Symbole für soziales Kapital wie Stammbaum, Vitamin B-Tablette und eine Karriereleiter

erweiterte Bildbeschreibung: Verschiedene Menschen versuchen auf einer Treppe nach oben zu kommen. Auf der höchsten Stufe sitzt ein weißer Mann, der einer weißen Frau mit einem Glas Sekt zuprostet, die noch am Treppensteigen ist. Weiter unten auf der Treppe hat ein Mann of Colour es gerade wenige Stufen nach oben geschafft, eine Frau of Colour versucht hinter ihm auch auf die Treppe zu kommen. Die Menschen helfen sich teilweise, um auf der Treppe weiter nach oben zu steigen. Durch die Treppe geht ein Riss. Auf der abgebrochenen Seite der Treppe stehen ein weißer Mann im Blaumann und eine Frau of Colour mit einem Besen. Sie haben keine Möglichkeit, auf der Treppe nach oben zu steigen.

Liebe Interessierte,

 

die Einsendungen zu unserem Klassismus-Dossier haben uns gezeigt: Es gibt sehr unterschiedliche Definitionen oder Verständnisse von Klassismus, Prekarisierung und ökonomischer Ausgrenzung. Es ist nicht einfach, Klassismus zu definieren. Die prekären Arbeitsbedingungen im Kulturbereich sind real und betreffen viele Menschen. Viele Initiativen thematisieren dies und versuchen, die Aufmerksamkeit der politischen Entscheidungsträger*innen auf Missstände zu lenken.1 Allerdings werden gesellschaftliche Ausbeutungsverhältnisse und eigenes Kapital im öffentlichen Diskurs über die Arbeitsbedingungen im Kulturbetrieb nicht immer mitgedacht: Zu Beginn der Coronakrise gab es beispielsweise zahlreiche Forderungen der freien Kulturszene nach Soforthilfe, um nicht in Hartz IV (oder zukünftig Bürgergeld) abzurutschen. Die Frage danach, wieso Hartz IV denn nicht für alle auch außerhalb des Kulturbereichs unzumutbar ist, spielte keine erkennbare Rolle. Dabei wäre dies ein guter Moment gewesen, sich etwa Forderungen zum bedingungslosen Grundeinkommen anzuschließen und einen gesamtgesellschaftlichen Wandel anzuregen. Stattdessen fand eine Abgrenzung nach „unten“, zur Armutsklasse statt: Künstler*innen sind zwar „brotlos“, aber wissen es, auf ihren Wert zu pochen. Passenderweise tauchten in diesen Forderungen nach Soforthilfe die technischen oder nicht-akademisierten Berufe nicht auf, wie u.a. Francis Seeck bereits festgestellt hat. Denn auch oder sogar vielmehr insbesondere innerhalb des Kulturbetriebs gibt es klassistische Hierarchien, die sich ökonomisch, aber auch symbolisch manifestieren: denn selbst wenn künstlerische Berufe in Bezug auf das Einkommen oftmals prekär sind, sind sie anerkannter, sichtbarer und gelten als relevanter als die nicht-künstlerischen. Und auch bei diesen wird unterschieden, in welchen Berufen das Personal vermeintlich ersetzbarer ist und die somit an externe Dienstleister ausgelagert werden können. In der Regel trifft dies vor allem das Aufsichtspersonal in Museen, Personal an den Garderoben und die Reinigungskräfte. So werden tarifliche Standards sowie gesicherte Arbeitsverhältnisse umgangen. Auch Kultureinrichtungen unterliegen kapitalistischen Logiken, müssen Einnahmen generieren und effizient wirtschaften – am wenigsten möchte man dafür bei den künstlerischen Inhalten einsparen. Für aus öffentlichen Geldern finanzierte Produktionen wurde in Berlin die Mindestlohnklausel als Bedingung für externe Dienstleistungen eingeführt, immerhin.

 

Ich packe meinen Rucksack …

Der Klassismus-Begriff wird vor allen Dingen dafür kritisiert, dass er statt auf Ausbeutungsverhältnisse zu stark auf Aufstiegschancen und die Ebene der Verteilung fokussiere. Für den Kulturbetrieb bedeutet das übersetzt, dass angeblich lediglich auf die Zugänge zu Ressourcen wie Bildung, Finanzierungen und Jobs für Kulturschaffende und Künstler*innen geachtet werde. Unbedacht bleibt oftmals, wer genau den Kulturbetrieb am Laufen hält und an der Produktion mitwirkt, wer genau unter welchen Bedingungen ausgebeutet wird und wer vielleicht eher eine Wahl hatte, das Risiko der Prekarität einzugehen. Und in der Tat zeigt sich das in der Klassismus-Debatte sehr häufig. Auch unter der Vielzahl der Einreichungen für dieses Dossier bildet sich dies ab. Oft ging es in den Einreichungen um den eigenen sozialen Aufstieg und die dabei erfahrenen Barrieren und/oder um die eigene prekäre Situation im Kunst- und Kulturbetrieb.

