Nicht-binär
[ˈnɪçtbiˌnɛːɐ̯]
Nicht-binär
ist ein Oberbegriff für Geschlechtsidentitäten und Personen, die sich nicht in das herkömmliche, streng zweigeteilte Geschlechtersystem einordnen können oder wollen. Nicht-binär ist eine Selbstbezeichnung und ein Sammelbegriff für Erfahrungen, das eigene Geschlecht nicht (oder nicht eindeutig) als einem der zwei Geschlechter also männlich oder weiblich zugehörig zu erleben. Sowohl endogeschlechtliche1 als auch inter* Personen können nicht-binär sein.
Beispiele für nicht-binäre Geschlechterbezeichnungen sind: genderfluid, genderflux, bigender oder demigender. Genderfluid heißt zum Beispiel, das eigene Geschlecht fließend und sich immer wieder verändernd zu erleben. Der englische Begriff non-binary und die Abwandlung non-binär sind im Deutschen häufig genutzte Synonyme für nicht-binär. Der Begriff ist nicht zu verwechseln mit nb, einer Kurzform für non-black (gemeint sind Nicht-Schwarze-Personen). Um dieses Kürzel aus Schwarzen Communitys nicht zu entfremden, ist enby eine häufig genutzte Kurzform für nicht-binär.
Nicht jede Person, die ihr Geschlecht nicht als entweder männlich oder weiblich erlebt, will den Begriff nicht-binär für sich verwenden. Viele nicht-binäre Personen verstehen sich auch als trans*, einige jedoch nicht. Nicht jede nicht-binäre Person fühlt sich in trans*, inter* und nicht-binären (tin) oder queeren Communitys sicher und/oder ihnen zugehörig.
Nicht-binäre Personen können sich für eine Transition (auf Deutsch Übergang) entscheiden, also zum Beispiel für (bestimmte) soziale, juristische, hormonelle und/oder chirurgische Schritte, um sich wohler zu fühlen. Eine Transition kann z. B. die Verwendung eines neuen Vornamens umfassen, der selbstgewählt ist und als zur eigenen Geschlechtsidentität passend empfunden wird (soziale Transition). Nicht-binäre Personen entscheiden sich häufig, keine Pronomen oder geschlechtsneutrale Pronomen wie es oder Neopronomen wie xier2 für sich zu verwenden. Einigen sind ihre Pronomen egal oder sie nutzen einfachheitshalber zweigeschlechtliche Pronomen, das heißt er oder sie. Es ist individuell sehr unterschiedlich, ob und für welche Transitionsschritte sich eine nicht-binäre Person entscheidet, welche sie umsetzt oder – unter anderem aus finanziellen oder gesundheitlichen Gründen – umsetzen kann.
Nicht-Binarität – so wie sie in deutschsprachigen Ländern und in deren überwiegend weißen queeren Communitys verstanden wird – ist auf die Einführung des englischen Begriffs genderqueer in den 1990ern zurückzuführen. Postmoderne Theorien ermöglichten das Entstehen genderqueerer Communitys in den USA und wurden schnell in deutschsprachigen queeren Community-Zusammenhängen übernommen.
Infolge steigender Sichtbarkeit nicht-binärer Geschlechtsidentitäten und den Forderungen von trans*, inter* und/oder nicht-binären Personen nach Gleichstellung ist in Deutschland seit 2018 und in Österreich seit 2019 ein weiterer Geschlechtseintrag im Personenstandsregister rechtlich zulässig. Jenseits US-amerikanischer und eurozentristischer Zusammenhänge gab es aber bereits lange vor den 1990er Jahren Menschen, die mit nicht-binären Geschlechtsidentitäten lebten. In Indien gibt es beispielsweise für nicht-binäre Geschlechtsidentitäten den Begriff hijra, in indigenen Communitys in Nordamerika den Begriff Two-Spirit. Wobei der englische Sammelbegriff Two-Spirit in den 1990ern von indigenen Personen geschaffen wurde, um nicht-binäre indigene Personen von nicht-indigenen zu unterscheiden. Bei der weltweiten Unterdrückung und teils sogar Vernichtung nicht-binärer, genderqueerer und vieler weiterer Geschlechtsidentitäten hat der europäische Kolonialismus eine zentrale Rolle gespielt. Die im Kolonialismus eingeführten Gesetze sowie koloniale Logiken wirken sich bis heute aus und beeinflussen auch, was im Globalen Norden und in weißen Communities unter Geschlecht und Sexualität verstanden wird.
