Carolin Huth: „Unsere zentrale Leitlinie ist die Besetzung künstlerischer und nichtkünstlerischer Leitungs- und Expertenpositionen überwiegend mit Menschen mit Behinderungen, da erst durch die Teilhabe an Entscheidungs- und Gestaltungsmacht wirkliche gesellschaftliche Gleichberechtigung geschaffen wird.“ Das ist ein Zitat aus der Selbstbeschreibung von MAKING A DIFFERENCE. Inwiefern haben sich diese Ziele bisher erfüllt?

 

Anna Mülter: Wir gehen sehr konsequent damit um, uns an diese Leitlinie zu halten. Alle Workshops, Labore und Residenzen gehen an Künstler*innen mit Behinderung. Ich persönlich finde sie einen Kernpunkt von MAKING A DIFFERENCE, weil ich das bei anderen Projekten, die mit Kunst und Behinderung arbeiten, so nicht sehe. Der Großteil der Projekte wird von nicht-behinderten Künstler*innen geleitet, weil sie in der Mehrheit und bekannter sind und vor allem keine „access needs“ haben. Allerdings ist diese Leitlinie auch innerhalb des Projektes nicht ganz unumstritten. Wir diskutieren sie immer wieder, weil es auch Partner gibt, die sagen, es soll ausschließlich um die künstlerische Kompetenz gehen. Das kann man aber nicht als einziges Kriterium ansetzen. Die Perspektive von Behinderung ist für mich Teil der künstlerischen Qualität.

 

Anne Rieger: Auch für die behinderten Teilnehmer*innen ist es wichtig, dass die Person, die sie anleitet, ähnliche Erfahrungen und vielleicht einen ähnlichen künstlerischen Ansatz hat oder zumindest als Vorbild fungieren kann. Für die Leitung eines Performance Projekts, das sechs Wochen dauert mit zwei Proben pro Woche, konnten wir in Berlin keine Person mit Behinderung finden, da viele Künstler*innen mit Behinderung vor Ort noch nicht so aufgestellt sind, dass sie das leisten können oder wollen. Es wurde diskutiert: Was machen wir dann? Nehmen wir eine Person ohne Behinderung? Wir haben dann als Kompromiss eine nicht-behinderte Workshopleitung verpflichtet, zwei Künstler*innen mit Behinderung als Mentees zu begleiten, damit talentierte Künstler*innen mit Behinderung in Berlin weiter ausgebildet werden.

 

Carolin Huth: Was hat das dreijährige Modellprojekt MAKING A DIFFERENCE, was habt ihr als Teil dessen bereits erreicht? Was habt ihr euch für die bleibenden anderthalb Jahre vorgenommen?

 

Anna Mülter: Die konkretesten Ergebnisse sehen wir in der Künstlerförderung. Es ist toll, wie einzelne Personen sich innerhalb dieser zwei Jahre weiterentwickelt haben, die wir in Workshops erlebt haben, die eine Residenz bekommen, ein Stück gemacht haben und mittlerweile mit dem Stück touren. Ich habe das Gefühl, dass die Tanzszene mit Behinderung hier in der Stadt sich empowert fühlt. Ich sehe Teilnehmende von MAKING A DIFFERENCE bei anderen Konferenzen zu zeitgenössischem Tanz ohne behinderungsspezifische Themen. Sie kommen dahin, sprechen mit und vertreten ihre Sichtweisen.

 

Anne Rieger: Die Perspektive auf sich selbst als behinderte*r Künstler*in verändert sich ebenfalls. Teilnehmende Künstler*innen durchleben eine Professionalisierung.

 

Anna Mülter: Das ist ein langsamer Prozess, und deswegen ist es gut, dass das Projekt diese Laufzeit von 3,5 Jahren hat. In diesem Jahr wollen wir in Kooperation mit WCMX gezielt eine jüngere Zielgruppe ansprechen. WCMX machen Rollstuhl-Skaten in Skateparks und zu Musik. Das ist sehr virtuos, und vieles sieht schon sehr tänzerisch aus. Da ist die Schnittmenge zum zeitgenössischen Tanz sehr groß, auch wenn von denen niemand von sich aus auf die Idee käme, in einen Tanzworkshop zu gehen.

 

Anne Rieger: Die Tänzer*innen, die wir national oder international kennen, kommen nicht aus der klassischen Tanzausbildung, sondern über den Sport oder Workshops in den Tanz. Man kann nicht zur Abschlussveranstaltung von Tanzausbildungen gehen und sich da die Leute casten, sondern muss dahin gehen, wo sie ihre Nischen gefunden haben.

 

Lisa Scheibner: Was bräuchte es für die Berliner Kulturszene, damit Barrierefreiheit und die Förderung von Künstler*innen mit Behinderung nachhaltiger verankert werden können?

 

Anna Mülter: Das mangelnde Angebot an inklusiven Tanzkursen schränkt extrem ein, wie sich Tänzer*innen mit Behinderung entwickeln können. Die Studios und Veranstaltungsorte sind größtenteils nicht barrierefrei, und deswegen ist die Auswahl, die für nicht-behinderte Tänzer*innen unglaublich breit ist, für Tänzer*innen mit Behinderung sehr schmal.

