiden beginnen zusammen aufzutreten. Ihr erstes Album „Belina-Behrend 24 Songs and One Guitar“ bleibt für 40 Wochen in den deutschen LP-Charts. Sie touren durch Deutschland, treten häufig im deutschen Fernsehen auf und spielen weitere Alben ein. Die beiden profitieren von und tragen gleichzeitig zu der wachsenden Popularität folkloristischer Musik in Deutschland bei.1

 

Inspiriert von einer internationalen Kulturbewegung, die sich für Chanson und Folklore interessiert, befasst sich seit 1960 eine neue Generation junger Menschen mit den eigenen Musik-Traditionen. Wie in den USA experimentieren auch in Westdeutschland vor allem junge linke Intellektuelle mit Liedern als Vehikel für Protest und politischen Dissens. Dementsprechend schwer fällt ihnen der Bezug auf das deutsche Volkslied, das den Nationalsozialist*innen bis vor kurzem noch als ideales Terrain für die Kultivierung völkischer, arischer und nationaler Inhalte diente. Franz Josef Degenhardt beschreibt die Situation 1968 treffend in seinem Lied „Die alten Lieder“: „Tot sind uns‘re Lieder – uns‘re alten Lieder! Lehrer haben sie zerbissen, Kurzbehoste sie verklampft5 , braune Horden totgeschrien, Stiefel in den Dreck gestampft!“6

 

Kristallisationspunkt dieser Bewegung wird das zwischen 1964 und 1969 jährlich stattfindende Waldeck-Festival im Hunsrück, das auch das erste Open-Air-Festival in Deutschland sein wird. Die Organisatoren des Festivals, der Volkssänger Peter Rohland und der Kulturaktivist Diethart Kerbs hoffen, damit „eine deutsche demokratische Volksliedtradition zu erneuern, die sich von dem mit der faschistischen Zeit verbundenen kollektiven Singen unterscheiden sollte.“7 Es ist naheliegend, dass sich diese junge Bewegung besonders für die Lieder derjenigen interessiert, die von den Nationalsozialist*innen verfolgt und ermordet worden waren. So treten auf Waldeck unter anderem die bereits erwähnten Lin Jaldati und Aleksander Kulisiewicz auf. Besonders Kulisiewiczs theatralische Performance seiner „Lieder aus der Hölle“ in gestreifter KZ Häftlingskleidung sorgt für großes Aufsehen unter den Besucher*innen des Festivals. Weitere Überlebende, die nach Waldeck eingeladen werden, sind die afrodeutsche Liedermacherin und Aktivistin Fasia Jansen, die während des Nationalsozialismus „medizinischer“ Experimente unterzogen wurde und Zwangsarbeit leisten musste, sowie das Schnuckenack Reinhardt Quintett unter der Leitung des Sinto Überlebenden Franz „Schnuckenack“ Reinhardt. Heinrich „Hai“ Frankl, der der Shoah durch die Flucht nach Schweden entgehen konnte, tritt mit seiner Partnerin Gunnel Wahlström als Duo „Hai & Topsy“ auf, sie singen jiddische, schwedische und internationale Folklore.

 

Die angebliche Renaissance jiddischer Volksmusik

Im Nachhinein wird die Festivalreihe auf Waldeck auch im Zusammenhang mit einer Renaissance jiddischer Volksmusik“ genannt.8 Doch was genau soll Re-naissance, im Sinne einer Wieder-geburt hier bedeuten?

 

Vor 1945 wurde jiddische Musik in Deutschland fast ausschließlich mit den unliebsamsten aller Jüdinnen*Juden, den sogenannten Ostjuden in Verbindung gebracht. Auch die bürgerlichen deutschen Jüdinnen*Juden suchten sich häufig von jiddischer Kultur, die mit der Armut und den religiösen Traditionen des Schtetl9 verbunden war, zu distanzieren.10 Zwischen der damaligen deutschen Dominanzgesellschaft und jiddischer Kultur gab es vor 1945 dementsprechend noch weniger Berührungspunkte. Lin Jaldati, die aus einer sephardischen11 Familie stammte, und der in Wiesbaden geborene Hai Frankl mussten sich Jiddisch erst beibringen, um die Lieder singen zu können.12 Belina scheint zu dieser Zeit also tatsächlich eine der wenigen, wenn nicht sogar die einzige, Interpretin jiddischer Musik in Deutschland zu sein, die Jiddisch noch im Elternhaus gelernt hat.

