Aktenschränke mit geöffneten Schubladen, aus denen Zettel fliegen, eine Uhr und ein Stundenglas, Zeitungsartikel, Jahreszahlen

Text: Gürsoy Doğtaş

 

Als am 23. November 1973 der Anwerbestopp in Kraft trat, begründete Walter Arendt, der damalige Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung, dies mit der Energiekrise (oder Ölpreiskrise). „Es ist nicht auszuschließen, dass die gegenwärtige Energiekrise die Beschäftigungssituation in der Bundesrepublik Deutschland in den kommenden Monaten ungünstig beeinflussen wird,“ schreibt er in seiner telegrafischen Anweisung an die Bundesanstalt für Arbeit.1 Eine Ölpreiskrise, die wenige Wochen zuvor anfing, mag zwar den Beginn einer Wirtschaftsrezession einläuten, aber nicht den schnellen Anwerbestopp der Arbeitsmigrant*innen aus den Nicht-Mitgliedstaaten der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft erklären. Für die Pläne einer restriktiven Arbeitsmigrationspolitik war die Ölpreiskrise eher ein Vorwand.2

Zu der Entscheidung für den Anwerbestopp müssen weitere Faktoren gezählt werden wie die tiefergreifende strukturelle Krise der fordistischen Produktionssysteme (Fließbandarbeit, Massenproduktion etc.), der Wunsch nach einer überarbeiteten Einwanderungspolitik, aber auch die Sorge der Wirtschaft vor den Forderungen der Migrant*innen nach besseren Arbeitsbedingungen. Einige Monate zuvor, am 24. August 1973, hatten etwa 10.000 Arbeiter*innen – vornehmlich aus der Türkei – mit solchen Forderungen die Ford-Werke in Köln-Niehl lahmgelegt. Ihnen schlugen die Ressentiments der Boulevardzeitungen entgegen. Die „Bild“ schrieb: „Gastarbeiter, dieses Wort kommt von Gast. Ein Gast, der sich nicht so beträgt, gehört vor die Tür gesetzt!“3 Der Anwerbestopp lässt sich als Fortsetzung einer xenophoben Stimmung lesen.

Mit dem Anwerbestopp verändert sich zu dem die Thematisierungsweise des Migrationsdiskurses, stellen die Soziologen Serhat Karakayalı und Vassilis Tsianos fest: Sie verschiebt sich vom „Gastarbeiter*innenproblem“ zum „Integrationsproblem“.4 Bestand das „Gastarbeiter*innenproblem“ darin, dass die wirtschaftlich, sozial und rechtlich benachteiligten temporären Arbeitskräfte über eine „ökonomistische Theorie“ gesteuert wurden, beendet der Anwerbestopp die „Gastarbeiter*innenära“ und macht die verbliebenen Arbeitsmigrant*innen zu einem sozialpolitischen „Integrationsproblem“.5

 

Gleich mehrere Ausstellungen dieser Zeit wollen sich dieser „Integrationsproblematik“ annehmen. Im November 1974 eröffnet beispielsweise im Alten Rathaus von Bremen die landeskundliche Informationsausstellung „Türkei – Heimat von Menschen in unserer Stadt/Türkiye – Şehrimizde yaşayan insanların yurdu“, die das Jahr darauf nach Lübeck wandert. Der Einleitung der Begleitpublikation in deutscher und- türkischer Sprache zur Folge will die Ausstellung bei den Einheimischen Verständnis für die Mitbürger*innen aus der Türkei erwecken und ursächliche Hintergründe der Arbeitsmigration nachvollziehbar werden lassen.6 Die Ausstellung informiert über die Geschichte, die Kunst und das Kunsthandwerk des Landes, aber auch über das „Kaffeehaus“, die Erziehung, den Islam, die Landwirtschaft sowie die Industrie der Türkei. Wenn die Türkei sich im ökonomischen Bereich unterstützen ließe, durch beispielsweise Industrialisierung, Rationalisierung der Landwirtschaft oder Qualifizierung der Arbeitskraft, dann müssten die Menschen nicht nach Deutschland migrieren. Der konkreten Lebenssituation der Arbeitsmigrant*innen in Deutschland räumt die Publikation respektive Ausstellung kaum Platz ein. Wenn sie es tut, erweckt sie den Eindruck, dass von dem „Gastarbeiter*innen“-System die Türkei und die Arbeitsmigrant*innen profitieren. Für Deutschland (bzw. „nach Meinung vieler Deutscher“) listet sie lediglich Nachteile auf: „sie [gemeint sind die „Gastarbeiter*innen“] nehmen bei der augenblicklichen schlechten Konjunkturlage deutschen Arbeitern Arbeitsplätze weg“ oder „es kommt zu einer Überfremdung der deutschen Bevölkerung.“7 Der Anwerbestopp wird unter Lösungsvorschlägen aufgeführt.8

