Ein Gespräch über Diversitätsentwicklung am Stadtmuseum Berlin mit Miriam Camara, Dr. Claudia Gemmeke, Ulrike Kloß, Nurêy Özer und Toan Nguyen

 

Toan Nguyen: Wenn Sie zurückblicken auf die letzten anderthalb Jahre, mit welchen Erwartungen und Wünschen sind Sie gestartet?

 

Claudia Gemmeke: Erwartungen und Wünsche hatten wir nicht nur am Anfang, sondern haben wir immer noch. Also wir wünschen uns, dass in unserem Haus eine offene Arbeits- und Kommunikationskultur gelebt wird, dass wir einen wertschätzenden und diskriminierungssensiblen Umgang miteinander haben, dass das ganze Haus einen neuen Spirit bekommt, aus dem heraus es seine Programme und seine Veranstaltungen ausrichtet, seine Orte bespielt und seine Gäste willkommen heißt.

 

Ulrike Kloß: Ich schließe mich an und würde noch hinzufügen, dass wir uns länger mit dem Gedanken getragen haben, diesen Schritt der Diversitätsentwicklung zu gehen. Die Zeichen waren 2017 sehr positiv für diesen Prozess, weil wir zum einen mit einem neuen und progressiven Direktor – der sehr großes Interesse hatte, einen organisationsumfassenden Change anzuregen – die Chance gesehen haben, hier wirksam werden zu können. Und zum anderen war klar, dass wir als Organisation wachsen werden, sowohl was unsere Standorte als auch unsere Personalstruktur angeht.

 

Miriam Camara: Aus Sicht der Organisationsentwicklung und -beratung waren meine Wünsche und Erwartungen weniger ergebnisorientiert, weil es in solchen Prozessen nie vorherzusagen ist, wann wie was in welcher Form umgesetzt wird. Das heißt, meine Erwartungen und Wünsche haben sich eher auf ein gutes Arbeiten in der Institution gerichtet, dass der Prozess von der Leitung getragen wird und wir intern ein Team vorfinden, das mit uns gemeinsam diesen Prozess begleitet.

 

Nurêy Özer: Ich stimme dem völlig zu. Mein Wunsch ist es, in Berlin Orte zu erleben, die die gesamte Stadtgesellschaft darstellen, mitdenken und auch Raum dafür geben, Raum für unterschiedliche Stimmen. Das ist ein Wunsch, der für mich nicht nur als Organisationsentwicklerin, sondern auch als Akteurin dieser Stadtgesellschaft sehr präsent ist. Und dieser Wunsch hat sich auch mit den Erwartungen der Belegschaft des Stadtmuseums in vielen Aussagen gedeckt.

 

Toan Nguyen: Was haben Sie für inhaltliche Schwerpunkte gesetzt? In welchen Bereichen sind Veränderungsprozesse angegangen worden oder werden angegangen?

 

Claudia Gemmeke: Es geht darum, dieses Stadtmuseum als ein Haus für die offene Gesellschaft des 21. Jahrhunderts fit zu machen. Fit zu machen insofern, als wir unsere musealen Aufgaben – die Betreuung der Sammlungen und deren Vermittlung – als eine starke Aufgabe beibehalten, aber darüber hinaus uns viel stärker in die Stadtgesellschaft öffnen. Wir wollen, dass das Museum mit seiner Relevanz für die Gesellschaft sichtbarer ist und stärker zum Diskussionsraum wird. Diversitätsentwicklung ist dabei ein wichtiger Punkt.

 

Ulrike Kloß: Als Stadtmuseum Berlin haben wir die Aufgabe, uns mit der Geschichte und der Kultur dieser Stadt zu beschäftigen. Damit haben wir eine tolle Voraussetzung, weil wir bei aller Unterschiedlichkeit die Stadt als gemeinsamen Nenner in ganz vielen Aspekten von Lebensrealitäten benennen können. Ein großer Schwerpunkt ist auch unsere Personalentwicklung. Wir eröffnen nächstes Jahr die Berlin Ausstellung im Humboldt Forum. Allein mit der Eröffnung dieses neuen Standortes stellen wir ca. 30 neue Mitarbeitende ein.

 

Toan Nguyen: Welche Ziele haben Sie bislang schon erreichen können, die für Sie einen ersten Meilenstein darstellen?

 

Ulrike Kloß: Ich würde sagen, dass wir es geschafft haben, in allen Bereichen das Bewusstsein für die Diversitätsentwicklung zu schärfen. Wir scannen mit der Diversitätsbrille Prozesse und Projekte und geben Empfehlungen, damit verschiedene Kriterien und Aspekte von Diversität mitgedacht werden. Im Bereich Personal arbeiten wir beispielsweise an Standardisierungen. So gibt es bestimmte Passagen, die schon jetzt in Ausschreibungen stehen und berücksichtigt werden. Im Besucherservice sind Menschen angestellt worden, die eine diverse Stadtgesellschaft viel stärker repräsentieren als vor dem Prozessbeginn. Das wird auch von sehr vielen Menschen, die unsere Häuser besuchen, positiv wahrgenommen. Ein weiteres erreichtes Ziel ist, dass wir 2019 unser Kernteam um eine weitere Person ergänzen konnten. Es gibt jetzt eine Kollegin, Idil Efe, deren Stelle durch das 360°-Programm der Kulturstiftung des Bundes finanziert ist. Darüber freuen wir uns sehr und sind nun dabei, den Prozess der Diversitätsentwicklung weiter voranzutreiben.

