Aktenschränke mit geöffneten Schubladen, aus denen Zettel fliegen, eine Uhr und ein Stundenglas, Zeitungsartikel, Jahreszahlen

Text: Eike Wittrock

 

An zwei aufeinanderfolgenden Weihnachten traf sich Anfang der 1980er Jahre in Frankfurt die schwulenbewegte Theaterszene der BRD – und mit ihr assoziierte Personen. Jeweils zwischen Weihnachten und Neujahr 1982 und 1983 fand dort in der legendären Off-Spielstätte Theater am Turm das Festival „Stern.Zeichen“ statt, das im Untertitel „Homosexualität im Theater“ hieß. Diese beiden Festivals bildeten in gewisser Weise den glamourösen Schlusspunkt einer Entwicklung, einer genuin bundesdeutschen schwulen Theaterkultur, die aus der westdeutschen Schwulenbewegung der 1970er Jahre heraus entstanden war, und die sowohl anklagend, aufklärend als auch lustvoll war. Hier wurden schwule Klischees ausgestellt und umgekehrt, über schwule Geschichte und Verfolgung berichtet, neue schwule Lebens- und Beziehungsmodelle besungen, gemeinsam über die eigene Misere gelacht und selbstbewusst für das Recht eingestanden, genau so leben und lieben zu dürfen, wie jede*r möchte.

 

Gleichzeitig markieren diese Festivals auch den Beginn dessen, was wir heute als Freie Theaterszene begreifen. In Häusern wie dem Theater am Turm fanden nun Projekte – und Künstler*innen – ein Zuhause, die aus politischen Kämpfen entstanden waren und vorher in subkulturellen Räumen existierten. Anfang der 1980er Jahre begannen sich dann die kulturellen Akteur*innen und Gruppen, die sich innerhalb der neuen sozialen Bewegungen der 1970er Jahre gefunden hatten, zu professionalisieren: Sie brachten so neue Ästhetiken und Inhalte wie auch eine andere Weise, auf aktuelle gesellschaftliche Fragestellungen zu reagieren, in die bundesrepublikanische Theaterlandschaft. Politische Aufklärungsarbeit fand nun nicht mehr in begleitenden Programmhefttexten, sondern auf der Bühne und in den Foyers statt – und zwar von und mit den Menschen, die es betraf, und nicht stellvertretend durch professionelle Schauspieler*innen. Die Aufführungen entsprachen dabei vielleicht nicht den ästhetischen Standards des öffentlich finanzierten, institutionalisierten Theaters, dafür gab es gelebte Erfahrung und eine bisher ungekannte Authentizität.

 

Das westdeutsche schwule Theater der 1970er Jahre, das sich bei „Stern.Zeichen“ 1982 und 1983 nun versammelte, war mehr als Theater über gleichgeschlechtlich begehrende Menschen: Es agitiert, klärt auf und teilt die schwule Erfahrung mit einer breiten, nicht unbedingt schwulen, Öffentlichkeit. Schwul ist im Selbstverständnis der Bewegung der 1970er Jahre immer schon eine politisierte Form der Sexualität und wird bewusst zur Unterscheidung von Begriffen wie „homophil“ oder „homosexuell“ eingeführt (wie wiederum „queer“ heute oft in Abgrenzung zu „schwul“ verwendet wird).1 Schwule Subjektivität – gemeinsam mit dem Publikum – zu erforschen und zu erfahren, war das Ziel dieser Aufführungen. In der Zeitschrift „him applaus. Forum für Kultur, Show und Erotik“ formuliert die Theatergruppe „Brühwarm“ anlässlich ihres dritten Stücks „Nymphomannia – eine Operette aus dem schwulen Alltag“ (1978) im „Versuch einer Selbstdarstellung“ programmatisch: „Wir glauben, daß schwul und warm leben viel mehr beinhaltet, als mit einem Mann ins Bett zu gehen. Was es heißen könnte, dem etwas näherzukommen, es zu fühlen, das hoffen wir gemeinsam mit den Zuschauern mit NYMPHOMANNIA zu erreichen.“2

 

