Symbole für kulturelles Kapital: Büchersammlung, Plattenspieler, Diplome, in der Mitte eine Person im Talar auf einer Reiterstatue

Vortrag zum Nachlesen

Über Klasse, Klassismus und Ausschlussmechanismen, aber auch Demokratisierung im Kunst- und Kulturfeld, wurde in den letzten Jahren zunehmend debattiert. Kulturschaffende aus deprivilegierten, sozioökonomischen Schichten erzählen, wie Habitus, Sozialisierung, Bildung und ökonomischer Druck sowie fehlende Netzwerke und Unterstützung aus dem familiären Umfeld den Weg zur Anerkennung erschweren.

Nun, wer sind die Deklassierten und Deplatzierten in der postmigrantischen Gesellschaft im deutschsprachigen Raum? Wer sind diejenigen, die im Kunst- und Kulturfeld Klassismus erfahren? Wer sind diejenigen, die Kämpfe für Verschiebungen dieser Verhältnisse - womöglich auf kollektive Art - führen, um gegen Ausschlüsse vorzugehen und für alle geltende Zugänge zu erreichen?

Wenn wir uns auf die Geschichte eines postnazistischen Österreichs beziehen, wissen wir, dass die Mehrheit der Österreicher*innen durch die Arbeitsmigration der 60er und 70er Jahre einen sozialen und beruflichen Aufstieg erfahren haben. Ähnlich auch in der Bundesrepublik Deutschland. Mehrere Generationen von Arbeitsmigrant*innen, Exilmigrant*innen und Geflüchteten stellen bis heute einen Großteil der Arbeiter*innenschaft dar und sind weiterhin sozioökonomisch benachteiligt. Für sie bleibt der Zugang zu etablierten Kunst- und Kulturbetrieben sowie Kunstuniversitäten weiterhin enorm erschwert.

Es ist längst selbstverständlich, über Kunst- und Kulturarbeit in der postmigrantischen Gesellschaft zu sprechen. Nicht selbstverständlich ist jedoch der Abbau von Barrieren oder eine Umverteilung von Ressourcen für migrantisierte, sozioökonomisch benachteiligte Künstler*innen oder Bewerber*innen und Studierende an den Kunstuniversitäten.

Ich möchte zur Erinnerung einen kleinen historischen Exkurs machen, woher gewisse Debatten und Diskurse kommen und um abzurufen, woher gewisse zivilgesellschaftliche Bewegungen im Kulturfeld kommen und wie sie interveniert haben.

In einer Zeit der neuen Konstituierung Europas, ab Mitte der 90er Jahre, in der Migrationsbewegungen, aber auch das Aufkommen rechtspopulistischer Parteien zunahmen, entstanden in Österreich, aber auch in Deutschland, mehrere politische Selbstorganisationen von Migrant*innen beziehungsweise nahmen enorm zu. Diese Organisationen stellten zunehmend Forderungen nach gesellschaftlicher Partizipation, politischer Mitbestimmung, gleichen Rechten sowie einem gleichberechtigten Zugang zu Bildung, Kultur, Medien usw.

Beim Begriff „Migrant*innen“ beziehe ich mich auf die Definition, die um die 2000er Jahre von der feministischen Migrant*innenorganisationen FeMigra in Frankfurt und maiz in Linz formuliert wurde. Diese lautet:

Migrant*innen steht als ein Gegenentwurf, als die Bezeichnung eines oppositionellen Standorts, der sich als eine Bestimmung der eigenen politischen Identität konstituiert. Die Konstruktion einer Migrant*innenidentität sehen wir als eine Strategie im Kampf um die Realisierung gleichberechtigter Partizipation im europäischen Territorium und als Strategie für die Veränderung beziehungsweise den Abbau von Strukturen des Ausschlusses.

Da viele öffentliche Diskurse über Migrant*innen auf der Kulturebene geführt werden, intervenieren Aktivist*innen aus migrantischen Selbstorganisationen und fordern vom Kunst- und Kulturfeld: Künstler*innen sollen als Verbündete auftreten und in Allianzen für gesamtgesellschaftliche Veränderungen agieren. Tania Araujo vom Verein maiz schreibt im Onlinemagazin „Feminismus und Krawall“ in ihrem Text „Allianzen zwischen umkämpften Territorien und erkämpften Solidaritäten“:

Das Feld der Kunst- und Kulturarbeit ist eine Arena der Bedeutungskämpfe. Nicht nur strukturelle Barrieren produzieren Ausschluss, sondern insbesondere auch Diskurse und soziale Distributions- sowie Distinktionsmechanismen innerhalb der hegemonialen kulturellen Theorie/Praxis, die sich in rassistischen Kategorisierungen und Ausschlüssen ausdrückt.