 

Miriam Camara: Ein Ziel, das auch erreicht wurde, ist, dass es interne Strukturen gibt, die diesen Prozess stabilisieren. Neben den beiden internen Diversitätsentwicklerinnen, Claudia Gemmeke und Ulrike Kloß, gibt es eine Steuerungsgruppe und Paul Spies, der als Gesprächspartner zur Verfügung steht. Gleichzeitig ist zum Beispiel eine erste Bestandsaufnahme, also der Blick in die Institution und das Analysieren dieser Institution sowie das Aufzeigen der Stellschrauben, auch ein Ziel gewesen, das wir bereits erreicht haben. Daraus entstand ein Zwischenbericht, der ein wichtiges Instrument ist, um den Prozess transparent weiterführen und kommunizieren zu können. Denn wir arbeiten nicht mit allen der derzeit über 250 Mitarbeitenden gleich intensiv zusammen. Ein weiterer Meilenstein ist die Tatsache, dass Diversitätsentwicklung als Querschnittsthema anerkannt ist – und das bedeutet, dass klar ist, dass das Thema Diversitätsentwicklung zentraler Bestandteil dieses Hauses ist. Wir haben erreicht, dass Menschen sich diesem Prozess verpflichtet fühlen und ihn als ihren eigenen Prozess verstehen.

 

Toan Nguyen: Können Sie Beispiele nennen von konkreten Situationen, an denen Sie merken, dass dieser Organisationsentwicklungsprozess am Laufen ist?

 

Ulrike Kloß: Mit Idil Efe gibt es nun eine Mitarbeiterin, die anfangen kann, in einem bereits bestehenden Team und Prozess konkrete Ziele und Maßnahmen umzusetzen. Wenn wir Glück haben, können wir 2020 eine weitere Diversitätsmanagement-Stelle ausschreiben, so dass das Team nochmals verstärkt wird. Wir sind als Stadtmuseum an dem landesweiten, übergreifenden Projekt „Decolonize“ beteiligt, in dem wir mit verschiedenen zivilgesellschaftlichen Akteur*innen zusammenarbeiten; auch dafür wird es Stellen geben. Wir haben eine der größten Sammlungen eines Stadtmuseums in Europa und wollen uns neu aufstellen, um koloniale Spuren und institutionelle Selbstverständlichkeiten, die sich über Jahrzehnte eingeschlichen haben, zu untersuchen und aufzubrechen.

 

Miriam Camara: Das Stadtmuseum hat Strukturen geschaffen, die es einer 360°-Stelle ermöglichen werden, tatsächlich zu arbeiten, produktiv zu werden und nicht erst mal den Boden umzugraben, um dann zu schauen, ob da fruchtbare Erde ist. Die Diskurse sind hier schon selbstverständlich im Haus platziert. Natürlich gibt es Widerstände und Widersprüche, aber das ist auch Teil des Prozesses.

 

Claudia Gemmeke: Ein Beispiel ist die Arbeit der Steuerungsgruppe, die sich engagiert, das Thema „Diversität“ in die Institution zu tragen und dort konkret umzusetzen, die sich Themen gesetzt hat, wie zum Beispiel die Formulierung einer Positionierung des Stadtmuseums gegen extreme rechte Angriffe. Eine ganz wichtige Fragestellung in der Steuerungsgruppe war, wie gehen wir damit um. Zu diesem Thema ist eine Arbeitsgruppe gegründet worden, die Handlungsempfehlungen erarbeitet.

 

Ulrike Kloß: Ich würde gerne noch eine Sache ergänzen. Dass ein Veränderungsprozess im Stadtmuseum angestoßen ist, merke ich auch daran, dass es sehr viele Gespräche und Auseinandersetzungen rund um das Thema und auch Irritationen gibt. Wir sprechen mit diesem strukturellen Prozess Dinge sehr konkret an und formulieren auch Veränderungsnotwendigkeit. Wir benennen bestimmte Aspekte, die für unterschiedliche Menschen auf unterschiedliche Art und Weise bequem oder unbequem sind, wir sprechen offen Diskriminierung, Rassismus, Sexismus sowie Leerstellen und die Notwendigkeit zur Veränderung an. Ich glaube, die aktuelle Aufstellung unserer Institution repräsentiert auch einen Querschnitt durch die Gesellschaft, nämlich was verschiedene Sichten auf Welt und Gesellschaft und Leben in einer Stadt wie Berlin angeht. Das Benennen von Diskriminierung bringt Menschen auch in dieser Organisation gelegentlich in Unruhe. Spätestens an dieser Stelle, wo wir versuchen alle mitzunehmen, ruckelt es manchmal. Das gehört dazu. Wir bewegen uns, das finde ich super.