Obwohl „Brühwarm“ die bekannteste schwule Theatergruppe der Zeit war, tritt sie beim „Stern.Zeichen“-Festival selbst gar nicht mehr auf, da sie sich 1978 – nach fünf Jahren gemeinsamen Wohnens und Theaterspielens in Universitäten, Jugendzentren, kleinen Theatern und an linken Veranstaltungsorten – schon wieder  aufgelöst hatte. „Stern.Zeichen“ gibt dennoch einen guten Einblick in die teilweise vergessene schwule Theater- und Kulturszene der späten 1970er und frühen 1980er Jahre und ihre Fragen und Themen. Insbesondere die erste Ausgabe, die vom 22. Dezember bis 31. Dezember 1982 stattfindet und vom Berliner Journalisten Elmar Kraushaar3 kuratiert wurde, zeigt die Vielfalt der aus der Bewegung hervorgegangen künstlerischen Auseinandersetzungen auf der Bühne: Es gab schwules Theater im Stile der 1970er Jahre, also die kabarettartige Aneinanderreihung kurzer Szenen und Musiknummern mit einem eher lockeren Gesamtzusammenhang. „Schwul 08/15“ zeigte mit „Tanz auf den Wolken“ einen Streifzug durch die schwule Szene, während die „Maintöchter“ aus Frankfurt mit „Bis hierher und wie weiter“ eine szenische Bilanz der Schwulenbewegung von 1962 bis 1982 zogen. Daneben gab es mit Monsieur Petits Travestieshow auch die ‚klassische‘ Form homosexueller Bühnenunterhaltung zu sehen, von der sich das schwule Theater in den 1970ern immer noch hart abgegrenzt hatte. Kraushaar hatte wohl das gleichzeitig subversive wie auch unterhaltsame Spiel dieser Form begriffen.

 

Die FrauenLesben-Perspektive steuerten „Die Witwen bei“, eine feministische Kabarettgruppe, die im Schwarzen Café in Berlin beheimatet war. Daneben gab es noch experimentelle Formen, wie die „Triologie der Schimpanski“ des „S.E.W.“ (Schwules Ensemble Westberlin), das im September desselben Jahres bereits bei der „documenta 7“ in Kassel zu Gast war. Ihr „postdiskriminatorisches Schwulentheater“4 bot eine tuntige5 Version von Sprachspielen im Stile Botho Strauß, und war dabei schwul, ohne jemals das Wort „schwul“ aussprechen zu müssen.

 

Neben Theateraufführungen gab es noch andere Programmpunkte. Fotoausstellungen zu „Schwulen Wohnzimmern“, Filmvorführungen (u.a. vom späteren Berlinale-Kurator Wieland Speck), eine Diskussionsrunde zur „Schwulen Ästhetik“, u.a. mit dem Regisseur Werner Schroeter und dem Literaturwissenschaftler Gert Mattenklott, oder die Lyrikperformance „Vier Nächte Status“ des Berliner Dichters Detlev Meyer, der in Werken wie „Heute Nacht im Dschungel“ das schwule Leben der geteilten Stadt verspielt, ironisch und poetisch porträtierte.

 

Es waren aber auch erste Formen jener queeren Kleinkunst zu sehen, deren (ständige) Präsenz im BRD-Fernsehen der 1990er Jahre eine ganze Generation von Schwulen und Lesben ästhetisch und subjektiv prägen sollte. Der damals 19-jährige Thomas Herrmanns („Quatsch Comedy Club“, ProSieben) hatte mit der „Fränkischen Klabbenoper“ einen seiner ersten Bühnenauftritte in diesem Festival, aber auch Georgette Dee und Ernie Reinhardt (aka Lilo Wanders, „Wa(h)re Liebe“, Vox) waren hier vertreten und zeigten genderbending Chanson-Abende. Und das ehemalige Brühwarm-Mitglied Corny Littmann war mit dem Erfolgsstück „Wetten, das ist Frau Witten“ seiner Gruppe „Familie Schmidt – aufrecht, deutsch, homosexuell“ vertreten, aus der später das Hamburger Theater-Emporium Schmidt Theater erwuchs („Schmidt Mitternachtsshow“, NDR).

 

Für die zweite Ausgabe hatte das Theater am Turm stärker auf professionelle Produktionen gesetzt, wie z.B. Volker Spenglers Inszenierung von Rainer Werner Fassbinders Stück „Die bitteren Tränen der Petra von Kant“ in einer reinen Männerbesetzung. Dafür erntete das Festival jedoch Kritik – von innerhalb der Bewegung wie auch von außerhalb.

