Die Vertrauensstelle Themis wurde 2018 als Reaktion auf sexualisierte Belästigung und Gewalt in der Film-, Fernseh- und Theaterbranche gegründet. Marina Fischer und Hannah Lesser arbeiten als Psychologinnen bei Themis, beraten Betroffene, forschen und machen Präventionsarbeit.

Interview: Eylem Sengezer und Cordula Kehr

 

Seit der Gründung von Themis 2018 gab es im Berliner Kulturbetrieb einige Fälle von sexualisierter Belästigung und von Machtmissbrauch. Gerade Machtmissbrauch ist häufig schwer zu greifen. Was versteht ihr darunter?

 

Marina Fischer: Machtmissbrauch kann erstmal als das Ausnutzen der Tatsache beschrieben werden, dass Ressourcen ungleich verteilt sind. Aus psychosozialer Perspektive kann man sagen, Machtmissbrauch zeigt sich bei Betroffenen meist in Form von Hilflosigkeit, von Ausweglosigkeit und Angst. Wobei das vorliegende Machtgefälle diese Empfindungen verstärken kann. Also je größer das Machtgefälle, desto größer auch das Gefühl der Machtlosigkeit. Bei Themis liegen der Fokus und das Mandat allerdings ganz klar auf Machtmissbrauch in Form von sexualisierter Gewalt.

 

Hannah Lesser: Aus juristischer Perspektive kennen wir keine Definition für Machtmissbrauch. Das, worauf wir zurückgreifen, ist die Definition von sexueller Belästigung am Arbeitsplatz, die im Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz festgehalten ist. Sie besagt, dass sexuelle Belästigung jedes sexualisierte Verhalten ist, das von der betroffenen Person nicht erwünscht ist und ihre Würde verletzt. Dabei finde ich ganz wichtig, dass die Wirkung nicht beabsichtigt sein muss. Niemand kann sich damit herausreden, dass es „nicht so gemeint war“.

 

Marina Fischer: Bei sexueller Belästigung am Arbeitsplatz kommt zur Verletzung der Würde die existenzielle Bedrohung hinzu. Der Machtmissbrauch zeigt sich einerseits in einer sehr intimen Sphäre, andererseits bedroht er aber auch die wirtschaftliche Existenz der Betroffenen.

 

 

Gibt es bestimmte Arbeitsbedingungen im Kulturbetrieb, die Grenzüberschreitungen oder übergriffiges Verhalten begünstigen?

 

Marina Fischer: Im Kulturbetrieb ist die Kommunikationskultur sehr informell, man interagiert in einem Netzwerk, in dem sich alle kennen, und geht nach der Probe ganz selbstverständlich ein Bier trinken. Dazu kommt, dass die Arbeitskultur dereguliert ist, das heißt, es wird Wert daraufgelegt, dass man wenig Vorgaben im Miteinander hat. Das wird oft mit der Freiheit der Kunst oder der Kreativität begründet. Außerdem spielt Körperlichkeit eine große Rolle. Also in den meisten künstlerischen Berufen in der Film- und Theaterbranche ist der Körper als Werkzeug sehr präsent und unterliegt einer bestimmten Bewertung. Das wird auch in der Forschung teilweise als ein Einfallstor für Grenzüberschreitung oder für sehr fluide Grenzen gewertet.

 

Hannah Lesser: Ich finde auch die hohe Identifikation mit dem Beruf im Kulturbetrieb wichtig. Wir hören oft, dass Betroffene alles geben und sich verwirklichen möchten. Deshalb ist es ein Dilemma, wenn Übergriffe passieren. Betroffene befürchten, mit einer Meldung des Übergriffs auch dem künstlerischen Projekt zu schaden, was oft dazu führt, dass sie die Übergriffe dulden. Dazu gibt es die Sorge, die wir leider immer wieder hören, dass niemand die „anstrengende“ oder „schwierige“ Person sein möchte. 