 

Anne Rieger: Alle in der Tanzszene müssen sich für diesen Strukturwandel kollektiv verantwortlich fühlen. Es geht nicht, dass ein einzelnes Projekt sich an dem Strukturwandel abarbeitet, aber die Strukturen in der Stadt, die nicht-behinderten Künstler*innen zur Verfügung stehen – Tanzangebote, aber auch Beratungsstellen, Förderstrukturen, Auftrittsmöglichkeiten –, Künstler*innen mit Behinderung verschlossen bleiben. Beratungsstellen kommen zum Beispiel oft auf uns zu und fragen: „Wir wurden angesprochen für eine Beratung einer*eines behinderten Künstlerin*Künstlers, können wir das an euch weiterleiten?“ Wir sagen dann: „Nein, ihr müsst euch selbst weiterbilden. Es muss eure Zielsetzung sein, das in euer Angebot aufzunehmen.“

 

Lisa Scheibner: Was wären konkrete Maßnahmen, die ihr für diesen Strukturwandel vorschlagen würdet – unabhängig davon, ob ihr sie selbst durchführen könnt?

 

Anne Rieger: Bevor ein Strukturwandel passiert, muss sich zunächst die Haltung der Akteur*innen in diesem Feld ändern. Das eigene Hinterfragen muss stärker werden. Die wirkliche Qualität, die Methodiken und Techniken, die von Künstler*innen mit Behinderung erarbeitet werden, werden noch nicht ernst genug genommen oder als Chance verstanden. Der Haltungswechsel beinhaltet auch, nicht mehr nur darüber nachzudenken, die Rampe zu installieren, sondern auch zu sehen: Was verbergen sich da für künstlerische Praxen, die uns als nicht-behinderten Menschen verborgen bleiben.

 

Carolin Huth: MAKING A DIFFERENCE hat auch bei euch im Haus viel angestoßen. Wo konntet ihr an den Sophiensælen die Zusammenarbeit mit behinderten Künstler*innen standardisieren, wo musstet ihr flexibel bleiben für individuelle Bedürfnisse? Was hat sich in eurer Praxis verändert?

 

Anna Mülter: Ich würde nicht sagen, dass das Projekt an den Sophiensælen viel angestoßen hat, sondern für mich hängen diese Veränderungen zusammen. In dem Zeitraum, in dem ich angefangen habe, MAKING A DIFFERENCE zu initiieren, habe ich gleichzeitig an den Sophiensælen auf der kuratorischen Ebene ein Projekt etabliert, das uns erlaubt, kontinuierlich Künstler*innen mit Behinderung zu zeigen. Außerdem haben wir angefangen, barrierefreie Angebote für das Publikum zu entwickeln, die aus drei Elementen bestehen: Early Boarding, Audiodeskription und Relaxed Performance. Early Boarding bieten wir konsequent bei jeder Vorstellung an. Es erlaubt Menschen mit körperlichen Einschränkungen vor Veranstaltungsbeginn in Ruhe ihren Platz im Saal einzunehmen. Das heißt, da kann eine für die Person ideale Sitzposition gefunden werden, sei es für jemanden mit chronischen Schmerzen ein Sitzsack oder für jemanden mit Tunnelblick ein Platz ganz hinten etc. Audiodeskription richtet sich an ein blindes und sehbehindertes Publikum. Da werden Tanzperformances gleichzeitig live beschrieben, sodass sie endlich auch für blinde Menschen zugänglich sind. Bei Relaxed Performances werden Performances in einem sensorisch entspannten Setting angeboten. Die Konventionen des Theaters, dass man still sein und stillsitzen muss, werden dabei außer Kraft gesetzt. Das ganze Publikum wird darüber informiert, sodass eine Person, die beispielsweise Tics hat, nicht von anderen Personen aus dem Publikum sanktioniert wird.

 

Anne Rieger: Das Ziel von inklusivem Arbeiten oder von einer Institution, sich zu öffnen, ist gerade die Standardisierung abzuschaffen und die Flexibilität zu erhöhen. Wir sprechen jede Künstler*innen-Gruppe individuell an und fragen sie individuell nach ihren Bedürfnissen, statt sie mit einem standardisierten Vorgang zu konfrontieren. Das ist, glaube ich, das Wichtigste an einem Haus, sich flexibel aufzustellen, gerade weil die Produktionsabläufe oder die Abläufe in der Technik sehr standardisiert sind. Konkret bedeutet das, Zeit als Faktor stärker ernst zu nehmen. Wir achten darauf, rechtzeitig und ohne Zeitdruck zu arbeiten, über Kommunikationsund Reisebedarf zu sprechen und so weiter. Dabei ist es wichtig, etwas nicht im Vorhinein anzunehmen, sondern es immer individuell abzuklären. Die Standardisierung und ein „So ist das für alle richtig“ sollten immer kritisch hinterfragt werden.