Nicht-Binarität in Kunst und Kultur
Nicht-binäre Künstler*innen nutzen Kunstformen für sich, um sich so zu zeigen, wie sie wollen. Sie setzen Repräsentationen und zum Teil (psycho-)pathologisierenden Erzählungen über sich etwas entgegen und fördern die Sichtbarkeit nicht-binärer Geschlechtsidentitäten in Kunst und Kultur. Dabei sind nicht-binäre Geschlechtsidentitäten und Repräsentationen schon lange in Kunst und Kultur vertreten. So werden in vielen Kunstformen, sei es Fotografie, Skulptur und Plastik oder Performance-Kunst, Vorstellungen von Körper(-grenzen) und Geschlecht hinterfragt und erweitert. Ein Beispiel hierfür sind die Kunstwerke des*der Künstler*in Lorenza Böttner. In den letzten Jahrzehnten entstandene Selbstbezeichnungen wie nicht-binär, lassen sich jedoch schwer auf die lange Geschichte von Kunst und Kultur übertragen. So können wir zum Beispiel schon verstorbene Künstler*innen nicht nach ihrer Geschlechtsidentität fragen.
Bekannte zeitgenössische nicht-binäre Künstler*innen sind zum Beispiel Komiker*in und Schauspieler*in Mae Martin oder Performance-Künstler*in und Autor*in Alok Vaid-Menon, die in ihren Arbeiten Queerness und ihre nicht-binäre Identität immer wieder thematisieren.
Das zweigeteilte Geschlechtersystem und sein Hinterfragen und Erweitern zeigt sich im Kulturbetrieb aber auch besonders in institutionellen Strukturen. Gibt es Toiletten für nicht-binäre Besuchende und Mitarbeitende? Welche Sprache wird in der internen und externen Kommunikation verwendet? Mit welcher Haltung blicken wir als Institution auf Kunstwerke und Künstler*innen, die Geschlechtergrenzen in Frage gestellt haben? Wie stellen wir uns unser Publikum vor? Als Männer und Frauen?
Und nicht zuletzt: Was hindert uns daran, das zu verändern?
Dieser Text ist ein Gastbeitrag von Krischan Macioszek.
Krischan Macioszek hat einen post-ost Spätaussiedler:innenhintergrund, ist freiberuflich Historiker:in und Expert:in je nach Hyperfokus durch Neurodivergenz zu verschiedenen Themen. Krischan setzt sich seit Jahren in kulturellen Kontexten für eine größere Sichtbarkeit seiner Themenschwerpunkte ein. Zu Krischans konstanten Themenschwerpunkten gehören Geschlecht und Sexualität, Trans und Inter* Themen, Pathologisierungsgeschichte von Trans und Inter*geschlechtlichkeit, Verletzlichkeit, Verbündetenschaft, sexuelle Gesundheit und sexualisierte Gewalt. Krischan ist in der Vermittlungsarbeit des Schwulen Museums und Naturkundemuseums tätig. 2022 erschien Krischans Sammelband KLASSENFAHRT, in dem über Erfahrungserzählungen Klassismus thematisiert wird, und den Krischan zusammen mit Julian Knop herausgegeben hat (Verlag edition assemblage). Krischan will gerne backen lernen und beginnen Science-Fiction-Romane zu lesen.
- 1Endo/endogeschlechtlich/Endogeschlechtlichkeit beschreibt das Geschlecht von Menschen, die nicht inter* sind, d.h. deren Körper sich nach gesellschaftlich-medizinischer Norm als männlich oder weiblich einordnen lassen. Endogeschlechtlichkeit entspricht der Norm und bleibt daher meist unmarkiert. Zudem genießen endo Personen die Privilegien, sich und ihre Körper nicht erklären zu müssen, keinen geschlechtsverändernden Eingriffen ausgesetzt zu sein und auch keine Pathologisierung aufgrund ihres gesellschaftlich-medizinisch zugeschriebenen Geschlechts zu erfahren.
- 2Die xier-Pronomen gehören zu den Pronomen ohne Geschlecht, die Illi Anna Heger seit 2009 entwickelt. Es wird „ksier“ ausgesprochen. Xier hat verschiedene Formen wie z. B. xier, xieser, xiesen, je nachdem, welcher grammatikalische Fall gebraucht wird.