Die Dokumentationsausstellung „Türkische Mitbürger in Hamburg“ von 1976 im Museum für Völkerkunde (heute „Museum am Rothenbaum – Kulturen und Künste der Welt“) mit der dazugehörigen Veranstaltung „Türkische Woche“ schlägt einen anderen konzeptuellen Weg ein. Über Themen wie „Wohnsituation“, „Türkische Geschäftszentren“, „Arbeitswelt“ oder auch „Schule“ informiert die Ausstellung über kurze Texte, Diagramme oder Fotos über die Benachteiligungen der „Gastarbeiter*innen“ in Hamburg. „Die Türken in Hamburg,“ heißt es in der Einleitung des Sammlungsleiters Rüdiger Vossen, „haben von allen Ausländergruppen sicher die größten Schwierigkeiten, sich in unserer unpersönlichen Welt zurechtzufinden.“9 Es gälte sie nicht als Randgruppen zu beurteilen und behandeln, so der Auszug aus der Rede des Bürgermeisters Dieter Biallas bei der Eröffnung der „Türkischen Woche“ am 10. Juni 1976, „sondern als europäische Bürger, die das soziale und kulturelle Leben bereichern in unserem Land.“9

Anders als die Ausstellung in Bremen stellt das „Museum für Völkerkunde“ Forderungen im Sinne der Gastarbeiter*innen oder trägt für sie Einrichtungen und Anlaufstellen in der Publikation zusammen.

 

Hierzwischen nimmt die Ausstellung „Mehmet Berlin’de. Mehmet kam aus Anatolien“ unter der Ägide von Dieter Ruckhaberle, dem damaligen Leiter des Kunstamts Kreuzberg, im Rahmen der Berliner Festwochen von 1975 eine besondere Stellung ein. Auch sie stellt Überlegungen zu der ökonomischen, politischen und kulturellen Lage der Türkei an, allerdings zusammen mit türkischen Künstlern, Musikern und Autoren (tatsächlich nur Männern), die der Arbeiterbewegung der „Gastartbeiter*innen“ nahestehen. Sie werden Koproduzent*innen der Ausstellung mit ihren Festen.

Die Ausrichtung der Ausstellung

In seiner Eröffnungsansprache am 5. September 1975 hebt der Leiter der Berliner Festwochen Ulrich Eckhardt hervor, dass Bildungswege wie auch künstlerische Angebote „gemeinsam nötig [sind] zur demokratischen Teilhabe, zur Aufklärung, zur aktiven Lebensbewältigung und zur Selbsterkenntnis.“10 In Zeiten der Wachstumskrise hieran sparen zu wollen, sei eine „falsche Politik ohne Zukunftsperspektive.“ Sich in die „Zukunft zu öffnen“ bedeutet für die Festwoche „den Ansprüchen aller Bevölkerungsgruppen auf Teilhabe durch besondere Angebote gerecht zu werden.“10 Dieser Ansatz, der auf Teilhabe setzt, umgeht problematische Begriffe wie Integration.