 

Toan Nguyen: Was können Sie Kultureinrichtungen, die sich jetzt auf den Weg machen wollen, empfehlen? Auf welche Herausforderungen müssen sie sich einstellen?

 

Claudia Gemmeke: Eine Hilfestellung oder sogar Notwendigkeit ist es, dass man die Verantwortung für diesen Prozess in viele Hände legt, das heißt, dass man nicht nur mit einer Person, mit der Leitung oder dem Leitungsgremium versucht das durchzuziehen, sondern einen Prozess gestaltet, der von unten sichtbar ist und alle mitnimmt. Daher ist es sinnvoll, in der Organisation Persönlichkeiten zu finden, die an diesem Prozess Interesse haben, die gerne auch Verantwortung dafür übernehmen, die sich als Botschafter*innen eines solchen Prozesses berufen fühlen oder sich gern dafür engagieren. Wir haben das in Form unserer Steuerungsgruppe, da sind Kolleginnen und Kollegen aus ganz unterschiedlichen Fachteams drin. In der Gruppe können sie einen Halt finden und haben eine Arbeits- und Gesprächsebene, die vertraulich ist.

 

Ulrike Kloß: Es hilft, einen langen Atem zu haben. Wichtig ist auch, sich verschiedene Formen von Schulung, Weiterbildung und Unterstützung, Beratung und Coaching zu holen. Also nicht selbstverständlich davon auszugehen, das alles selbst zu können.

 

Nurêy Özer: Die Bereitschaft zu verstehen, dass all die Veränderungen aus einer Menschenrechtsperspektive schon längst etabliert sein sollten. Wie können wir aus einer beruflichen und einer politischen Verantwortung heraus Räume schaffen, in die alle Menschen einfach hineingehen und in denen sie nicht nur verschiedene Geschichten vorfinden, sondern auch die eigene? Ich möchte alle Kulturschaffenden ermutigen, über das, was sie persönlich tangiert, hinauszugehen und das, was sie nicht begreifen, wahrzunehmen. Diese kulturellen Räume sollten für alle begehbar sein. Hier im Stadtmuseum haben wir unglaubliches Engagement, Bereitschaft und auch den Wunsch nach Veränderung erlebt. Genauso wie auch Menschen, die sich fragen: Was soll das Ganze? Was hat das mit mir und meiner Arbeit zu tun? Muss ich deswegen alles anders machen oder abgeben? Und all das darf nebeneinanderstehen. Ein unterstützender Faktor ist Entschleunigung: Entschleunigung, sodass alle Akteur*innen und vor allem auch jene, die nicht im System sind, dazu sprechen können.

 

Miriam Camara: Ich möchte noch eine Herausforderung unbedingt nennen, die in der Natur der Sache liegt. Diversitätsorientierung hat nicht zum Ziel, schöne bunte Bilder zu produzieren, sondern unser Ansatz der Diversitätsorientierung beinhaltet Diskriminierungskritik. Es geht um Machtkritik und die Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Strukturen und Ausschlüssen, um den unterschiedlichen Zugang von gesellschaftlichen Gruppen zu Ressourcen, um die Infragestellung von Normen. Die Benennung dieser Normen birgt schon in sich Bewegung, die sich sehr unterschiedlich anfühlen kann. Das heißt es wird in einem System immer Menschen – und das sind vor allen Dingen Menschen, die zu marginalisierten Gruppen gehören – geben, die aufatmen können, weil endlich das Thema Diversitätsorientierung Bestandteil der Organisation ist. Es wird aber auch immer Menschen geben – und vor allen Dingen Menschen, die sich als implizierte Norm verstehen –, die bei diesem Thema aus ihrer Komfortzone gebracht werden. Das ist nicht immer angenehm. Es verunsichert, es irritiert. Und ich möchte das als eine ganz zentrale Herausforderung dieses Prozesses beschreiben. Denn hier geht es nicht nur darum, Geschäftsprozessoptimierung zu betreiben, sondern hier geht es um globale Ungleichverhältnisse, die sich in Europa und in Deutschland und natürlich auch in den Institutionen manifestieren. Und das Benennen von Ungleichverhältnissen verursacht Schmerz und Unwohlsein. Insofern führt die Auseinandersetzung mit Diversitätsorientierung, Diskriminierungs- und Machtkritik dazu, dass das Gefüge in einer Organisation erst mal durcheinandergebracht werden kann. Und ich sage das nicht, um abzuschrecken, sondern ich möchte uns alle dazu ermutigen, dass wir diesen Schritt gehen und nicht überlegen, wie wir dann doch wieder da rauskommen. Denn tatsächlich gibt es keine Alternative. Die Auseinandersetzung (mit) und die Implementierung von Diversitätsorientierung in Institutionen – das gilt für Kulturinstitutionen wie auch für Verwaltungen und Profit-Organisationen – ist Teil einer Professionalisierung, die stattfinden muss. Die Frage ist also nicht, ob wir Diversitätsorientierung machen, sondern die Frage ist: Wie, wann und mit wem?