Was fehlt? Wir konnten zum Beispiel an vielen Stellen eine fehlende Begriffsschärfe hinsichtlich der eigenen Herkunftsklasse beobachten, was auch im derzeitigen Klassismus-Diskurs wahrzunehmen ist. So sind Klassenverhältnisse nicht unabhängig von Zeit, Ort, Status und politischen Gegebenheiten zu betrachten. Nicht-akademische weiße Kleinbürgerlichkeit bedeutete in Westdeutschland bis weit in die 1990er ökonomische Stabilität und damit die Möglichkeit zum sozialen Aufstieg für die Kinder. In Ostdeutschland erlebten sehr viele Menschen nach dem Mauerfall einen sozio-ökonomischen Abstieg. Nachfahren von Arbeitsmigrant*innen aus dem EU-Ausland hingegen sahen sich bis zum Jahr 2000 mit einem Staatsbürgerschaftsgesetz konfrontiert, das dem Abstammungsprinzip unterlag. Und der sogenannte Asylkompromiss 1993 verschärfte die prekären Lebensbedingungen von Geflüchteten. So ist die Klassenreise insbesondere im Kulturbetrieb nicht zu denken ohne den unsichtbaren Rucksack (Invisible Knapsack) der Privilegien, den Peggy McIntosh beschreibt, der uns ganz unterschiedliche Möglichkeiten eröffnet, den Kulturbereich zu navigieren.2

 

Um also Klassismus innerhalb der Kulturszene zu verstehen und zu bekämpfen, braucht es solidarische Bündnisse aller Klassen innerhalb der Szene und zudem ein Bewusstsein für die verschiedenen Ebenen von klassistischer Diskriminierung und Ausbeutung.

 

„Ist das (wirklich) Kunst?“

Auch auffällig ist, dass im Kulturbetrieb, anstatt von Klassenunterschieden zu sprechen, sozio-ökonomische Ungleichheitsverhältnisse oftmals als „Milieu-Problem“ verhandelt und mit „Kulturferne“ und anderen defizitären Eigenschaften gleichsetzt werden. Mit Vermittlungsangeboten soll dann Menschen aus diesen „Milieus“ Kultur nähergebracht werden. Einem solchem Ansatz liegt ein (eurozentrisches) Hochkulturverständnis zugrunde, das sich stark durch Abgrenzung und Abwertung definiert. Es scheint unausgesprochene Codes zu geben, wann Kunst zur Kunst wird. Wann ist ein Ort eine Kulturinstitution und hat Anspruch auf öffentliche Finanzierung? Wer braucht einen Kunsthochschulabschluss in seinem Portfolio und wer kann sich auch als Autodidakt im Kulturbetrieb durchsetzen? Wer macht Kunst im öffentlichen Raum und wer lediglich Straßenmusik?

 

Die Kulturelle Bildung hat in der Regel den selbstgesetzten Auftrag oder die Vorgabe von Förderern, insbesondere „sozial schwachen“ Kindern und Jugendlichen kulturelle Praxis zu ermöglichen. Dabei wird in der Regel nicht reflektiert, dass diese ihre eigene kulturelle Praxis besitzen. Auch das eigene Hochkulturverständnis wird nicht als eine unterdrückende Praxis kritisch hinterfragt. Außerdem ist es nicht nachhaltig, dass die meisten Projekte aufgrund der Förderlogiken nur temporär sind. Die Situation strukturell benachteiligter junger Menschen verbessert sich somit nicht.

 

Solidarität in den Strukturen schaffen!