Im Abschnitt „Das Verhältnis von Deutschen zu Ausländern“ beschreibt die Ausstellung kurz und prägnant, wie Rassismus und Fremdenfeindlichkeit in Deutschland geschürt werden. Hierzu zählen u.a. die redaktionellen Aufmacher der Tageszeitungen des Axel-Springer-Verlags (wie die „Bild“ oder „BZ“), die Ausländer*innen vorwiegend als Kriminelle portraitieren, sodass sich trotz widersprechender Statistiken bei der Bevölkerung hartnäckig die Vorstellung von einer hohen Verbrechensrate bei ausländischen Arbeiter*innen aufrechthält.11 Der Abschnitt versucht weitere gängige Vorurteile der Deutschen gegenüber Ausländer*innen zu dekonstruieren, wie die „neidisch klingende […] Behauptung, ausländische Arbeitnehmer würden von der deutschen Arbeitslosenunterstützung besser leben, als wenn sie in ihrer Heimat arbeiten würden.“11 Tatsächlich ist es so, entgegnet die Ausstellung, „daß Ausländer keinen gesetzlichen Anspruch auf Arbeitslosenunterstützung haben und daß sie bei längerer Arbeitslosigkeit Gefahr laufen, ausgewiesen zu werden […], obwohl sie wie jeder Arbeitnehmer Sozialbeiträge entrichten müssen.“

 

Die Ausstellung findet im Bezirk Kreuzberg statt. Dort wohnen im Jahr 1975 150.000 Menschen, davon sind 40.000 ausländische Mitbürger*innen und 28.000 von ihnen kommen aus der Türkei.12 Kreuzberg gehört wie Tiergarten und Wedding zu jenen Bezirken, gegen die der Senat von Berlin ab dem 1. Januar 1975 eine Zuzugssperre für eine Gruppe der Ausländer*innen verhängte. Ein Beschluss, der im Besonderen die Bewegungsfreiheit der Menschen aus der Türkei in Berlin kontrollieren und einschränken sollte. Obwohl das Verwaltungsgericht die Zuzugssperre als rechtswidrig ansah, dauerte es fast fünf Jahre, bis die Verhandlung vor dem Oberverwaltungsgericht dies als Gesetzesverstoß juristisch bestätigte.13 „Mehmet Berlin’de. Mehmet kam aus Anatolien“ am Mariannenplatz lässt sich auch als eine Einladung an die „Gastarbeiter*innen“ aus der Türkei lesen, Kreuzberg für sich neu beanspruchen zu dürfen. Das ehemalige Diakonissenkrankenhaus Bethanien am Mariannenplatz, dessen Abriss in den 70ern durch Bürger*inneninitiativen verhindert wurde, war der Ausstellungsort. Über zwei Dekaden war Bethanien das Zentrum der türkischen linken Szene.14

Zu „Mehmet Berlin’de. Mehmet kam aus Anatolien“ gehören die Veranstaltungen am 6., 7., 12., 13. und 14. September 1975. Auf dem Mariannenplatz werden Theaterstücke, Filme, Konzerte und Tanz aufgeführt. Zudem finden Ringkämpfe statt und der Circus Aramannt öffnet seine Manage für die Kinder. Ein dichtes Programm, das auf die Ko-Organisator*innen der Ausstellung, den Türkischen Akademiker- und Künstlerverein e.V., zurückzuführen ist. Einige aus dem Verein sind ebenfalls Mitglieder im Türk Toplumcular Ocağı (der Türkischen Sozialistengemeinschaft/TTO). Zwar liegt der Fokus der TTO auf den politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen in der Türkei, aber sie widmet sich ebenfalls den unmittelbaren Problemen der „Gastarbeiter*innen“ in Berlin.15 Die Nähe zur TTO ruft bei den Berliner Senatsstellen im Vorfeld der Ausstellung Vorbehalte hervor, da der Senat die TTO als marxistisch und kommunistisch einstuft.16 Die Migrant*innen aus der Türkei erleben somit eine mehrfache Einengung ihrer Selbstentfaltung.