Es folgen mehrere Interventionen in Kunstinstitutionen, Festivals, vor allem in der freien Kulturszene in Österreich, begleitet vom zentralen Ansatz für antirassistische Kulturarbeit. Organisierte Migrant*innen fordern einen politischen und stellen sich gegen einen moralischen Antirassismus. Die Frage nach einer Allianzbildung wird dabei besonders bearbeitet. Im Jahr 2013 beispielsweise formulieren die Autor*innen Ljubomir Bratić und Daniela Koweindl im Rahmen einer der ersten Interventionen gegenüber größeren Kulturfestivals in Wien in der Publikation „Allianzen bilden zwischen Kunst und Antirassismus“ diesbezüglich Folgendes:

Politischer Antirassismus charakterisiert sich vor allem durch eine Abkehr von der den Migrant*innen zugeschriebenen Opferrolle. Die Diskriminierung im Auge behaltend, konzentriert sich politischer Antirassismus auf die Betonung der Rolle der Akteur*innen. Die Überlegung zu dieser Rolle soll zu Ergebnissen führen, die sich weder in Viktimisierung noch Individualisierung verlieren, sondern sie als ein konkretes Instrument begreifen. Diese sind u. a. Selbstempowerment, Normalität begreifen, Theorieproduktion und Allianzenbildung.

Studierende an Kunsthochschulen stammen aus der bürgerlichen Mittelschicht

All diese Diskurse und Praktiken wurden in dieser Zeit auch an die Kunstunis herangetragen. Es wurden Fragen gestellt: Wer studiert an der Kunstakademie? Wer wird zugelassen? Was bedeutet soziale Gerechtigkeit an einer Kunstuniversität? Also Suggestivfragen an eine öffentliche Kunstuniversität ohne oder mit nur geringen Studiengebühren, ohne Matura oder höhere formale Bildung als Voraussetzung für das Studium der Bildenden Kunst, in der Chancengleichheit und der Zugang zum Studium für alle Bevölkerungsgruppen großgeschrieben wird.

Im Jahr 2009 wurde daraus eine Studie zur sozialen Lage und den sozialen Barrieren beim Zugang zu Kunststudien von Barbara Rothmüller. Dies war das erste Mal, dass eine solche Studie in diesem Feld durchgeführt wurde. Ausgangspunkt an der Akademie war eine Betriebsvereinbarung zu Antidiskriminierung, die von antirassistischen Kollektiven und NGOs entwickelt worden ist. Die Erkenntnisse aus der Studie waren nicht überraschend: Die meisten Studierenden an der Kunstakademie stammen aus der bürgerlichen Mittelschicht, haben einen höheren Bildungshintergrund und verfügen über höhere finanzielle Ressourcen. Sie stammen häufig aus Akademiker*innen- oder Künstler*innenfamilien, haben bereits Studienabschlüsse, Netzwerkzugang im Kunst- und Kulturbereich usw.Die seitdem damit verbundenen Debatten führten dazu, dass Institutionen gemäß ministeriellen Vorgaben jährliche Erhebungen durchführen, in denen Informationen über den sozioökonomischen Status, das Durchschnittsalter, den Bildungsgrad, die Nationalität, den Bildungsstand und das Einkommen der Eltern aller Bewerber*innen in Antragsformularen erfasst werden. Bis heute zeigen sich ähnliche Ergebnisse der Studierendengruppen. Hier eine kleine Anekdote aus einem informellen Gespräch mit einer queeren Studierenden der sogenannten dritten Generation:

Ich habe mich lange nicht getraut, mich zu bewerben, aber mit 27 Jahren habe ich einiges durchgemacht und Freunde aus der queeren Szene haben mich ermutigt, es zu versuchen. Und dann kamen diese Fragen im Bewerbungsformular zum Bildungsgrad und Einkommen meiner Eltern. Das fand ich eine Frechheit. Beim Ausfüllen habe ich gelogen und ein höheres Einkommen angegeben.

So viel zu Daten in Statistiken.