 

Marina Fischer: Wichtig ist auch zu bedenken, dass Grenzüberschreitungen nicht immer offensichtlich und direkt zu erkennen sind, insbesondere da Grenzübertritte in der Kunst oft eine positive Bedeutung haben: Grenzen werden überschritten, um neue künstlerische Erfahrungen zu machen. Aus der Arbeit mit Betroffenen wissen wir, dass es ein Kontinuum der Grenzüberschreitung gibt. Schaffe ich es beispielsweise Nein zu sagen zu halbprivaten Feiern, auf die ich eingeladen werde? Zu unzumutbaren Arbeitszeiten? Oder zu einer bestimmten Wortwahl, mit der ich nicht einverstanden bin? Das erfordert viel Mut. Und die spannende Frage ist, ab welchem Punkt finden Menschen es in Ordnung, eine Grenze zu setzen? Irgendwann auf dem Kontinuum steht nämlich die sexualisierte Gewalt. Für uns ist deshalb wichtig zu überlegen, ob wir schon vorher ansetzen können.

 

Hannah Lesser: Wenn wir Betroffene fragen, was für sie eine klare Grenzüberschreitung ist, sagen die meisten: In dem Moment, in dem es körperlich wird. Sexualisierte Grenzüberschreitungen können aber mit unangemessenen Blicken und sexistischen Sprüchen beginnen. Das ganze Feld der verbalen Grenzüberschreitung muss noch ernster genommen werden. Es gibt eine große Unsicherheit bei Betroffenen, ob etwas tatsächlich sexuelle Belästigung ist:

„Vielleicht war diese Berührung, die den Po gestreift hat, doch nicht so gemeint?“ Oder: „Die Umarmung war fünf Sekunden zu lang, aber ich konnte mich ja noch rauswinden.“ Das sind Situationen, in denen Betroffene ein ungutes Gefühl haben, es ihnen aber nicht leichtfällt, das als klare Grenzüberschreitung zu benennen.

 

 

Das klingt, als ob sich insgesamt die Arbeitsbedingungen und Strukturen im Kulturbereich ändern müssen.

 

Hannah Lesser: Ja, und dazu braucht es viel mehr Räume der Sensibilisierung und des Austausches. Es muss selbstverständlich werden, dass Führungskräfte ihre Pflichten kennen und Mitarbeitende wissen, was ihre Rechte sind.

 

Marina Fischer: In diesen Räumen kann dann eine Sprache gefunden werden für das, was geschieht. Uns wird in den Beratungen ganz oft gespiegelt, wie empowernd es ist, überhaupt sprechen zu dürfen und reflektieren zu können, was passiert. Wie arbeiten wir miteinander? Oft genug ist es noch ein Tabu, diese Fragen zu stellen. Was ist großartig im Kulturbetrieb, was sind die Chancen und was lieben wir an unseren Berufen? Aber auch: Wo sind Stolperfallen und wie können wir darüber sprechen?

 

 

Ist die Kunstfreiheit so eine Stolperfalle?

 

Hannah Lesser: Wir müssen zu einer Haltung des Sowohl-als-Auchs kommen. Wir können die Kunstfreiheit und das, was wir tun, lieben. Trotzdem sind persönlicher Schutz und ein gutes Miteinander wichtig. Es geht nicht darum, das eine gegen das andere auszuspielen.

 

Marina Fischer: Oft entstehen durch bessere Arbeitsbedingungen auch bessere künstlerische Arbeiten. Dazu müssen aber Narrative, die im Kulturbereich sehr stark sind, hinterfragt werden.

 

 

Was hilft in Fällen von sexualisierter Belästigung? Was können beispielsweise Kolleg*innen tun, die missbräuchliches Verhalten beobachten?

 

Hannah Lesser: Es ist als Kolleg*in nicht leicht einzuschreiten, aber es ist unglaublich wichtig. Soziale Unterstützung bei sexualisierter Gewalt und Grenzüberschreitungen ist ein sehr wichtiger Faktor, der dazu beiträgt, wie Betroffene sich hinterher fühlen. Selbst wenn Grenzüberschreitungen stattgefunden haben, macht es einen Unterschied, ob Solidarität im Prozess oder hinterher erfahren wurde oder nicht. Ich möchte alle ermutigen, sich mitverantwortlich zu fühlen und genau hinzugucken, damit Betroffene nicht allein bleiben mit dem Erlebten. Es hilft, Trockenübungen zu machen und sich auf mögliche Grenzüberschreitungen vorzubereiten. Was würde ich tun, wenn ich mitbekomme, dass meine Kollegin auf eine seltsame Art angesprochen wird? Wenn sie angefasst wird und das nicht möchte? Wenn ich unsicher bin, was passiert?