 

Insgesamt treten nur wenige jüdische Musiker*innen auf Waldeck auf. Der bereits erwähnte Peter Rohland, einer der Initiatoren der Festival-Reihe, ist mit seinem erfolgreichen Liederprogramm „Der Rebbe zingt“ einer der ersten nicht-jüdischen deutschen Interpreten jiddischer Musik.13 An Rohlands Erfolg sollen später viele weitere nicht-jüdische Musiker*innen anknüpfen. 1979 bringt die Gruppe Zupfgeigenhansl das Album Jiddische Lieder: ‘ch hob gehert sogn heraus, das nicht nur zum Verkaufshit wird, sondern auch großen Einfluss auf die spätere deutsche Klezmer14 Szene haben soll. Doch Zupfgeigenhansl ernten auch Kritik: Die recht willkürlich erscheinende Zusammenstellung der Lieder, die aus den unterschiedlichsten regionalen und zeitlichen Kontexten stammen, gepaart mit einem dichten visuellen Begleitmaterial, das jüdische Menschen ausschließlich als Opfer darstellt, verwischt die sehr spezifischen historischen und sozialen Kontexte jüdischer Erfahrungen, aus denen diese kulturellen Produktionen hervorgingen.15 Es ist vor allem diese Tatsache, die das jiddische Album von Zupfgeigenhansl zu einem problematischen Produkt kultureller Aneignung macht. Obwohl hinter der Produktion des Albums sicherlich eine gute Intention steht, zeigt es auch, dass nach 1945 alte antisemitische Stereotype durch neue, opportune Bilder überdeckt werden, die nach wie vor keinen Dialog auf Augenhöhe mit dem Anderen zulassen.16

 

„Die Versöhnerin Musik“

Während sich die Waldeck-Szene elitär gibt, richtet sich das Duo Belina-Behrend an ein weit gefasstes Publikum. Mit dem jiddischen Repertoire wendet sich Belina in erster Linie an die deutsche Jugend, die durch die Shoah keinerlei Zugang mehr zur jüdischen Kultur habe und der sie deren Vielfalt nahe bringen wolle. Obwohl sie selten öffentlich über ihre Gefühle gegenüber den Deutschen spricht, sagt sie damals selbst, dass sie froh sei, dass ihr Publikum fast ausschließlich aus jungen Menschen bestehe.1 Die Rezeption des Duos in Deutschland wirkt im Nachhinein nicht nur klischeehaft, sondern, vor allem im Angesicht von Belinas Biographie, mitunter beleidigend. Während Behrend als universell geltender „Wunderknabe“ und Virtuose beschrieben wird,17 bleibt Belina stets weiblich, polnisch, jüdisch – eine von der Geschichte gezeichnete Überlebende: „zerbrechlich wie Porzellan, immer wieder von erschrockener Hilflosigkeit, wenn das Rätselwesen Mensch sie unversehens verletzt”, schreibt Heino Eggers, oder: eine Interpretin „deren Kunst nur im Spiegel ihrer Persönlichkeit zu werten ist”.18

 

Es ist genau diese Beschreibung und die Projektionen, die damit einhergehen, die Belina für das postnazistische Deutschland attraktiv machen. Sie sei „zur Sängerin des jüdischen Leides geworden“, aber, und das ist das Wichtige, „sie klagt nicht an, sie resümiert“.19

Mit dem längsten Flugschein der Welt, der über 10 Meter misst, werden Belina und Behrend 1964 vom Goethe Institut auf eine 252 Tage dauernde Tournee mit 150 Konzerten in fast alle Metropolen Europas, Asiens, Afrikas und Amerikas geschickt. Als „musikalische Diplomaten“ sollen sie kulturelle Werbung für Deutschland im Ausland machen. Die Musik, so Behrend, sei „der Wegbereiter“, um gerade mit den Ländern, die Deutschland weniger zugeneigt waren, ins Gespräch zu kommen.1

 

Was Belina über diese Intention hinter der Tournee denkt, wissen wir leider nicht. Aber eines ist klar: Um die junge Bundesrepublik im Ausland zu bewerben, lässt sich wohl kaum eine bessere Person als eine jüdische Holocaust-Überlebende finden. Belina wird zum Zeichen dafür, dass ein fortschrittlicher politischer Wandel stattgefunden hat; mit ihr als offizieller Repräsentantin Deutschlands soll der Bruch mit der antisemitischen Vergangenheit verkündet werden.20