 

Nach der zweiten Ausgabe 1983 wurde „Stern.Zeichen“ nicht fortgeführt. Die erste Ausgabe hatte einer gesellschaftlichen Minderheit eine Plattform gegeben, ihre Ästhetiken und kulturellen Selbstentwürfe einem größeren Publikum zu zeigen und diese gleichzeitig selbstkritisch zu diskutieren. Der professionelleren Ausrichtung der Fortführung fehlte die politische Brisanz: „Die sachte Euphorie der ersten ‚Stern.Zeichen‘, die anheimelnde Atmosphäre einer gleichsam öffentlichen Klausurtagung hat sich bislang nicht wieder beleben lassen. […] Die Entscheidung für mehr professionelle Güte war zugleich eine gegen die, die aus unmittelbarer Betroffenheit den Fluchtweg ins Theater antraten; dieser Entschluss beraubt das TAT zugleich der streitbarsten Vertreter des neuen kulturellen ‚coming out‘.“6

 

Ein weiterer Grund für diese Zäsur war sicher auch die AIDS-Pandemie, die sowohl die Community selbst erschütterte, als auch Homosexualität neu stigmatisierte. 1983 wurden die ersten vier Fälle einer HIV-Infektion in Deutschland registriert, und bei „Stern.Zeichen“ 1983 tauchten bereits erste Reflexionen der Krankheit auf, wie bei Peter Baschungs performativer Lesung „Adrenalin“ oder im Solo „Surviving Love and Death“ des New Yorker Choreografen John Bernd, der in diesem Stück u.a. seine AIDS-Krankheit thematisierte.

 

1982 war die Krankheit aber noch nicht im Bewusstsein der westdeutschen Schwulen-Szene angekommen. Es muss ein traumhaftes Weihnachten gewesen sein, ein Moment der Euphorie über erste gesellschaftliche Anerkennung, unwissend was für dunkle Zeiten auf die Community zukommen würden: Heiligabend mit Georgette Dee und Ernie Reinhardt. Dann eine ‚hysterische Surprise-Party‘ am ersten Weihnachtstag, unter dem Titel „Die Mädels aus der Mambo-Bar“, mit Zazie de Paris (die bereits in den 1980er Jahren als trans* Frau fest im Ensemble des Deutschen Schauspielhauses war), den Alsterelsen (Tanzensemble des Hamburger Tuntenchors), Aurora, die tanzende Fleischwurst (ein Aachener Original), und einem schwulen Duett von (den späteren Tanzprofessoren) Dieter Heitkamp und Helge Musial. Und am zweiten Weihnachtstag – statt Kaffee und Kuchen mit der Kernfamilie – eine Diskussion mit dem Sexualwissenschaftler Martin Dannecker über „Homosexualität und Therapie“. Was für ein Fest!

 

Über den Autor

Eike Wittrock ist Theater- und Tanzwissenschaftler sowie Kurator. Seine Forschungen zur Historiografie des europäischen Bühnentanzes und queerer Performancegeschichte präsentiert er sowohl in wissenschaftlichen wie auch in künstlerischen Zusammenhängen.

  • 1Vgl. Magdalena Beljan: Rosa Zeiten? Eine Geschichte der Subjektivierung männlicher Homosexualität in den 1970er und 1980er Jahren in der BRD. Bielefeld: transcript 2014.
  • 2Theatergruppe Brühwarm: Nymphomannia. Versuch einer Selbstdarstellung. In: Him Applaus 6/1978, S. 58–59, hier S. 59. Hervorhebung im Original. Die Kooperation von Brühwarm mit der Rockgruppe „Ton Scheine Scherben“ ist auf zwei LPs, „Mannstoll“ (1977) und „Entartet“ (1979), dokumentiert.
  • 3Kraushaar hatte 1982 mit Matthias Frings das Buch „Männer.Liebe. Ein Handbuch für Schwule und alle, die es werden wollen“ verfasst.
  • 4Zitat aus einem Gespräch mit Lucie (Klaus) von „S.E.W.“ am 28.8.2020.
  • 5„Tunte“ ist ein Kampfbegriff der Schwulenbewegung der 1970er und 1980er Jahre und wird heute noch von deutschen Dragqueens teilweise als Selbstbezeichnung verwendet. Rosa von Praunheims Film Nicht der Homosexuelle ist pervers, sondern die Situation, in der er lebt (1971) definiert Tunten im Voiceover als „Schrecken des Spießers und des angepassten Schwulen, der durch sie verraten werden könnte. […] Tunten übertreiben ihre schwulen Eigenschaften und machen sich über sie lustig. Sie stellen damit die Normen in unserer Gesellschaft in Frage und zeigen, was es bedeutet, schwul zu sein.“ Vgl. auch https://www.gwi-boell.de/de/2018/06/07/tuntige-aesthetik-performativer-…
  • 6Thomas Delekat in der Frankfurter Rundschaut, zitiert nach Elmar Kraushaar, „Stern.Zeichen. Homosexualität im Theater“, in: Sabine Bayerl/Karlheinz Braun/Ulrike Schiedermair (Hrsg.): Das TAT. Das legendäre Frankfurter Theaterlabor, Leipzig: Henschel 2011, S. 138-139, hier S. 139.