Kunst- und Kulturinstitutionen und die Menschen, die dort arbeiten, verstehen sich oft als interessiert an gesellschaftlichen Diskursen und versuchen, Debatten um Ungerechtigkeit und Diskriminierung in ihrem Programm aufzugreifen. Gleichzeitig findet jedoch zu wenig Analyse der eigenen Strukturen statt. Mit unsicheren Beschäftigungsverhältnissen und un- oder unterbezahlten Praktika leisten Kulturinstitutionen einen Beitrag dazu, dass sich eher Kulturinteressierte den Weg in die professionelle Praxis zutrauen, die finanziell einigermaßen abgesichert sind, etwa durch die Herkunftsfamilie oder Partner*innenschaft. Transparente und faire Bezahlung im Kulturbetrieb wirkt noch immer wie eine unmögliche Forderung. Dabei wäre dies ein erster Schritt zu einer gerechteren Struktur, die auch durchlässiger wird für Menschen, die nicht aus einem vom bildungsbürgerlichen deutschen Kanon geprägten Elternhaus kommen. Dies wäre wiederum wichtig für eine lang überfällige Veränderung und Erweiterung der Programme und Perspektiven, die die (von uns allen mit finanzierten) Kulturinstitutionen repräsentieren. Eine Wertschätzung aller im Kulturbereich Tätigen, auch der Menschen, die die Garderobe betreuen, die Kunst beaufsichtigen, das Gebäude sauber halten, durch ein verbindliches Anstellungsverhältnis und einen Beziehungsaufbau zum Rest der Belegschaft wäre ein weiterer Schritt in die richtige Richtung.

 

Wer wieviel Ressourcen bekommt und die eigenen künstlerischen Visionen umsetzen kann, hängt maßgeblich davon ab, wie Förderungen vergeben werden und nach welchen Kriterien ausgewählt wird. Die meisten Förderverfahren sind sehr voraussetzungsreich, nicht barrierearm, und verlangen den Künstler*innen viel Durchhaltevermögen, Kenntnisse und Erfahrung ab, um früher oder später mit einer Bewerbung erfolgreich zu sein. Ähnliches gilt für Aufnahmeverfahren an Kunsthochschulen: Ohne einen Mappenvorbereitungskurs oder anderweitige professionelle Unterstützung und das Selbstbewusstsein, das sich daraus ergibt, ist ein Studienplatz schwer zu erlangen.

 

Was muss sich ändern?

Bisher fehlen Daten und Studien dazu, wie sich Klassismus im Kulturbetrieb auswirkt. Es ist, wie gesagt, nicht immer leicht, Klassismus klar zu definieren, wenn etwa nicht nur mit der Vergleichsgröße Einkommen gearbeitet werden soll, und wenn es das Ziel ist, sozio-ökonomische Benachteiligung intersektional abzubilden. Zahlen wären allerdings ein wichtiger Weckruf, denn bisher gelingt es eher selten, die Barrieren auf dem Weg in den Kulturbetrieb so zu benennen, dass sie als strukturelles Problem wahrgenommen werden. Solange das Märchen „Kunst kommt von Können“ (also: wer begabt ist, wird es auch zu etwas bringen) geglaubt wird, wird sich strukturell wenig ändern. Durch die jetzigen Praxen und Förderpolitiken werden Ausschlussmechanismen weiter aufrechterhalten und viele begabte Menschen können ihre Visionen und Ideen nicht künstlerisch umsetzen, weil ihnen unter anderem Mittel, Handwerkszeug und Unterstützung fehlen.

 

Weitere Möglichkeiten und Forderungen zum Abbau von Klassismus können sein: Im Sinne von Positiven Maßnahmen (affirmative action) öffentlich geförderte Programme anzubieten, die von Diskriminierung betroffene Akteur*innen dabei unterstützen, den Kulturbetrieb souveräner zu navigieren.

 

Zu gerechteren Arbeitsbedingungen können auch standardisierte Gehaltsvorgaben beitragen (wie Tarife, wobei diese in der Regel auch einer klassistischen Hierarchisierung nach Bildungsabschluss unterliegen), unterstützt durch verbindliche Fortbildungen zu macht- und diskriminierungskritischem Arbeiten. Dazu gehören auch verpflichtende Vorgaben für Institutionen, etwa Antidiskriminierungsstrukturen wie eine Vertrauensstelle oder Awareness-Gruppe einzurichten.