„Der türkische Arbeiter ist da!“, schreibt der Türkische Akademiker- und Künstlerverein im Katalog. Aber nicht als „ein Automat, der tagtäglich zum Arbeitsplatz eilt und produziert, sondern als der Mensch, der er ist, ein Mensch, der in den Produktionsverhältnissen und Widersprüchen dieser Gesellschaft lebt.“17 Der Verein begegnet dem Klima der mehrfachen Exklusion mit einer gemeinsamen Feier und dem Angebot an die deutsche Öffentlichkeit des Sich-Kennenlernens. Die Ausstellung nimmt ihren Anfang in der Eingangshalle des Bethanien. In großformatigen Fotos werden Szenen aus einem anatolischen Dorf gezeigt, angelehnt an die Publikation „Mein Dorf in Anatolien“ des Schriftstellers Mahmut Makal.18 Allerdings zeichnet Makal dort ein übertriebenes Bild einer Rückständigkeit des türkischen Dorflebens. Wie als wollte er die Notwendigkeit der Emigration ins Ausland unterstreichen. Der zweite Abschnitt informiert über die Etappen des Lebens in Deutschland von der Anwerbung, über die Arbeitserlaubnis, Wohnungsnachweis, Kindergeld bis hin zu Arbeitslosigkeit und Rückwanderung. Sie umfasst auch Benachteiligungen und Diskriminierungen in den verschiedenen Lebensbereichen der „Gastarbeiter*innen“. Der dritte Abschnitt besteht aus einer Geschichtstabelle (1798 - 1974) der Türkei vom Osmanischen Reich bis zum Zeitpunkt der Ausstellung mit einem Schwerpunkt auf der Politik Kemal Atatürks.

Den Kern bildet die Verkaufsausstellung der Werke von drei in West-Berlin lebenden türkischen Künstlern. Alle drei fingen ihr Studium in Istanbul an und setzten es dann an der Kunsthochschule in Berlin fort; es sind der Keramiker Mehmet Çağlayan, der Maler Mehmet Hanefi Yeter und der Bildhauer Mehmet Aksoy. Ihre Arbeiten beschäftigen sich mit dem Leben und den Sorgen ihrer Landsleute in Deutschland. Der Titel der Ausstellung „Mehmet Berlin’de. Mehmet kam aus Anatolien“ spielt auf die Vornamen der Künstler an, die alle drei Mehmet heißen.

Çağlayan präsentiert in erdigen Tönen lasierte Vasen, Schalen, Teller, Töpfe und Krüge. Sie wirken, als hätten sie einen ländlich-bäurischen Ursprung. Daneben finden sich weitere Keramikobjekte, wie ein Stier, ein Wildhuhn, ein Pferd, ein Ochse oder Figuren wie der Soldat, der Kopf eines Bauern oder die Arbeiter*innenfamilie. Aksoy stellt zwölf Plastiken aus. Hierunter finden sich kleinere Objekt wie der „Arbeitslose“ (1974) oder „Kurzwellenhörer“ (1974) oder große bis überlebensgroße Figurengruppen, wie „Freunde, stärkt die Reihen…“ (1975) oder eine aufgespreizte Hand „Stop! So wie es ist, bleibt es nicht“ (1973).

Auch Mehmet Hanefi Yeter beschäftigt sich mit politischen Szenen in der Alltagswirklichkeit der Arbeitsmigrant*innen. Hierunter fallen mehrere Bilder von Demonstrationen von den Erste-Mai-Protesten von 1973 auf der Karl-Marx-Straße. Eine andere größere Themengruppe sind „Gastarbeiter*innen“ in der Freizeit und im Freien. „Unter dem Baum“ (1974), „Picknick in Berlin“ (1975), „Mariannenplatz“ (1975), „Die betrübte Freiheit“ (1975) zeigt Gruppen von Menschen oder Familien mit Kindern in einer parkartigen Landschaft. Sie scheinen sich auf einer kelimartigen Decke auszuruhen, zu picknicken oder einer Handarbeit wie Stricken nachzugehen.

Die dritte und letzte Komponente der Ausstellung „Mehmet Berlin’de. Mehmet kam aus Anatolien“ findet zweieinhalb Monate nach der eigentlichen Ausstellung statt. Es ist das Konzert „Die betrübte Freiheit/Bir hazin hürriyet“ am 12. April 1976 in der Berliner Philharmonie. Unter den Auftretenden findet sich unter anderem der 1972 gegründete Hanns Eisler Chor. Ein Chor, der sich nach Hanns Eisler benannte, weil er nicht nur seine Stücke einstudierte, sondern weil er wie Eisler das Chorsingen als politische Aufgabe begriff.