In den seltensten Fällen ist es eindeutig, was passiert. Deswegen ist es gut, einzugreifen und nachzufragen. Es hilft, dafür ein paar Sätze bereit zu haben, die überhaupt nicht eloquent oder witzig sein müssen: Darf ich einmal dazwischentreten? Brauchst du Hilfe?

 

Marina Fischer: Eingreifen kann auch Selbstfürsorge sein. Wenn ich zum Beispiel merke, hier wird mit einer anderen Person in einem respektlosen Ton gesprochen, kann ich die Entscheidung treffen, das anzusprechen. Schließlich möchte ich nicht in einem Kontext arbeiten, in dem das praktiziert wird. Wir erleben in den Beratungen, dass es manchmal die Sorge gibt, selbst übergriffig zu handeln. In dem Moment aber, in dem ich merke, für mich ist das hier gerade nicht in Ordnung, übernehme ich erst mal die Verantwortung für mich. Es ist auch nicht schlimm, wenn man es nicht schafft, das unmittelbar in der Situation anzusprechen. Man kann auch später darauf zurückkommen: „Mich beschäftigt das gerade noch, was hier gestern auf der Probe passiert ist, das war für mich unangenehm.“

Manchmal wollen Menschen aber auch so sehr unterstützen, dass sie dadurch Druck auf die betroffene Person ausüben. Die eigene Hilflosigkeit führt dann dazu, dass sie es nicht aushalten, mit betroffen zu sein. Wir raten deswegen immer dazu, auf die Wünsche der betroffenen Person zu achten. Wenn es schwer auszuhalten ist, dass die Person gerade nichts tun möchte, muss man sich selbst Unterstützung holen.

 

Hannah Lesser: Hilfe bedeutet nicht, jemanden zu retten oder sofort alle Strukturen umwälzen zu müssen. Hilfe kann auch bedeuten, den betroffenen Personen Informationen an die Hand zu geben, Anlaufstellen zu recherchieren oder ihnen zuzuhören. Und dann den Betroffenen zu signalisieren, dass sie das Ruder selbst in der Hand haben.

 

 

Ihr habt 2020 eure Studie „Grenzen der Grenzenlosigkeit. Machtstrukturen, sexuelle Belästigung und Gewalt in der Film-, Fernseh- und Bühnenbranche“ veröffentlicht. Wie hat die Branche auf eure Studie reagiert?

 

Marina Fischer: Mein Eindruck ist, dass sehr viel in Bewegung ist. Das ist auch daran abzulesen, dass sich bei der Themis vermehrt Arbeitgeber*innen melden und fragen, wie sie einen guten Verhaltenskodex schreiben können. Die Sensibilität ist enorm gestiegen und die Sprache entwickelt sich langsam. Das Alphabet der Grenzziehung wird gerade eingeführt und die ersten kleinen Worte, kleinen Sätze bilden sich. Aber ich würde auch sagen, dass da noch sehr viel Luft nach oben ist. Gerade in Hinblick auf die Furcht davor, zu sehr reguliert und dadurch unkreativ zu werden.

 

Hannah Lesser: Manche Institutionen haben Corona genutzt, um diese Themen anzugehen. Wir haben viele Präventionsanfragen bekommen. Ich finde, das ist eine klare Reaktion.

 

Marina Fischer: Ich habe in den letzten Monaten immer wieder von Kunst- und Musikhochschulen gehört, die ganz konkrete Präventionsmaßnahmen in ihre Curricula integrieren wollen. Das ist eine sehr gute Entwicklung, weil das genau dieses Problem der Vulnerabilität von besonders jungen, besonders unerfahrenen Personen angeht.

 

Hannah Lesser: Ende Oktober habe ich mit einer Kollegin einen Workshop für Studierende an einer Kunsthochschule gegeben. Ich hatte das Gefühl, hier sitzt gerade die Generation, die diese schwierigen Glaubenssätze – „So ist eben das Business und ich muss einfach durchhalten“ – nicht einfach übernehmen wird. Das hat mich sehr glücklich gemacht!

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