 

Debatte im Dossier – und darüber hinaus

Mit diesem Dossier haben wir 12 Beiträge ausgewählt, die aus unserer Sicht die hier umrissenen Ebenen aus unterschiedlichen Perspektiven thematisieren. Wir wollten einen Beitrag zu einer bereits bestehenden Debatte leisten und den Kulturbetrieb, dessen Grundgerüst u.a. auf Klassismus gebaut ist, kritisch beleuchten. So soll ein anderes Denken darüber angestoßen werden, wie Institutionen funktionieren und wie die jeweils eigene künstlerische Praxis gestaltet wird. Dabei verstehen wir Klassismus als eine Ideologie, die dazu dient, vorhandene Klassenverhältnisse aufrechtzuerhalten. Das Dossier ist gedacht als Auftakt und ist noch keineswegs vollständig. Folgende Leerstellen sehen wir aktuell in der Debatte: nicht-künstlerische Perspektiven auf den und aus dem Kulturbetrieb, Kunst in Behindertenwerkstätten, genauere Betrachtungen und Unterscheidungen von Klassenhintergründen, strukturelle Analysen von Zugangsbarrieren zu künstlerischen und kulturwissenschaftlichen Studiengängen, Statusverlust und Entwertung des symbolischen Kapitals durch Flucht und Asyl, kritische Analysen von Förderlogiken, Vereinnahmung von Praktiken oder Ästhetiken der Armutsklasse, und generell Verschränkungen mit anderen Diskriminierungsformen. Das Thema wird weiterhin eine zentrale Rolle für die Arbeit unserer beiden Bereiche spielen.

 

Wir als Team kommen aus der Kulturellen Praxis, der Politischen oder Kulturellen Bildung und sind derzeit fest angestellt bei der Stiftung für Kulturelle Weiterbildung und Kulturberatung. Auf unseren beruflichen und privaten Wegen haben wir aufgrund unserer unterschiedlichen gesellschaftlichen Positionierungen hinsichtlich Klassismus, Rassismus, Gender und Ableismus unterschiedliche privilegierende und deprivilegierende Erfahrungen gemacht, die unseren gemeinsamen Blick auf Klassismus im Kulturbetrieb geprägt haben. Wichtig war uns daher in der gemeinsamen Zusammenarbeit, die Auswirkungen von sozio-ökonomischen Benachteiligungen ausgehend von mehrfachdiskriminierten Perspektiven und intersektionalen Analysen zu verstehen. Darüber hinaus sollten der bisherige Stand der Auseinandersetzung um Klassismus und bisherige Errungenschaften einbezogen werden.

 

Wir haben uns zur Konzeption der Ausschreibung von Francis Seeck beraten lassen, um unsere Perspektiven zu ergänzen. Francis Seeck beschäftigt sich seit vielen Jahren mit Klassismus aus intersektionaler Perspektive und hat gemeinsam mit Brigitte Theißl den Sammelband „Solidarisch gegen Klassismus – organisieren, intervenieren, umverteilen“ herausgegeben und ist auch im Dossier vertreten.

 

An dieser Stelle möchten wir auf eine kleine Auswahl an Wissensorten, Seiten oder Netzwerken verweisen, die sich mit Klassismus beschäftigen:

 

  • Class Matters ist ein Empowerment-Blog für Leute die Klassismus erfahren (haben).
  • kikk – klassismus ist keine kunstepoche ist eine Bildungsbande und Politgruppe, die Workshops, Vorträge, Beratung und Organizing rund um's Thema Klasse und Klassismus für Berlin und darüber hinaus veranstaltet.
  • Institut für Klassismusforschung ist eine Gruppe von Akademiker*innen aus der Armuts- und Arbeiter*innenklasse mit dem Forschungsschwerpunkt Klassismus.
  • Class matters (immer noch) ist eine künstlerische Recherche zum Thema Klassismus.
  • Check your Habitus ist ein vielstimmiges Poesieprojekt zum Thema „Habitus und Milieuwechsel“
  • Museum as Muck ist ein unterstützendes Netzwerk von Museumsakteur*innen aus der Arbeiter*innenklasse, die Veränderungen in der Branche anstreben. Das Netzwerk ist in Großbritannien und Irland aktiv (englischsprachig).

 

Wir wünschen viel Spaß beim Lesen!

 

Bahareh Sharifi und Lisa Scheibner von Diversity Arts Culture

Justine Donner von kultur_formen

  • 1Beispielsweise bbk Berlin, art but fair, ensemble-netzwerk oder LAFT Berlin, die sich für Honoraruntergrenzen und für strukturelle Förderung von Künstler*innen einsetzen.
  • 2Für deutschsprachige Beiträge zum Thema Privilegien: siehe „Arbeitskoffer zum Selbststudium“: diversity-arts-culture.berlin/magazin/arbeitskoffer