Wie schon auf dem Mariannenplatz tritt in der Philharmonie auch der Türk İşçi Korosu (ATTF) [Türkische Arbeiterchor (ATTF)] auf. Er trägt Nâzım Hikmets Gedichte wie „Asker kaçagı“ (Der Deserteur) oder „Türkiye işçi sınıfına selam“ (Gruß an die Arbeiter*innenklasse der Türkei) als Lieder vor. Insgesamt bildet Hikmet für die Ausstellung eine wichtige Referenz, so auch in der Kunst von Yeter und Aksoy. Der 1973 in Berlin gegründete Arbeiterchor ist der erste in der Geschichte der Türkei. Er besteht größtenteils aus Arbeiter*innen und Student*innen, musikalischen Laien, und dem türkischen Chorleiter und Komponisten Tahsin İncirci. Mit ihren Liedern kritisieren sie die sozialen Zustände in der Türkei und Deutschland. Diese doppelte Sozialkritik charakterisiert auch die gesamte Ausstellung. Der Chor verbindet sich mit den gewerkschaftlichen Aktivitäten der Föderation Türkischer Sozialisten in Europa ATTF (Avrupa Türkiyeli Toplumcular Federasyonu). Über Europa hinweg solidarisierte er sich mit den Arbeiter*innen aus der Türkei.

Auch die Volkstanzgruppe hatte sowohl Aufführungen in den Anfangswochen der Ausstellung auf dem Mariannenplatz als auch später in der Philharmonie. Die Volkstanzgruppe nimmt ihren Anfang unter dem Dach des Türkischen Akademikervereins aus dem später der Türkische Akademiker- und Künstlerverein wird. Ihr Ziel war es, die Lücke an kulturellen Angeboten für die Arbeitsmigrant*innen in West-Berlin zu schließen. Der Verein wie auch die Volkstanzgruppe wollten soziale Spannungen zwischen den Deutschen und den Arbeitsmigrant*innen aus der Türkei abbauen. In der Sonderpublikation zur Ausstellung heißt es über ihre Auftritte: „Die durch das Zusammenspiel entstehende Fröhlichkeit, die Begeisterung, das Solidaritätsgefühl des gemeinsamen Erlebnisses, das Gefühl, für sich, aber doch zusammen zu sein, das ist es, was den Gehalt der Volkstänze ausmacht.“19

Fehlende Konfliktlinien der Ausstellung

In ihrem historischen Rückblick der politischen Kämpfe der Migrant*innen erkennen die Autoren Mustafa Demir und Ergün Sönmez in ihrem Buch „Als Arbeiter zu ‚Gast‘ in Deutschland“ in der Ausstellung einen wichtigen Wendepunkt im Verhältnis zwischen Deutschen und Menschen aus der Türkei. Die Ausstellung sensibilisierte nicht nur die Deutschen für die Probleme der „Gastarbeiter*innen“, sondern erinnerte sie auch an ihre Verantwortung. „Es war offensichtlich,“ schreiben die Autoren, „dass die Integration keine Einbahnstraße ist, dass die Deutschen auch etwas zu ihr beitragen müssten, das heißt, dass sie mindestens für die Gleichbehandlung eintreten und gegen die Ausländerfeindlichkeit kämpfen müssten.“20 Das Interesse an der Ausstellung ist damals enorm. Innerhalb der ersten 14 Tage ist der Katalog vergriffen und wird dann in der 2. und 3. Auflage gedruckt. Die Ausstellung wird mehrfach verlängert und zählt an deren Ende etwa 26.000 Besucher*innen. Nach Berlin hat sie weitere Stationen in vier westdeutschen Städten.

Die Ausstellung trägt den sich ineinander verzahnenden Themen der Migration Rechnung: Seien es die Allianzen zwischen der größeren Arbeiter*innenklasse und den Arbeiter*innen aus der ländlichen Türkei, seien es die aus der Türkei geflohenen Aktivist*innen, Künstler*innen und Intellektuellen, die ihre politische und sozialistische Arbeit beispielsweise über Vereine in Deutschland fortsetzen oder die Forderungen nach wirtschaftlichem Fortschritt und mehr Demokratie in der Türkei von Deutschland aus mit Forderungen nach gleichen Rechten in Deutschland kombinieren. In der ATTF (dem auch der Chor angehört) wie auch der TTO (der auch Mitglieder im Türkischen Akademiker- und Künstlerverein hat) verbinden sich die verschiedenen Kämpfe der Arbeiter*innen, Student*innen und Künstler*innen gegen die politischen Zustände vorrangig in der Türkei.