 

Kämpfe, Diskurse und Ambivalenzen an den Kunstuniversitäten

Durch engagierte Lehrende, Studierende oder beauftragte Arbeitsgruppen wird weiter an Maßnahmen gearbeitet, um die Anzahl von Bewerber*innen aus niedrigen sozioökonomischen Schichten zu erhöhen - durch Drittmittel finanziert, zum Beispiel in Projekten wie „Akademie geht in die Schule“ der Kunstakademie in Wien oder Kurse für Refugees. So wird auf die Bekanntmachung von Kunststudien sowie eine potenzielle Rekrutierung diverserer Kunststudienbewerber*innen abgezielt. Die Entscheidungsmacht über die Zulassung bleibt jedoch unangetastet. Unklare, wenig nachvollziehbare Kriterien für diese beziehungsweise für die Eignung oder Anforderungen an die künstlerischen Mappen genauso. Die Professor*innen entscheiden aufgrund ihres intuitiven Wissens, Gespürs oder Geschmacks.

All diese Kämpfe, Diskurse und Ambivalenzen werden an den Kunstunis repräsentativer und aktueller. Kunststudierende thematisieren durch ihre künstlerischen Arbeiten, Diplomabschlüsse oder kollektiven Projekte zunehmend das prekäre, unprivilegierte, migrantisierte und intersektionale Leben. Realpolitische Verschiebungen und Veränderungen in den Kunstinstitutionen treten allerdings nur dann ein, wenn diese auf kollektiver und organisierter Ebene ausgetragen werden.

 

Im Gespräch

In der Anekdote hast du davon erzählt, wie eine studieninteressierte Person falsche Angaben zum Einkommen der Eltern macht. Wo siehst du eine Lösung in diesem Spannungsfeld zwischen dem Bedarf an quantifizierbaren Daten zur Erhebung von Klassismus und gleichzeitig dem Problem, dass die Ergebnisse sich nicht mit den realen Begebenheiten decken - unter anderem, weil Personen Nachteile darin sehen, richtige Angaben über ihren sozio-ökonomischen Hintergrund zu machen?

Ein großer Teil, den ich nicht ansprechen und abwickeln konnte, ist diese Ambivalenz des politischen Begehrens für Diversifizierung, das stark mit einer Top-Down-Perspektive aus europäischen, ministerialen und neoliberalen Direktiven, die zu erfüllen sind, einhergeht. Die Intention ist eigentlich die gleiche wie bei Genderdiversität oder -mainstreaming: Chancengleichheit.

Hier ist die Frage, was heißt es, wenn die Barrieren nicht abgebaut sind und angeblich anonymisiert Datenerhebung betrieben wird, aber nicht verstanden wird, was wichtig ist. Und warum es wichtig ist, besser zu verstehen, gewisse Verhältnisse offenzulegen. Ich würde sagen, weil es neoliberale Managerie und stigmatisiert ist.

 

Oft müssen sich Künstler*innen gezwungenermaßen mit der eigenen Identität und Marginalisierungserfahrung auch in ihrer Kunst auseinandersetzen. Wenn man über Antiklassismus nachdenkt, dann ist die Frage, ob es auch möglich ist, Kunst nicht nur identitätspolitisch zu machen und Antiklassismus direkt in die Kunstkultur zu integrieren. Inwiefern siehst du da eine Entwicklung, dass eine größere Breite an Ausdrucksformen, die nicht unbedingt an die eigenen Erfahrungen geknüpft sein müssen, möglich wird?

Ich muss daran denken, dass der Diskurs über Ungleichberechtigung und Barrieren dazu geführt hat, dass die Künstler*innen, die Klassismus thematisieren, anerkannt und während des Studiums mit Diplomabschlüssen oder Preisen gewürdigt werden. Es gibt vielleicht thematische Ausstellungen, aber das Thema Klassismus als eigenständige künstlerische Praxis findet es keinen Platz. Also entweder verlässt man die Markierung sowie das Darübersprechen und entwickelt andere Strategien oder man bleibt weiterhin strategisch und arbeitet aus dieser sozioökonomischen Identität oder Position heraus.

 

Petja Dimitrova ist Künstlerin und Dozentin an der Akademie der bildenden Künste in Wien. Ihre künstlerische, kuratorische, bildungspolitische und aktivistische Praxis entwickelt sie in Zusammenarbeit mit Künstler*innenkollektiven, Bildungsinitiativen, migrantischen- und diasporischen Selbstorganisationen.