Autorinnen Caroline Huth und Anne Rieger |  Beratende Mitarbeit Angela Alves

Einführung

Mit der Unterzeichnung der UN-Behindertenrechtskonvention hat sich Deutschland 2009 – über das Grundgesetz und das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz hinaus – nochmals explizit zu der gleichberechtigten Teilhabe von Menschen mit Behinderung verpflichtet. Mit Artikel 30 der Konvention gilt dies auch für das kulturelle Leben und nimmt damit alle öffentlich-geförderten Kulturorganisationen in die Pflicht.

 

Artikel 30

Teilhabe am kulturellen Leben sowie an Erholung, Freizeit und Sport

(1) Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen, gleichberechtigt mit anderen am kulturellen Leben teilzunehmen, und treffen alle geeigneten Maßnahmen, um sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen

  • a. Zugang zu kulturellem Material in zugänglichen Formaten haben;
  • b. Zugang zu Fernsehprogrammen, Filmen, Theatervorstellungen und anderen kulturellen Aktivitäten in zugänglichen Formaten haben;
  • c. Zugang zu Orten kultureller Darbietungen oder Dienstleistungen, wie Theatern, Museen, Kinos, Bibliotheken und Tourismusdiensten, sowie, so weit wie möglich, zu Denkmälern und Stätten von nationaler kultureller Bedeutung haben.

(Quelle: Bundesbeauftragte der Bundesregierung für die Belange von Menschen mit Behinderungen)

 

Dieses Orientierungspapier zeigt am Beispiel der Relaxed Performances, wie Zugänglichkeit und Barrierefreiheit im Theater umgesetzt werden können. Es bietet Vorschläge zur Gestaltung von Relaxed Performances, die unter Abwägung der individuellen Möglichkeiten und Ressourcen innerhalb der eigenen Theaterpraxis umgesetzt werden können. Viele Kulturinstitutionen unterstützen die Verpflichtung der UN-Behindertenrechtskonvention, stoßen jedoch bei der Umsetzung schnell an ihre Grenzen. Dieser Leitfaden möchte dafür sensibilisieren, dass die Öffnung der eigenen Institution oft schon mit kleinen Schritten und ohne großen finanziellen Aufwand möglich ist. Auch wenn Kosten für barrierefreie Angebote natürlich in die langfristige finanzielle Planung aufgenommen werden sollten.

Was sind Relaxed Performances?

Relaxed Performances richten sich an ein Publikum, das von einer entspannteren Theater- und Veranstaltungsatmosphäre profitiert. Sie wollen eine Willkommensatmosphäre für Zuschauer*innen schaffen, die beispielsweise unkontrollierbare Geräusche oder Bewegungen machen oder die durch die strengen Konventionen in Aufführungsräumen ausgeschlossen werden: zum Beispiel Menschen im autistischen Spektrum, Menschen mit Tourette, mit Lernschwierigkeiten oder chronischen Schmerzen. Aber auch schlicht Menschen, die sich in einer inklusiveren Umgebung wohlfühlen.

 

Ursprünglich sind Relaxed Performances von der Autismus-Community entwickelt worden, die für sich nach Wegen gesucht hat, um Kino- und Theatervorstellungen barriereärmer zu gestalten. Relaxed Performances haben in den letzten Jahren vor allem im anglophonen Sprachraum stark zugenommen und sich dort zu einem innovativen Theaterformat entwickelt. Die deutsche Übersetzung „barrierefreie Vorstellung“, die manchmal im Theaterbetrieb bereits verwendet wird, ist allerdings nicht so treffend wie der englische Begriff „Relaxed Performance“. Das Wort „relaxed“, also „entspannt“, fasst das Ziel der Performance besser:

 

Es geht darum, die konventionelle Theateretikette, die Menschen mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen an vielen Stellen ausschließt, so anzupassen, dass Menschen mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen in einer entspannteren Atmosphäre in den Genuss von Vorstellungen kommen.

 

Unter dem deutschen Begriff „barrierefreie Vorstellung“ wird noch zu häufig die bloße Beseitigung von physischen Barrieren verstanden. Dabei haben Relaxed Performances einen viel umfassenderen Ansatz, Theatervorstellungen aller Genre zugänglich zu machen.

 

Um eine Performance „relaxed“ zu gestalten, müssen zwei Bereiche beziehungsweise Fragestellungen im Fokus stehen:

  • Die barrierearme Gestaltung der Spielstätte und die Einrichtung des Zuschauerraums
  • Die Anpassung der Produktion

 

Grundsätzlich ist jedoch ein Aspekt essenziell: die zeitnahe, transparente interne und externe Kommunikation.

Barrierearme Gestaltung der Spielstätte und des Zuschauerraums

Nicht alle Aspekte einer Relaxed Performance können immer berücksichtigt werden. Auch eine Vorstellung mit visuellen oder auditiven Triggern kann eine Relaxed Performance sein. Doch sollte das, was angeboten werden kann, dem Publikum immer zeitnah und transparent mitgeteilt werden. Denn, wie bereits erwähnt, weiß dieses selbst am besten, wann ein Angebot „relaxed“ und barrierearm ist. Ein Label beispielsweise, das Relaxed Performances im Programm kennzeichnet, ist nur dann hilfreich, wenn aufgeschlüsselt wird, was das Theater bei seinen Relaxed Performances konkret anbietet.