 

Was die Ausstellung jedoch nicht erfasst, sind die Konfliktlinien innerhalb der Gruppen aus der Türkei. Sie brechen an verschiedenen Stellen vor oder nach der Ausstellung hervor. Beispielsweise wird der politisch engagierte Künstler Mehmet Aksoy 1976 von einer Podiumsveranstaltung im Haus der Kirche in Berlin ausgeladen, weil andere Panelist*innen wie Hakkı Keskin (damals Student an der Freien Universität Berlin und nach seiner Rückkehr Ende der 70er in die Türkei Planungsberater im Stab des Ministerpräsidenten Bülent Ecevit) sich vor politischen Schwierigkeiten und möglichen Konsequenzen in der Türkei fürchten.10 Im selben Jahr wird in der Türkei die Skulptur „İsçi ve Çocuğu“ (Arbeiter und sein Kind) von Mehmet Aksoy, die er während eines Festivals in Antalya präsentierte, vandaliert. Er erneuert sie. Nach dem Militärputsch von 1980 ordnen die Generäle die Entfernung dieser Skulptur an.

Auch das Klassengefälle der Türkei zwischen einer bürgerlich-intellektuellen Gruppe und einer ländlichen Bevölkerung ohne Schulabschluss findet in Berlin seine Fortsetzung. Dies betrifft die Vorlieben für Musik. Beispielsweise wenn sich der Komponist Tahsin İncirci abfällig über die populäre Gurbetçi-Musikkultur äußert. Die Konflikte erstrecken sich zu dem auf die verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen der aus der Türkei ausgewanderten Menschen.

 

Die Ausstellung hat national wie international eine große Presseresonanz. Selbst die New York Times bespricht sie im Rahmen der größeren Berichtserstattung über die Festspiele. Die Rezensionen fallen bis auf wenige Ausnahmen positiv aus. Der Axel-Springer-Verlag (die Berliner Morgenpost) fordert zusammen mit der CDU die Absetzung des Konzerts in der Philharmonie. Der Arbeiterchor (ATTF) wird verdächtigt, in der Türkei als linksextremistisch verboten zu sein. Dem widerspricht der Bezirksstadtrat Reinhard Gericke in einer Pressemitteilung. Der Axel-Springer-Verlag und die CDU kolportieren darüber hinaus, es gäbe Einschätzungen des Bundesministeriums des Innern, die die ideologische Gefährlichkeit des Chors unterfütterten.10 Das Konzert findet trotz solcher Störversuche statt. Zwei Tage nach dem Konzert wird erneut eine Antistimmung erzeugt. Am 14. April 1976 versucht der Tagesspiegel den Hanns Eisler Chor zu diskreditieren, der angeblich von der Sozialistischen Einheitspartei Westberlins (SEW) unterstützt sein soll.10

Monate zuvor forderte die CDU-Fraktion der Kreuzberger Bezirksverordnetenversammlung in einem Brief vom 6. Oktober 1975 vom Bezirksbürgermeister Rudi Pietschker (SPD) eine disziplinarrechtliche Prüfung gegen Dieter Ruckhaberle einzuleiten. Die CDU sieht sich darin bestätigt, dass „Ruckhaberle nicht jederzeit [bereit ist] für unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung einzutreten […].“10 Im Besonderen geht es um eine Formulierung im Katalogbeitrag „Die kulturelle Entfaltung als Forderung“ von Ruckhaberle. Die CDU stört sich unter anderem an diesem Satz: „Doch Reste aus dem Hitlerfaschismus erschweren den demokratischen Prozeß. Betrachtet man die Berufsverbotspolitik, wird deutlich: In Europa bildet die Bundesrepublik das Schlußlicht in der demokratischen Entwicklung.“ Ruckhaberle weist daraufhin, dass aus dem Kontext des Artikels Berufsverbotspolitik hervorgehe, dass die Bundesrepublik Deutschland im Vergleich zu den demokratischen europäischen Ländern wie Schweden, Norwegen oder Dänemark das Schlusslicht in der Entwicklung bilde.10 Seine Beunruhigung beziehe sich in dem Artikel eindeutig auf den Radikalenerlass. Ein unter dem Titel „Grundsätze über die Mitgliedschaft von Beamten in extremistischen Organisationen“ gefällter Beschluss vom 28. Januar 1972, dass Bewerber*innen für den Öffentlichen Dienst auf ihre Verfassungstreue geprüft werden (ein Beschluss der gegen das Recht auf Meinungs- und Vereinigungsfreiheit der Europäischen Menschenrechtskonvention verstieß, urteilte 1995 der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte).21 Der Radikalenerlass beträfe nämlich nicht mehr Personen, die in den öffentlichen Dienst wollen, sondern wirke sich auch auf freischaffende Künstler*innen aus. Die SPD und einige Tageszeitungen setzten sich für Ruckhaberle ein. Dennoch wird sein Artikel aus der dritten Auflage des Katalogs entfernt.