 

Nach 1967 schwindet die Popularität von Belina-Behrend zusehends und sie trennen sich schließlich. Die Welttournee stellt leider nicht nur den Höhepunkt des Duos dar, sondern auch den von Belinas Karriere. Sie wehrt sich dagegen, ins Schlagerbusiness gezogen zu werden, und es wird still um sie. Wie so viele Holocaust-Überlebende hat sie seit langem gesundheitliche Probleme. In Hamburg findet sie ein neues Zuhause, wo sie 2006 sterben wird.

 

Obwohl der Begriff nach wie vor irreführend ist, beginnt die bedeutsamere „Renaissance“ jiddischer Musik, das sogenannte Klezmer-Revival, Ende der 1980er Jahre. Anders als während des Folk-Revivals liegt der Fokus nicht mehr auf dem politischen gegenkulturellen Potential der Musik, sondern auf „emotionaler Heilung“21 – Klezmer wird der Soundtrack für das, was Michal Bodemann das deutsche Gedächtnistheater nennt.22

Und wie im Gedächtnistheater selbst sehen viele Kritiker*innen auch im Klezmer-Revival ein Spektakel, das in erster Linie von Deutschen für Deutsche inszeniert wird. Belina wird daran nicht teilnehmen.

Wie so viele andere rassifizierte Künstler*innen hat Belina sicherlich viele antisemitische Erfahrungen inklusive Versuche der Tokenisierung23 und Instrumentalisierung ausgeblendet, um innerhalb der weiß-christlichen Strukturen der Entertainment-Industrie überleben zu können. Und trotzdem blieb Lea-Nina Rodzynek sich selbst und ihrer Liebe für jiddische Musik doch auch immer treu. Vielleicht ist sie auch genau deshalb heute kaum noch bekannt, weil sie sich trotz des deutschen postnazistischen Begehrens nicht verschlingen oder zum leicht konsumierbaren Opfer stilisieren ließ. Im Gegensatz zu der Zerbrechlichkeit und der Hilflosigkeit, die auf sie projiziert wurden, blieb sie dieselbe Person, die den Nazis immer wieder durch waghalsige Flucht entgehen konnte und die sich trotz alledem noch auf die Bühnen des Landes der Täter*innen stellte und jiddische Lieder sang. 

 

Über die Autorin

Miriam Schickler arbeitet an der Schnittstelle von Klang, Recherche, Performance und Vermittlung. Sie beschäftigt sich mit auditiver Kultur, Fragen der Wissensproduktion durch Klang und Zu/hören und deren Verwicklungen in Macht und Herrschaftsverhältnissen. Ihre künstlerische und gestalterische Praxis entwickelte sich in aktivistischen Kontexten und fußt auf kollektiven Arbeitsweisen. Seit 2021 arbeitet sie als künstlerische Mitarbeiterin an der Kunsthochschule Kassel.