Die Anpassung der Produktion

Bei Relaxed Performances werden Inszenierungen verändert, damit Zuschauer*innen mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen einen Raum selbstverständlich einnehmen können, ohne durch ihren Körper oder ihre Art und Weise, Kunst zu rezipieren, ausgeschlossen zu sein beziehungsweise am Theaterbesuch gehindert zu werden. 

Der Frage, welche Veränderungen an einer Inszenierung vorgenommen werden können, geht oft die Diskussion voraus, welche Inszenierungen im Programm sich für eine Relaxed Performance eignen. Häufig werden erste Versuche im Kinder- und Jugendtheater durchgeführt. Prinzipiell gibt es aber kein Programm, das nicht für Zuschauer*innen mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen geeignet wäre. Die Verpflichtung, kulturelle Teilhabe zu gewährleisten, die in der UN-Behindertenrechtskonvention formuliert ist, unterscheidet nicht nach Genres oder Altersgruppen.

Auch bei der Anpassung der Produktion ist die zeitnahe und transparente Kommunikation essenziell, da die Produktionsabläufe neben den Künstler*innen auch viele Abteilungen im Haus betreffen.

Evaluation und Ausblick

Relaxed Performances bieten die Möglichkeit, ein Haus relativ schnell und kostengünstig zugänglicher zu machen. Eine grundlegende Auseinandersetzung damit, welche Barrieren für Menschen mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen bestehen, ist jedoch die Voraussetzung für jeden Öffnungsprozess. Menschen mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen machen im Alltag in den verschiedensten Lebensbereichen diskriminierende Erfahrungen. Es muss darum das Ziel sein, eine Wiederholung dieser Erfahrungen bei einem Theaterbesuch zu vermeiden, vor allem wenn Angebote als „relaxed“ oder barrierearm angekündigt werden. Ein Haus sollte nicht anhand der schlechten Erfahrungen von Menschen mit Behinderungen oder chronischen Erkrankungen lernen, sondern durch intensive gute Vorbereitung. Folgende Fragen können sich Institutionen vorab stellen:

 

  • Was kann sofort am Haus umgesetzt werden? (zum Beispiel transparente Kommunikation von sensorischen Reizen, barrierearmen Angeboten etc. auf der Webseite)
  • Welche Kapazitäten hat das Haus? Was kann mit hoher Qualität umgesetzt werden?
  • Sind die betroffenen Abteilungen (Künstlerische Leitung, Technik, Öffentlichkeitsarbeit, Abenddienst etc.) ausreichend informiert und sensibilisiert?
  • Was braucht das Haus, um sich entsprechend zu informieren / sensibilisieren? Auf der Website von Diversity Arts Culture gibt es Ressourcen für das Selbststudium sowie Weiterbildungsangebote, um die eigene Diversitätskompetenz zu stärken.

 

Um Besucher*innen ein positives und barrierearmes Kulturerlebnis zu ermöglichen, ist es wichtig, nur im Rahmen der eigenen Kapazitäten Angebote zu machen – allerdings mit dem Ziel, diese langfristig auszubauen, um kulturelle Teilhabe am gesamten Programm zu ermöglichen.

 

Um das bestmögliche Konzept für das eigene Haus zu entwickeln, empfiehlt es sich, sich in das Konzept der Relaxed Performances einzulesen, sich mit Kulturinstitutionen auszutauschen, die bereits Praxiserfahrungen auf dem Gebiet gesammelt haben, und sich in der Entwicklung von einer (bezahlten) Prüfgruppe von behinderten Expert*innen zu Barrierefreiheit beraten zu lassen. Der Abbau von Barrieren sollte als Prozess verstanden werden, in dem stetige Verbesserungen und Veränderungen selbstverständlich sind. Außerdem sollte die Wirksamkeit der vorgenommenen Maßnahmen evaluiert werden. Feedback einzuholen, signalisiert dem Publikum, dass ein ernstes Interesse an der Umstrukturierung der Organisation und damit an der Ermöglichung von kultureller Teilhabe besteht.

 

Gelegentlich durchgeführte Relaxed Performances sind natürlich nur ein kleiner Bestandteil einer barrierefreien und zugänglichen Institution. Um nachhaltig Barrieren in einer Institution abzubauen und Zugänge für marginalisierte Personen zu schaffen – sei es als Publikum oder als Mitarbeitende – sollten Relaxed Performances fest im Programm verankert werden. Sie müssen aber auch in einen umfassenderen Prozess eingebunden werden, der Diversität als bereichsübergreifende Aufgabe und als Aufgabe für Mitarbeitende auf allen Hierarchieebenen definiert, und die Institution danach neu ausrichtet.