Die Arbeitsmigrant*innen aus der Türkei finanzieren als Steuerzahler*innen bereits in den 60ern und 70ern die Kulturproduktionen in Deutschland, in der jedoch ihre diversen bisweilen widerstreitenden kulturellen Werte kaum vorkommen. Das Ausstellungsprojekt „Mehmet Berlin’de. Mehmet kam aus Anatolien“ gehört zu den wenigen Ausnahmen der Zeit. Für die Arbeitsmigrant*innen verschieben sich über den erwähnten Wechsel vom „Gastarbeiter*innenproblem“ zum „Integrationsproblem“ auch die Erwartungen an Deutschland. Nicht mehr allein die Türkei als ein Entwicklungsland in den Bereichen der Politik und Ökonomie bestimmt den Diskurs, auch die Mängel der Demokratisierungsprozesse in Deutschland rücken ins Blickfeld. Die ATTF setzt sich beispielsweise für die Gleichberechtigung der Ausländer und ein demokratisches Ausländerrecht ein, hierzu zählt auch das kommunale Wahlrecht. „Mehmet Berlin’de. Mehmet kam aus Anatolien“ reiht sich in Strategien der Bündnispolitik unter diesen Vorzeichen ein. Einige der Konflikte um die Ausstellung verdeutlichen wie das politische Engagement der Migrant*innen in Deutschland als marxistisch oder kommunistisch delegitimiert wurde. Das „Integrationsproblem“ ist daher auch das Problem einer intoleranten Demokratie der BRD in der Ära des Kalten Krieges.

 

Über den Autor

Gürsoy Doğtaş, Kunsthistoriker, arbeitet para-kuratorisch an den Schnittpunkten von Institutionskritik, strukturellem Rassismus und Queerstudies. Neben vielen Ausstellungen verantwortete er „Gurbette Kalmak / Bleiben in der Fremde“ (2023) im Taxispalais Innsbruck, „The kültüř gemma! issue“ des Parabol Art Magazines (2021) und ko-kuratierte das Symposium Das Recht auf Erinnern und die Realität der Städte in Nürnberg (2021). 2022/23 lehrte er als Gastprofessor im Institut Kunst in Kontext an der Universität der Künste Berlin.

 