  • 1 a b c d Marc Boettcher: Belina – Music for Peace. Deutschland: MB Film 2021.
  • 2DP steht für Displaced Person, das bedeutet, eine Person, die sich aufgrund von Krieg außerhalb ihres Heimatstaates befindet und nicht ohne Unterstützung zurückkehren kann. In den DP-Lagern, die von den Alliierten betrieben wurden, wurden v.a. Holocaust-Überlebende zeitweise untergebracht.
  • 3David Shneer: Eberhard Rebling, Lin Jaldati, and Yiddish Music in East Germany, 1949–1962. In: Tina Frühauf, Lily E. Hirsch (Hg.): Dislocated Memories. Jews, Music and Postwar German Culture. Oxford University Press 2014. S. 161-186, hier S. 166.
  • 4Barbara Milewski: Remembering the Concentration Camps. Aleksander Kulisiewicz and His Concerts of Prisoners’ Songs in the Federal Republic of Germany. In: Tina Frühauf, Lily E. Hirsch (Hg.): Dislocated Memories. Jews, Music and Postwar German Culture. Oxford University Press 2014. S. 141-160, hier S. 141-142.
  • 5Von „Klampfe“, volkstümlich veraltet für Gitarre; „verklampft“ sozusagen mit der Gitarre kaputt gespielt.
  • 6Claus Schreiner: Schöner Fremder Klang – Wie exotische Musik nach Deutschland kam. Band 2: Samba, Mambo, Bossa & Co. Springer-Verlag GmbH Deutschland 2022, S. 392.
  • 7Barbara Milewski: Remembering the Concentration Camps. Aleksander Kulisiewicz and His Concerts of Prisoners’ Songs in the Federal Republic of Germany. In: Tina Frühauf, Lily E. Hirsch (Hg.): Dislocated Memories. Jews, Music and Postwar German Culture. Oxford University Press 2014. S. 141-160, hier S. 148 (eigene Übersetzung).
  • 8Siehe z. B. Wikipedia Eintrag zu Burg-Waldeck-Festivals: https://de.wikipedia.org/wiki/Burg-Waldeck-Festivals.
  • 9Unter Schtetl werden vor dem Zweiten Weltkrieg osteuropäische Dörfer und Kleinstädte mit hohem jüdischen Bevölkerungsanteil verstanden.
  • 10Rita Ottens und Joel E. Rubin: The Sounds of the Vanishing World: The German Klezmer Movement as Racial Discourse. Max Kade Institute for German-American Studies, University of Wisconsin-Madison 2002, S. 17.
  • 11Als sephardisch werden Jüdinnen*Juden bezeichnet, deren Ahnen im 15. Jahrhundert von der Iberischen Halbinsel vertrieben wurden. Ihre Kultur und Sprache beruhen auf ihrer iberischen Geschichte und unterscheiden sie von den mittel- und osteuropäisch geprägten aschkenasischen Jüdinnen*Juden.
  • 12Michael Birnbaum: Jewish Music, German Musicians: Cultural Appropriation and the Representation of a Minority in the German Klezmer Scene. Leo Baeck Institute Year Book 54, No. 1 (2009): 297–320, hier S. 302.
  • 13Claus Schreiner: Schöner Fremder Klang – Wie exotische Musik nach Deutschland kam. Band 2: Samba, Mambo, Bossa & Co. Springer-Verlag GmbH Deutschland 2022, S. 395.
  • 14Klezmer ist ein jiddisches Wort hebräischen Ursprungs und bedeutet Instrumentalist*in. Die ursprüngliche biblisch-hebräische Verbindung kley-zemer bedeutete wörtlich Gefäße des Gesangs und war eine Bezeichnung für Musikinstrumente. Der jiddische Begriff klezmer (pl. klezmorim) bezeichnete mehrere Jahrhunderte lang die sozio-professionelle Gruppe der rituellen und feierlichen Instrumentalist*innen des jiddischsprachigen Judentums in weiten Teilen Osteuropas, insbesondere in ihrer Rolle als Hochzeitsmusiker*innen. Spätestens seit den 1920er Jahren bezieht sich der Begriff auf den Stil und das Repertoire, die von diesen Musiker*innen und ihren Nachfahr*innen in Nordamerika, Israel und anderswo gespielt werden.
  • 15Michael Birnbaum: Jewish Music, German Musicians: Cultural Appropriation and the Representation of a Minority in the German Klezmer Scene. Leo Baeck Institute Year Book 54, No. 1 (2009): 297–320, hier S. 303.
  • 16Rita Ottens und Joel E. Rubin: The Sounds of the Vanishing World: The German Klezmer Movement as Racial Discourse. Max Kade Institutefor German-American Studies, University of Wisconsin-Madison 2002, S. 6.
  • 17Heino Eggers: Belina – Siegfried Behrend. Mit der Gitarre um die Welt. Berlin: arani Verlags-GmbH 1965, S. 8.
  • 18Ibid. S. 10.
  • 19Ibid. S. 9.
  • 20Vgl. bell hooks: Black Looks. New York: Routledge 2014, S. 370.
  • 21Raysh Weiss: Klezmer in the New Germany: History, Identity, and Memory. In: Jay Howard Geller und Leslie Morris (Hg.) Three-Way Street – Jews, Germans and the Transnational. University of Michigan Press 2016, S. 302-320, hier S. 307.
  • 22z.B. Y. Michal Bodemann: In den Wogen der Erinnerung. Jüdische Existenz in Deutschland. Deutscher Taschenbuch Verlag 2002.
  • 23Eine Erklärung des Begriffs Tokenisierung gibt es z.B. hier: http://missy-magazine.de/blog/2017/12/14/token/