 

Lisa Scheibner: Was würdet ihr anderen Institutionen raten, die gerne inklusiver und barriereärmer werden wollen?

 

Anna Mülter: Ich würde auf jeden Fall empfehlen, mit einer Expert*in mit Behinderung eine Begehung durchzuführen: Wo sind Defizite? Was könnten konkrete Maßnahmen sein, die angegangen werden? Da gibt es natürlich sehr teure Maßnahmen, wie zum Beispiel den Einbau eines Lifts, aber es gibt auch Sachen, die man umsetzen kann, die wenig oder gar nichts kosten. Natürlich kann man nicht alles auf einmal angehen, aber man kann sich Prioritäten setzen, und wenn man sich vornimmt, mit einem*einer bestimmten Künstler*in zu arbeiten: Kein*e Künstler*in hat alle Bedürfnisse gleichzeitig.

 

Anne Rieger: Es gibt ja auch unheimlich viel Wissen in der Szene. Deswegen ist es wichtig, sich zu vernetzen. Es gehört zur eigenen Verantwortung, sich vorab zu informieren und zu sensibilisieren und das Haus auf Barrieren zu untersuchen: Was können wir zeitlich und finanziell leisten? Vieles, was Barrierefreiheit angeht, muss erst mal nichts kosten, sondern betrifft die Transparenz von Informationen, also zum Beispiel die Warnung vor Stroboskoplicht oder Rauch. Das Gleiche gilt für die Frage, ob es eine Treppe gibt oder einen Lift, wie weit die Parkplätze vom Haus entfernt sind und Ähnliches. Es gibt einfach Sachen, die man transparent machen kann, die Menschen bei der Vorbereitung ihres Besuches helfen können.

 

Lisa Scheibner: Kommen wir noch zu einem anderen Thema: Stichwort „Disability Arts“. Inwiefern hat das Mainstreaming eine Rolle gespielt, also das Bestreben in der Berliner Tanzszene eine selbstverständliche Sichtbarkeit für Künstler*innen mit Behinderung zu schaffen? Und inwiefern habt ihr mit einer eigenen Ästhetik, also mit Disability Arts, geworben?

 

Anna Mülter: Ich glaube, es geht eher um die Differenzierung zwischen Programmen oder Angeboten, die spezifisch mit Behinderung arbeiten wie das NO LIMITS Festival, oder die Integration von Künstler*innen mit Behinderung in das normale Spielzeitprogramm. Das ist für mich als Kuratorin ein ganz wichtiger Faktor: die Arbeit mit Künstler*innen mit Behinderung nicht besonders markiert in den Spielplan einzubinden. Gleichzeitig sehe ich auch die Notwendigkeit, ein Festival wie NO LIMITS zu haben, das sich geballt mit den verschiedenen Ästhetiken, die sich aus der gelebten Alltagserfahrung von Behinderung ergeben, auseinandersetzt. Und dass auch Künstler*innen die Möglichkeit erhalten, sich gegenseitig wahrzunehmen und auszutauschen, was für eine Szene, die wesentlich weniger mobil ist als die nicht-behinderte, sehr wichtig ist. Mit MAKING A DIFFERENCE nehmen wir eher eine aktivistische Rolle in diesem Spektrum ein. Da ist es ganz klar, hier geht es um Behinderung. Ich glaube, dass wir mit dem Erforschen, was Ästhetiken der Differenz sein können, was die spezifische Perspektive von Behinderung in die künstlerische Praxis reinbringt, erst am Anfang sind. Da sehe ich zum Beispiel auch ein großes Defizit bei der Tanzkritik, mit diesen Stücken überhaupt umgehen zu können und sie in ihrer Nuanciertheit wahrzunehmen. Das beginnt beispielsweise dabei, wie über Tänzer*innen mit Behinderung geschrieben wird. Es gibt Kritiken, die gegen den Willen der Künstler*innen Diagnosen veröffentlichen, die versuchen, den Begriff von Behinderung zu umgehen, oder etwa den Begriff „krank“ statt „behindert“ verwenden. Aber das Problem liegt eigentlich noch tiefer: Was eine Disability-Ästhetik sein kann, wird häufig nicht verstanden. Zum Beispiel habe ich eine Kritik von einem Stück gelesen, das sehr bewusst mit Crip Time umgeht, das heißt mit einer Zeitlichkeit, die von der normativen Zeit abweicht. Bei diesem Stück wurde dann kritisiert, dass das Tempo fehlt. Dabei war das eine künstlerische und politische Entscheidung, dieses Stück in dieser Crip Time zu machen, in der die Person auch ihren Alltag lebt.

 

Anne Rieger: An diesem Beispiel zeigt sich genau dieser Blick auf die künstlerische Qualität: Wenn bei Robert Wilson alles in Slow Motion passiert, ist das eine postdramatische dramaturgische Entscheidung und die Erfahrung von Zeit künstlerisch wertvoll. Bei einer behinderten Künstlerin heißt es hingegen gleich: „Das hat sie noch nicht so gut hingekriegt.“ Die kritische Hinterfragung des eigenen Blicks passiert nicht.