  • 1Walter Arendt über den Anwerbestopp ausländischer Arbeitnehmer vom 23.11.1973. Der originale Wortlaut der Anweisung ist hier einsehbar: https://www.bpb.de/themen/migration-integration/anwerbeabkommen/43270/a…
  • 2Marcel Berlinghoff: „Der europäisierte Anwerbestopp.“ In: Jochen Oltmer, Axel Kreienbrink und Carlos Sanz Díaz (Hg.): Das "Gastarbeiter"-System– Arbeitsmigration und ihre Folgen in der Bundesrepublik Deutschland und Westeuropa. Oldenbourg Wissenschaftsverlag, 2015. 149-164. Hier S. 150.
  • 3Dorte Huneke: „Das mit dem großen Streik war nicht meine Idee“ – Als Betriebsrat bei Ford in Köln: Salih Güldiken. (19.10.2011) In: https://www.bpb.de/themen/migration-integration/anwerbeabkommen/43219/das-mit-dem-grossen-streik-war-nicht-meine-idee/
  • 4Serhat Karakayalı und Tsianos Vassilis: „Die Figuren der Migration.“In: Kölnischer Kunstverein (Hg.): Projekt Migration. Köln: DuMont (2005): 416-421. Hier S. 417.
  • 5Serhat Karakayalı und Tsianos Vassilis: „Die Figuren der Migration.“In: Kölnischer Kunstverein (Hg.): Projekt Migration. Köln: DuMont (2005): 416-421. Hier S. 417f.
  • 6Ausstellungspublikation „Türkei – Heimat von Menschen in unserer Stadt/Türkiye – Şehrimizde yaşayan insanların yurdu“ des Deutsch-Türkischen Arbeitskreises am Übersee-Museum Bremen, Bremen 1974, S. 5f.
  • 7Ausstellungspublikation „Türkei – Heimat von Menschen in unserer Stadt/Türkiye – Şehrimizde yaşayan insanların yurdu“ des Deutsch-Türkischen Arbeitskreises am Übersee-Museum Bremen, Bremen 1974, S. 72.
  • 8Ausstellungspublikation „Türkei – Heimat von Menschen in unserer Stadt/Türkiye – Şehrimizde yaşayan insanların yurdu“ des Deutsch-Türkischen Arbeitskreises am Übersee-Museum Bremen, Bremen 1974, S. 72f.
  • 9 a b Ausstellungspublikation „Türkische Mitbürger in Hamburg“ der Türkei-Arbeitsgruppe am Seminar für Völkerkunde der Universität Hamburg, Hamburg 1976, S. 3f.
  • 10 a b c d e f g Aus dem Archiv des Kreuzbergmuseums.
  • 11 a b Ausstellungspublikation „Mehmet Berlin’de. Mehmet kam aus Anatolien“ des Kunstamts Kreuzbergs, Berlin 1975, S. 83.
  • 12Ausstellungspublikation „Mehmet Berlin’de. Mehmet kam aus Anatolien“ des Kunstamts Kreuzbergs, Berlin 1975, S. 4.
  • 13Jürgen Moser: „Zuzugssperre“. Im Ausstellungskatalog „Hanefi Yeter – ein türkischer Maler in Berlin“ des Künstlerhauses Bethanien, Berlin 1980, S. 67.
  • 14Gülsah Stapel: „Identität und Erbe: Der Mariannenplatz – ein Erinnerungsort türkischer Berliner“. In: Otto-Friedrich-Universität Bamberg, Institut für Archäologische Wissenschaften, Denkmalwissenschaften und Kunstgeschichte (Hg.): Das Erbe der Anderen: Denkmalpflegerisches Handeln im Zeichen der Globalisierung, Bamberg 2015, S. 69 - 76. Hier S. 75.
  • 15Mustafa Demir und Ergün Sönmez: „Als Arbeiter zu ‚Gast‘ in Deutschland – Der lange Weg der Migranten aus der Türkei: Ihre Kämpfe und Organisationen für Integration und Gleichberechtigung,“ Berlin 2015, S. 125.
  • 16Mustafa Demir und Ergün Sönmez: „Als Arbeiter zu ‚Gast‘ in Deutschland – Der lange Weg der Migranten aus der Türkei: Ihre Kämpfe und Organisationen für Integration und Gleichberechtigung,“ Berlin 2015, S. 144.
  • 17Ausstellungspublikation „Mehmet Berlin’de. Mehmet kam aus Anatolien“, S. 6.
  • 18Demir/Sönmez: „Als Arbeiter zu ‚Gast’ in Deutschland“, S. 144.
  • 19Publikation zum Konzert in der Philharmonie am 12. April 1976 „Die betrübte Freiheit/Bir hazin hürriyet“ des Kunstamts Kreuzberg und des Türkischen Akademiker- und Künstlervereins, Berlin 1976, S. 31.
  • 20Demir/Sönmez: „Als Arbeiter zu ‚Gast’ in Deutschland“, S. 148.
  • 21Vgl.: „Vor 50 Jahren: ‚Radikalenerlass‘“ (26.01.2022). In: https://www.bpb.de/kurz-knapp/hintergrund-aktuell/346271/vor-50-jahren-…